Drei Jahre nach meiner Autobiographie, »Memoiren eines Inländers 1923-1993«, 1 kann der nachfolgende Bericht weder deren semiotisches Umfeld, noch die erinnerten Auseinandersetzungen wiederholen, ohne zu langweilen. Wer sich dafür interessiert, möge in dem durch ein Namenregister erschlossenen Buch nachsehen. Ich werde auch nicht die vorwissenschaftlichen Eindrücke aufzuzählen versuchen, die das Kind, den Schüler, den Soldat (1942-45) ins Fach Publizistik verschlagen haben könnten, noch frühe Zeitschriftenlektüre, Bücher, die Frankfurter Zeitung in der Feldpost, auch nicht die Leiden des unsportlichen, hochaufgeschossenen Pimpfen in der Massenregie politischer Rituale sondieren, die doch an die Wurzel des Leibes gingen.
Daß ich 1967/68 zur Publizistikwissenschaft kam, war Zufall. Zur gleichen Zeit war der damalige Chefredakteur von Radio Bremen von den Fächern Sozialpsychologie und Politologie gefragt. Für die Publizistik entschied der Praxisbezug. Schreiben war mein Beruf. Von den wissenschaftlichen Anfängen an der Universität Heidelberg, 1945-49, muß freilich die Rede sein, denn dort begann das Schlinggewächs von Wissenschaft und Praxis.
Am Ende meines ersten Semesters, 1945/46, diskutierten Sozialwissenschaftler in Heidelberg Demokratisierung und deren Kommunikationsbedingungen. Unter der Last noch gegenwärtiger Nazigreuel waren einerseits die in der Weimarer Republik ungut geregelten Wahlverfahren, zweitens die unvermeidlich großbürokratischen Organisationen in Betracht zu ziehen. Der an die Universität zurückgekehrte Kultursoziologe Alfred Weber und ein Assistent des Psychosomatikers Viktor von Weizsäcker, Alexander Mitscherlich, forderten in ihrer Schrift »Freier Sozialismus. Ein Aktionsprogramm« spontane Handlungsgruppen zur Kontrolle der Bürokratien und warnten vor jederzeit möglicher Emotionalisierung und Urteilslähmung: »Jeder Führerclique, die auf bürokratischer Zusammenfassung großer Massen ruht, stehen heute sämtliche modernen technischen Nachrichtenmittel täglicher, ja stündlicher Massenbeeinflussung zur Verfügung, die, geschickt verwendet, zur Emotionalisierung und Urteilslähmung benutzt werden und die Ausschaltung der Spontaneität und Urteilsbildung der Einzelnen, die in der bürokratischen Großformation schon vorgebildet scheint, vollenden können. Dazu braucht endlich nur noch eine durchgebildete, von der Führerclique ausgeformte, ihre ›Führung‹ unterbauende
und sie bis in jeden Akt des Einzelnen hineintragende bürokratische Zellenorganisation zu treten, und faschistischnazistische Totalisierung als Grundlage des Terrorregiments ist fertig. Es ist für jeden, der politische und praktische Formung der Freiheit und freien Sozialismus will, also klar im Auge zu behalten, daß der durch die modern notwendig bürokratische Großformation und deren eingeborene Tendenzen gewissermaßen vorgebildete Gegner die totalitäre Bürokratie samt einer Führerclique mit möglichem Terrorismus ist, der Gegner, der gewissermaßen stets hinter dem Vorhang steht und jeden Augenblick auf die Bühne treten kann«. 2
Ähnlich in der von Dolf Sternberger redigierten Zeitschrift Die Wandlung , nicht zuletzt in Karl Jaspers‘ Weihevortrag zur Wiedereröffnung der Universität, 3 wo er sein Thema existentieller Kommunikation mit der Schuldfrage verknüpfte. Unsichtbar im Bunde war ein dritter Dialogiker, Martin Buber, der überlebt hatte und mit dem exkommunizierten Theologen, Joseph Wittig, und Weizsäcker die Zeitschrift Die Kreatur in den Jahren 1928 bis 1930 im selben Verlag Lambert Schneider herausgegeben hatte, in dem jetzt Die Wandlung erschien.
Von klein auf durch Zeitschriften, insbesondere die des Stuttgarter Graphikers Eberhard Köbel, genannt »Tusk«, fasziniert, 4 war mir das Zusammenspiel von Autoren, Herausgebern und Leserkreisen keine Überraschung. Eine lange Reihe von Arbeiten zur Zeitschriftenpublizistik nahm dort ihren Anfang, bis die Wochenzeitung Die Zeit 1994 meinen »Zeitschriftenreport« zugunsten einer Medien- und Computerseite beendete. Auch für Radio Bremen wurden die monatlichen Hinweise auf das fermentierende Medium im öffentlichen Kompost entbehrlich. 5
Neu war also 1946 nicht ein gewisses Verständnis für die »kleinen Medien«, wohl aber der theoretische Hintergrund der Weberschen Warnung vor den Großformationen Staat und Wirtschaft versus Selbstverwaltung. Franz Oppenheimer hatte 1912 den Staat als Rechtsinstitution mit dem Inhalt der Bewirtschaftung der arbeitenden Mehrheit durch eine Minderheit in Bubers Reihe »Die Gesellschaft« (Bd. 14/15) soziologisch vorgestellt. 6 Er stützte sich dabei auf Jacob Burckhardt und Ludwig Gumplowicz, den der »Heidelberger« Gottfried Salomon dann ab 1926 neu herausgab. 7
In Bubers Reihe war 1906 auch Willy Hellpachs Monographie über »Die geistigen Epidemien« erschienen. 8 Sie trug ihm als glücklosem Gegenkandidaten Hindenburgs bei der Reichstagswahl 1925 den Ruf des Propheten ein, der im eigenen Land nichts gilt, als er uns 1946 Sozial- und Völkerpsychologie beibrachte.
Hellpach war, wie Oppenheimer und Jaspers, ursprünglich Mediziner und ein Schüler von Wilhelm Wundt. Marie Baum, die an der Universität Heidelberg Sozialpolitik unterrichtete, war die erste Fabrikinspektorin des Großherzogtums Baden gewesen. Sie blieb die lebenslange Studienfreundin von Ricarda Huch. Wie Webers Gefährtin, die Grande Dame Else Jaffe, zählte »Mariechen« zur ersten deutschen Studentinnengeneration. Weber erwähnte gelegentlich Radtouren mit seinem Kollegen Thomas Masaryk in Prag, wo ein gewisser Franz Kafka sein Doktorand war.
Für den Studenten P. war die Zeit von 1945 bis 1949 Jahre des schieren Glücks, trotz Hunger, Lungenerkrankungen und offener Kriegswunde: Erste Zeitungs- und Zeitschriftenartikel seit Herbst 1945, kleine Radiobeiträge, Zeitungsvolontariat Frühjahr 1948 bei Ernst Johann in der Rheinpfalz , Neustadt an der Weinstraße.
Im Sommer 1946 übernahm der 1933 davongejagte Balte Hans von Eckardt sein Institut für Zeitungswesen wieder. Er war ein forensisch begabter Weber-Schüler aus der Generation des 1. Weltkrieges mit Theodor Haubach, Carlo Mierendorff, Henry Goverts, Carl Zuckmayer. Die Affäre um den apl. Mathematikprofessor und pazifistischen Publizisten Emil Gumbel (1891) kam uns zum Bewußtsein, als ein anderer dieser Generation, Arnold Bergsträsser, aus USA zurückkehrte, aber in Heidelberg nicht »ankam«. Verpönt waren auch Heidelberger Soziologen aus dem »Tat-Kreis«, die 1933 plötzlich in 55-Uniform sich präsentiert hatten, bis 1945 reüssierten und danach große journalistische Kisten aufmachten. »Nicht gedacht soll seiner werden«, heißt es bei Heine.
»Hanno« Eckardt, der sich von 1933 bis 1945 in der Produkrwerbung über Wasser gehalten hatte, dozierte aus dem Spannungsfeld russischer und deutscher Geistesgeschichte. Er schrieb Dostojewski den publizistisch stärksten Einfluß zu. Er half seinen Studenten, Theater zu spielen und eine »Gesprochene Zeitung« zu veranstalten. Von ihm habe ich gelernt, öffentlich offen zu sprechen, mit Studierenden auf gleicher Ebene zu verkehren und sie nicht zu langweilen. Das sokratische Wort, die Lehre war seine Sache, nicht die Forschung. Das hat ihm in der papierenen Nachwelt zum Nachteil gereicht: Papier ist dauerhafter als Lehrer- und Schülerleben.
Durch Alfred Weber kam ich unvermeidlich auf seine oppositionellen Adepten Georg Lukacs und Karl Mannheim. Dessen Wissenssoziologie nutzte ich zur Analyse zeitgeschichtlichen Materials. 9
Auch der Heidelberger Jurist, der in meine eigenen Arbeiten einging, hatte seine Wertvorstellungen im 19. Jahrhundert gebildet und war Sozialist, der Rechtsphilosoph und Strafrechtsreformer Gustav Radbruch.
Wenn der Staat eine Rechtsinstitution sein sollte, was war dann »Recht«, da doch Rechtssysteme, je nach den herrschenden Machtverhältnissen, ab- und andere aufgebaut wurden?
Wir hatten die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse mit eigenen Augen gesehen und dachten an die Notverordnungen Hindenburgs und das Ermächtigungsgesetz von 1933. Radbruch, Reichsjustizminister und Republikschützer, als der Außenminister Walther Rathenau ermordet wurde, hatte seine Rechtsphilosophie von 1932 in der Zwangspause zwischen 1933 und 1945 revidiert. Es blieb aber dabei, daß die Idee des Rechts keine andere sein könne als die Gerechtigkeit, die den vor dem Gesetz Gleichen ihre Gleichberechtigung verleiht. Der kritische Relativismus »Nathans des Weisen« veranschaulichte das Gemeinte trefflich, weil er die durch den deutschen Völkermord virulent gewordene Frage nach den Religionen in die Debatte zog. Sie wurde im Sinne von Emile Durkheim, Marcel Mauss und Maurice Halbwachs und mit Max Webers Religionssoziologie traktiert. Auch sie ein oder zwei Generationen älter und im 19. Jahrhundert wurzelnd, die zwölfjährige Diktatur ihrer Generationsgenossen überdauernd.
Bei Studienende lag mir der Umriß einer Publizistik vor, die, zwischen den Großformationen des Staates und der Bewirtschaftung lavierend, selber die Gefahr der Bürokratisierung in sich trägt. Sie ist polizeilich und kommerziell in ihrer Unabhängigkeit stets gefährdet. Selbstverantwortliche Publizisten von hoher »Charakterqualität« (Alfred Weber) führen einen täglichen Kampf mit zugeschlagenen Türen. Um der Offenheit willen kann Publizistik keine letztinstanzlichen Antworten geben, selbst wenn sie glaubte, sie zu haben. Wie der Staat sich nicht von der Bindung an die Gesetze befreien darf, weil er dann nicht mehr Recht institutionalisiert, sondern Willkür, so die Publizistik nicht von der ihr auferlegten Funktion, den Meinungsstreit in Spruch und Widerspruch offenzuhalten. 10
Dieses ethische und deshalb stark personalisierte Konzept habe ich dann an der Hochschule für Gestaltung in Ulm 1961 bis 1963 und in zwei Gastsemestern an der Freien Universität Berlin korrigiert. In Ulm lernte ich durch Tomaso Maldonado die Semiotik von Charles Sanders Peirce schätzen, die Max Bense und Elisabeth Walther den angehenden Gestaltern vermittelt hatten. Davon konn-
te 1949 noch nicht die Rede sein: Albert Camus war »mein« Philosoph, nicht Martin Heidegger, nicht Karl Jaspers, nicht Jean-Paul Sartre, nicht Otto Friedrich Bollnow. 11
Den glücklichen und kultursoziologischen Heidelberger Jahren folgte 1949 bis 1952 praktische Arbeit im Propagandaapparat der amerikanischen Militärregierung bzw. Office of the U.S. High Commissioner for Germany (HICOG), wohin ich dank meiner in Heidelberg erworbenen Marxismuskenntnisse von dem »Renegaten« Franz Borkenau engagiert worden war. Ich hatte die Wochenzeitschrift Ost-Probleme zu redigieren, die deutsche »opinion leader« (ein damals neuer Begriff) mit ausgewählten Stücken aus der Presse der Sowjetunion und derjenigen ihrer Satellitenstaaten versorgte. Sie waren nach dem Verbot des Zeitungsaustausches zwischen den Besatzungszonen in Deutschland vom Februar 1948 im Westen nicht mehr zugänglich. Auch wurde das Blatt in die DDR geschmuggelt. Ob es dort einen Effekt gehabt hat, ist mir nicht bekannt geworden. 12
Aus Heidelberger Perspektive gewohnt, den »Kalten Krieg« als soziologische Überlagerung Europas durch die Supermächte (Atommächte) zu Bewirtschaftungszwecken zu betrachten, versuchte ich, möglichst viele Einzelinformationen mit möglichst wenig Pathos zu vermitteln. »Kalter Frieden« statt »Kalter Krieg« usw. Der Spielraum der Redaktion war verhältnismäßig groß, bis die inneramerikanische McCarthy-Kampagne zur Vorbereitung der republikanischen Präsidentschaft Eisenhower/Nixon üble Konsequenzen beim amerikanischen Personal des US Information Service, überwiegend »New Dealer«, zeitigte.
Diese »Kommunisten«verfolgung erlebte ich in USA mit einem privaten postgraduate-Stipendium des Commonwealth Fund hauptsächlich in Stanford, Calif., und in New York (New School for Social Research, Columbia University). Meine deutschen Veröffentlichungen von dort schlossen aus, daß ich zu Ost-Probleme zurückkehrte. 13 Ich gewann aber für meine Theorie den Anschluß an die amerikanische Propagandaforschung (Harold D. Lasswell, Daniel Lerner, Hans Speier, Ithiel de Sola Pool). In der Hoover Library der Stanford University fand ich mir bisher unzugängliches Propagandamaterial der Weimarer Republik, und in Minnesota ent-
deckte ich durch Zufall, daß der Symbolbegriff Ernst Cassirers 14 half, politische Propaganda zu analysieren. Er vertrug sich mit Weizsäckers Gestalt-Anthropologie wie mit Radbruchs kritischem Relativismus.
Das hätte ich bei den gemeinsamen neukantianischen Ursprüngen vor dem 1. Weltkrieg ja auch ohne teure Amerikareise lernen können. Unschätzbar aber waren die weiterführenden Diskussionen mit Hans Kohn, Franz L. Neumann, Hannah Arendt, Waldemar Gurian, Max Rieser, Emil Gumbel und anderen Emigranten. In Kalifornien führte Ernst Kantorowicz den Professorenkampf gegen die neue »politische Theologie«. Lazarsfeld schrieb »The Academic Mind« 15 zur Verteidigung der akademischen Freiheit. Ich ahnte nicht, daß ich 15 Jahre danach mit einer Nachgeburt des McCarthyismus in Berlin konfrontiert sein würde.
Dorthin wollten mich 1954 Otto Suhr und Ernst Fraenkel an ein neues Institut für politische Wissenschaft engagieren, um einen jungen Journalisten dabei zu haben, als die Hochschule für Politik in die Freie Universität (FU) eingegliedert wurde. Vielleicht stammte die Idee auch vom »Altheidelberger« Richard Löwenthal, der uns
1947 mit seiner Schrift, »Jenseits des Kapitalismus«, 16 begeistert hatte, und nach dem Abschied vom Londoner Observer am Russian Research Center der Harvard University arbeitete. Die Ost-Probleme hingen mir an. Zusammenhänge, oder wohl wahrscheinlicher die Auseinandersetzungen mit dem Institut für Publizistik um den Lehrstuhl Emil Dovifats interessierten mich nicht, denn ich wollte in der Praxis bleiben. Außer neuen Redaktionserfahrungen, weil Hörfunk und Fernsehen in der ARD einschließend, 17 verdeutlichten diese 15 Jahre zwischen 1953 und 1968 mein Verständnis von Publizistik als einer bewegenden Kraft im Symbolbereich zwischen Staatsgewalt und Wirtschaftsmacht hauptsächlich an deutschen Beispielen. Die Veröffentlichung des Materials aus der Hoover Library in meiner kommentierten Sammlung »Die Zerstörung der deutschen Politik 1871-1933« 18 wurde als Beitrag zur Zeitgeschichte aufgenommen. Sie kann auch als Kompendium politischer Propaganda gelesen werden und steht im Zusammenhang mit den globalen Tendenzen, die die Artikel »Außenhandelspolitik« 19 und »Pan-Bewegungen« 20 aufzeigen. Ich verstand diese als Zwitter von Religion und Politik mit epidemischen Folgen, indem sie den Seelen Gesetze geben – was bekanntlich Luther schon dem Kirchenrecht nicht zubilligen mochte.
Wollte ich die publizistischen Zusammenhänge klären, mußte ich von einem weitgefaßten Begriff von Kommunikationspolitik ausgehend (Kultur als symbolische Form) prüfen, wer Zugang zu welchen Kommunikationsmitteln hat (Medienpolitik) und welche Mitteilungen er sendet bzw. empfängt (Informationspolitik). Das Schema ist auch umgekehrt brauchbar, weil die Abhängigkeiten des Menschen in den Auseinandersetzungen mit der jeweiligen Umwelt zeitlich variieren. Das unvermeidlich beteiligte Subjekt ist selber ein Medium von Variablen.
Beiträge zur Medienpolitik, insbesondere des Rundfunks, gipfelten 1967 in meinem Band »Moral der Massenmedien. Prolegomena zu einer Theorie der Publizistik.« 21 Sein Hauptteil behandelt die europäische Expansion unter dem Gesichtspunkt Technik und Gewerbe. Er führt die Ökonomie der Signale als Herrschaftsmittel ein: Schneller über weitere Räume mehr Menschen zu erreichen, verursacht Dominanzen über die organische Lebenszeit der Subjekte. Der historische Abriß »Medienforschung« 22 präzisierte dieses Konzept für eine breitere Leserschaft, wie ich überhaupt Publikumsverlage bevorzugte, weil ich des Publikums Probleme thematisierte. 23
Die weitverbreitete Freude an Fachterminologien konnte ich nicht teilen. Sie schätzt oft den Kode höher als die bezeichneten Inhalte. In Bremen hatten sich protestierende Gymnasiasten 1967 auf Straßenbahnschienen gesetzt und die Juristen in die bekannten kabbalistischen Schwierigkeiten gebracht. Publizisten haben täglich mit Buchstaben und Zahlensymbolik zu tun, um weltweit Geheimlehren zu entziffern – warum sollten sie ihr eigenes Nachdenken zu einer Geheimlehre machen? Die Studentenbewegung bot mit ihren aktuellen Protesten außerordentlich interessantes Symbolmaterial verbaler und nichtverbaler Art, besonders in Berlin, wo die Regierung hypochondrisch auf die Scherben und Farbeier im »Schaufenster des Westens« reagierte, kräftig angefeuert von der nationalistischen Springer-Presse. Ich würde also den Ansatz »Politische Symbolik« zu präzisieren haben, wenn ich dem Ruf nach dort folgte. 24
Meine 1967/68 verhandelte Berufung an die Freie Universität Berlin verzögerte sich, weil Studenten eine entscheidende Fakultätssitzung unterbrochen hatten, obschon sie für den Ruf waren. Ich hatte Redaktionsstatute gefordert, um die Redaktionsfreiheit zu stärken.
Bei meiner Ankunft im Herbst 1968 traf ich im Institut für Publizistik auf zwei Amtsvorgänger, die gegenseitige Abneigung verband: Den emeritierten Lehrstuhlinhaber, Emil Dovifat, und den Institutsdirektor, Fritz Eberhard, der in seinem 65. Jahr als Honorarprofessor die Leitung übernommen hatte. Dovifat, katholischer Rheinländer, ursprünglich Gewerkschaftsjournalist, dann ununterbrochen von 1928 bis 1959 Berliner Publizistikprofessor, Gründungsmitglied der Berliner CDU und 1945 sowjetischer Lizenzträger von deren Organ in der sowjetisch-besetzten Zone, der ,Neuen Zeit<. Eberhard, sächsischer Baron, aktiver Sozialist, in der Emigration bei der BBC, nach Rückkehr in Stuttgart (US-Zone) Rundfunkberater, Chef des Deutschen Büros für Friedensfragen, SPD-Mitglied des Parlamentarischen Rates, dann bis zur Abwahl 1959 Intendant des Süddeutschen Rundfunks - die Biographien konnten nicht verschiedener sein.
Beide lehnten meinen schon öffentlich geäußerten Vorschlag ab, das Publizistikstudium als Nebenfach an regional orientierte Hauptfächer zu binden, wie Sinologie, Islamkunde, Orientalistik, Afrikanistik, Osteuropa-, Lateinamerika-, Amerikastudien, auch an
Naturwissenschaften, jedenfalls nicht mit Soziologie, Politik, Theaterwissenschaft, Jura, Nationalökonomie, Psychologie zusammen. Da schien mir der Personalbestand überbesetzt, dort herrschte Nachwuchsmangel. Aber die »Degradierung zum Nebenfach« hätte die Promotionsordnung in Gefahr gebracht und damit den Minoritätsausweis des Doktorhutes. Man hat ihn später erhöht, indem man einen Magister davorsetzte und andere Abschlußnachweise.
Auch die Idee, ein berufsspezifisches Praktikum in einem Betrieb der boomenden Kommunikationsindustrie vor die Fachzulassung zu plazieren, konnte keinen Beifall finden. Meine positiven Erfahrungen mit Studenten des 2. Bildungsweges, mit Studierenden an der vom Kultusminister Adolf Grimme in Wilhelmshaven-Rüstersiel eingerichteten Hochschule für Arbeit, Politik und Wirtschaft 1954, konnten 1968 in Berlin nicht mehr überzeugen. Die Freie Universität war keine Einstiegs-, sondern eine Aufstiegshochschule, nicht den Träumen von 1946, sondern den Maximen des Kalten Krieges von 1948 zu danken. 25 Ob ihre »Freiheit selbst« das Höchste sei, oder Mittel zum antikommunistischen Ziel, war doch
fraglich, nachdem ein Polizist den Zuschauer einer Demonstration gegen den Schah von Persien, den Studenten Benno Ohnesorg, erschossen hatte. Weil sein Blut vergossen war, konnten die Distinguierten nicht mehr damit rechnen, daß seine Kommilitonen ihnen den Vortritt ließen. Die Bewegung hatte ihren »Blutzeugen«; aber keine Vorbilder im politischen Establishment.
Vorlesungen und Seminare waren voll von Spitzeln verschiedener Couleur, wohl auch von Provokateuren. Im Gesumse der Mehrheit kooptierten sich aus einer aktiven Minorität bald Führercliquen. Sie diktierten die Liturgie mit der Litanei von des Kaisers neuen Kleidern und verfolgten ihre eigenen Karrieren. Da war es mit Spontaneität und Solidarität bald vorbei. Nach Exerziervorschrift gebildete »Rote Zellen« besorgten ihre eigene Urteilslähmung und erregten sich lautstark, wenn ich in »geseIlschaftswissenschaftlichen« Broschüren, die sie aus Klein-Machnow oder Leipzig importierten, keine neuen Kleider erkennen konnte und von alten Hüten sprach. Meine Vorlesung über »Protest als publizistische Form« ruinierte bei etlichen Kollegen 1970 meinen Ruf vollends und verbesserte ihn nicht bei den Studenten. Ich machte zwanzig Jahre später ein Buch daraus, 26 das 1995 in Südamerika übersetzt wurde.
Universitäten sind aus Steuergeldern aller finanzierte Übergangsorganisationen des sozialen Aufstiegs professioneller Minderheiten und des Statuserhalts schon Privilegierter. Vielleicht sind universitäre Personale und Rituale deshalb besonders von den kleinlichen Personal- und Sachentscheidungen gefährdet, die Bürokratien innewohnen. Je größer die Organisation, desto verwurmter ihr Innenleben, desto geringer die Freiheit zur Selbstgestaltung. Quod non est in actis, non est in mundo. So auch nicht der hart umkämpfte, redlich und unredlich disputierte Studien plan meiner Berliner Jahre. 27
Es hat mich viel unersetzliche Lebenszeit gekostet, wenigstens den Praxiszug zu verstärken. Gleich zu Beginn mit bezahlten und unbezahlten Lehraufträgen an exzellente Praktiker, wie den Jerusalem-Korrespondenten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung , Moshe Tavor, und die Feature-Autorin Ulrike Meinhof. Wiederholt Hörspiel-Dramaturgie und PR. Forschungsgruppen mit dem Zweiten Deutschen Fernsehen, Westdeutschen Rundfunk und Südwestfunk im Fernsehen (Elke Baur) setzten zukunftsträchtige Akzente. Ihr Projekt Fernsehentzug, »Vier Wochen ohne Fernsehen«, 28 wurde anderwärts nachgeahmt.
Als wir den »Multi-Media-Fachmann« 1970 forderten, konnten wir freilich nicht wissen, wie schnell dieser Begriff sich von der gemeinten Opposition zum »Allroundjournalisten« entfernen würde. Der Faktor »Zeit« wurde in seinen drei Dimensionen, organische Lebenszeit, soziale Kalenderzeit und chronometrische Dauer permanent diskutiert, seitdem das Grundcolloquium vom Sommersemester 1969 sich mit dem Aktualitätsbegriff auseinandergesetzt hatte; aber die lineare Entwicklung der Technik lief schneller als für den Kreiselkompaß der Erkenntnis gut war. 29
Die zwischen der biologischen Rhythmik des einzelnen Organismus und den kosmischen Rhythmen vermittelnden sozialen Rituale folgten technisch offenbar dem durch Jahrtausende wirksamen Prinzip, mehr Menschen über weitere Räume in kürzerer Zeit für dieselbe Botschaft zu erreichen und dabei den lebenszeitlichen Aufwand des Senders zu sparen. Ich begann, unter diesem Aspekt der »Signalökonomie« die früher erarbeiteten Verhältnisse von Bewirtschaftung, Herrschaft und Medien neu zu überprüfen, betrachtete den Journalismus als eine quasiklerikale Funktion kulturspezifischer Rituale zwecks Synchronisation von Einzelorganismen zur Arbeitsteilung, 30
Für Medientechnologie, Hörfunk und Fernsehen konnten vorzügliche Honorarprofessoren gewonnen werden. Der 68er Emigrant aus Prag, Ivan Bystrina, 1970 berufen, entwickelte »Kulrursemiotib als eigene Disziplin. Der lange verhandelte Lehrstuhl für Medienpraxis wurde mit Alexander von Hoffmann ( Der Spiegel ) besetzt. Trotz willkommenem Zuwachs aus der Pädagogischen Hochschule Berlin und wenigen Habilitationen blieben der Personalbestand und die Technik des Instituts für Publizistik immer defizitär. Für die Absolventen, von denen einige in- und ausländische Professuren innehaben, andere fast täglich im Radio zu hören, in großen Zeitungen und auf den Bildschirmen zu sehen sind, hätte mehr getan werden sollen. Ihre Kritik ist meines Wissens nie erfragt worden. Nach den vorliegenden Zahlen erst recht ein Desiderat.
Die Studentenstatistik der FU weist für das 1. Studienfach und im 1. Fachsemester Publizistik im Sommersemester 1968 insgesamt 192, im 1. Fachsemester 27 Studierende aus, SS 1973 erhöhen sich die Zahlen auf 369 zu 72, fünf Jahre später, Sommersemester 1978, auf 637 zu 46; SS 1983 sind 1.048, davon 50 Erstsemester, im 1. Fach eingeschrieben. Die Zahlen variieren zwischen Sommer und Winter. Die Nebenfächler werden für 1973 mit 297 für das 2. und 172 für
das 3. Fach angegeben, 1978 betragen sie bei 637 Hauptfachstudenten 349 bzw. 247, wobei 34 zum Doppelstudium gezählt werden, deren Zahl sich zum SS 1983 auf 63 erhöht, während für das 2. Fach 1.071 und für das 3. Fach 607 Studierende registriert sind. Die Nebenfachstudenten von 1968 sind tabellarisch nicht auszumachen, in meiner Erinnerung an Prüfungen scheint ihre Zahl nicht unerheblich gewesen zu sein.
Omnia praeclare rara. Eine »Schule« habe ich nicht hinterlassen, wohl aber einiges für den Zeichenbegriff in der deutschen Publizistikwissenschaft getan und etliches für die Medienfreiheit. Sie erwies sich in den räumlich, finanziell und personell beengten, ideologisch verzerrten Arbeitsbedingungen der Freien Universität in den Jahren 1968 bis 1983 als A und O des Lehrauftrages, wie ich ihn verstanden habe und weiterhin vergegenwärtige. 31 Keine Kultur ist freier als ihre Kommunikation, einfacher gesagt, wie die Leute miteinander umgehen, entscheidet über alles andere.
Die nachfolgenden Literaturangaben Pross orientieren sich an Stichworten wie »innere Pressefreiheit«, »Symboltheorie«, »Signalökonomie«, »Studienplan«. Sie sind unvollständig und verweisen nur auf gedrucktes Material. Radio- und Fernsehkommentare sind, soweit keine gedruckten vorlagen, unzugänglich. Die Liste stützt sich auf Christian Weischers Manuskript einer Auswahlbibliographie bis 1995, die sich ihrerseits an die von der Publizistik 1983 zu Wilmont Haackes Geburtstagsartikel 32 gedruckte Auswahl hält. Die Konstruktion soll Interessierten erleichtern, zeitgenössische Auseinandersetzungen zu entwirren.
[Da sich viele Fußnoten direkt auf diesen Anhang beziehen, wurde er aus Gründen der Übersichtlichkeit als eigenes pdf-Dokument hinterlegt, welches sich in einem eigenen Fenster öffnet.]
1 Vgl. Pross, Harry (1993): Memoiren eines Inländers 1923-1993. München, Zürich.
2 Weber, Alfred/Mitscher!ich, Alexander (1946): Freier Sozialismus. Ein Aktionsprogramm. Heidelberg, S.64.
3 Vgl. Jaspers, Kar! (1946): Die Schuldfrage. Einleitungsvortrag. Heidelberg, S. 1l.
4 Vgl. bibliographischer Anhang 1, S. 130.
5 Vgl. bibliographischer Anhang 2, S. 130f.
6 Vgl. Oppenheimer, Franz (1912): Der Staat. Frankfurt/Main.
7 Vgl. Gumplowicz, Ludwig (1926-28): Ausgewählte Werke. Hrsg. v. Gottfried Salomon. 4 Bde. Innsbruck.
8 Vgl. Hellpach, Willy (1906): Die geistigen Epidemien (= Die Gesellschaft, Bd. 11). Frankfurt/Main.
9 Vgl. bibliographischer Anhang 3, S. 131.
10 Vgl. bibliographischer Anhang 4, S. 131f. 11 Vgl. bibliographischer Anhang 5, S. 132.
12 HICOG wird es wohl gewußt haben, denn die Besatzungsmächte veranstalteten Pools. Als Redakteur war ich auf Vermutungen angewiesen, ob die sowjetische Friedenskampagne mit ihren Medien als »Transmissionsriemen der Partei« dem amerikanischen Slogan vom »free flow of information« dermaßen überlegen war, daß der Westen den Ostimport von Presseprodukten sperren mußte. Angesichts zunehmender Macht des »militärisch-industriellen Komplexes« (General Eisenhowers Wort) begannen freiheitlich gesonnene WestintellektueIIe die Demokratie auf einem »Dritten Weg« zu suchen. Vgl. Auseinandersetzungen auf dem Berliner »Kongreß für die Freiheit der Kultur« während der Koreakrise 1950 in: Der Monat, 2. Jg., Nr. 22/23. VgI. bibliographischer Anhang 6, S. 132.
13 Vgl. bibliographischer Anhang 7, S. 132f.
14 Vgl. Cassirer, Ernst (1944): An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture. New Haven (Conn.) und: Cassirer, Ernst (1946): Myth of the State. New Haven (Conn.).
15 Vgl. Lazarsfeld, Paul F. (1952): The Academic Mind. New York.
16 LöwenthaI, Richard (1947): Jenseits des Kapitalismus. Ein Beitrag zur sozialistischen Neuorientierung von Paul Sering [d.i. Richard Löwenthai]. Nürnberg.
17 Vgl. bibliographischer Anhang 8, S. 133f.
18 Vgl. Pross, Harry (1959): Die Zerstörung der deutschen Politik 1871-1933. Dokumente. Frankfurt/Main.
19 Vgl. Mann, Golo/Pross, Harry (1958): Außenpolitik. In: Internationale Beziehungen (= Das Fischer-Lexikon, Bd. 7). Frankfurt/Main, S. 21ff.
20 Vgl. Pross, Harry (1959): Pan-Bewegungen. In: Staat und Politik (= Das Fischer-Lexikon, Bd. 2). Frankfutt/Main, S. 230ff.
21 Vgl. Pross, Harry (1967): Moral der Massenmedien. Prolegomena zu einer Theorie der Publizistik. Köln, Berlin.
22 Vgl. Pross, Harry (1972): Medienforschung. Film, Funk, Presse, Fernsehen. Darmstadt.
23 Vgl. bibliographischer Anhang 9, S. 134.
24 Vgl. bibliographischer Anhang 10, S. 1 34ff.
25 Vgl. bibliographischer Anhang 11, S. 136.
26 Vgl. Pross, Harry (1992): Protestgesellschaft. Von der Wirksamkeit des Widerspruchs. München, Zürich.
27 Vgl. bibliographischer Anhang 12, S. 136.
28 Vgl. Bauer, Wolf/Baur, Elke/Kungel, Bernd (1976) (Hrsg.): Vier Wochen ohne Fernsehen. Eine Studie zum Fernsehkonsum. Berlin.
29 Die vereinten Anstrengungen und unterschiedlichen Motivationen von Angehörigen des Instituts für Publizistik faßten 1973 zwei damals 30jährige Assistenten zusammen: Paetzold, Ulrich/Schmidt, Hendrik (Hrsg.): Solidarität gegen Abhängigkeit. Mediengewerkschaft. Darmstadt, Neuwied. Der Schriftsteller Martin Wals er glaubte in seinem Vorwort an »die Erlangung einer qualitativ neuen Freiheit auf der höheren Ebene einer kollektiven Selbstbestimmung aller Produzenten«. Inzwischen erleben wir, daß die Medien in der Hand einer bewirtschaftenden Minorität jegliche Selbstbestimmung kollektiv verunmöglichen, indem sie nach Belieben emotionalisieren, so daß sich Bewußtsein nicht bilden kann. Das war die Voraussage des Schriftstellers Hermann Broch 1949 gewesen, als die Europäer noch nicht am Tele-Tropf hingen. Für die Presse habe ich die Entwicklung 1970-90 zusammengefaßt, für Radio und Fernsehen ist sie unter anderen Titeln vermerkt.
30 Vgl. bibliographischer Anhang 13, S. 136f.
31 Vgl. bibliographischer Anhang 14, S. 137f.
32 Vgl. Haacke, Wilmont (1983): Harry Pross 60 Jahre. In: Publizistik, 28. Jg. Nr. 3, S. 403-410 (mit einer Auswahlbibliographie) und Beth, Hanno (Hrsg.) (1983): Feder-Lese: Publizistik zwischen Distanz und Engagement. Berlin, S. 258 ff.