Ziemlich genau ein Jahrhundert vor dem Ende des 2. Weltkrieges, im Jahr 1848/49, schrieben Marx und Engels in ihrem Kommunistischen Manifest, die Bourgeoisie reiße durch die „unendlich erleichterten Kommunikationen“ auch die „barbarischsten Nationen in die Zivilisation“. Das war ein weitsichtiger Satz, der vor allem der politischen Phantasie seiner Urheber alle Ehre macht, denn woraus bestanden diese unendlich erleichterten Kommunikationen? Dampfschiff und Eisenbahn begannen gerade, Segler und Pferdewagen zu ersetzen, die Lithographie, Königs Schnellpresse und der mechanische Telegraph beschleunigten und erweiterten den Symboltransport. Die Photographie steckte in den Kinderschuhen. Die Laterna Magica war die Sensation der Märkte. Das Fahrred war erfunden, eignete sich aber nicht so recht, barbarische Nationen in die Zivilisation zu reißen, so wenig wie der Luftballon. Das Automobil, die Anfänge von Radio und Fernsehen wi Mergenthalers Setzmaschine kamen eine Generation später und mit ihnen die Voraussetzungen dessen (1), was wir heute „Neue Medien“ nennen.
Die Prognose von 1848/49 enthält aber schon alle Bedingungen jener „Industrialisierung des Bewußtseins“ in der Medienkultur, die wir heute diskutieren: Die technischen Voraussetzungen in der Vorstellung von den „unendlich erleichterten Kommunikationen“, den politischen Aspekt des Festhaltens und Loslassens im Verbum „reißen“ und die Wertproblematik in den Metaphern Bourgeoisie, barbarischste Nationen und Zivisation.
„Die Zivilisation“ war für den Publizisten aus dem römisch fundierten Trier und dem Industriellen aus dem Wuppertal selbstverständlich die europäische Zivilisation mit ihrer industriellen Revolution. Die beiden dachten eurozentrisch, genauer gesagt, in der Tradition des Humanismus, wie er den Rhein entlang durch die Jahrtausende gediehen ist — ich nenne da nur Erasmus und Jacob Burckhardt, der dann bei der Bismarckschen Reichsgründung eine Befürchtung äußerte, die wir heute noch teilen, daß nämlich die kleinen Einheiten kaputt gehen, in denen „der Geist warm saß“.
Weltliteratur, Weltpolitik, Weltkriege, Weltende — die reihenfolge scheint plausibel, wenn wir nicht ein neues Weltbewußtsein entwickeln, das die bedrohliche Antizipation aufhält und mit den neuen technischen Mitteln politisch konsequent neue Werte dem bisherigen Treibenlassen entgegensetzt.
Genau hundert Jahre nach Marx und Engels brachte der österreichische Dichter Hermann Broch im amerikanischen Asyl die seitdem eingetretene Industrialisierung des Bewußtseins auf den Begriff der Spannungsindustrie. Er schrieb 1948/1949 unter dem Titel „Ideologische Versklavung“ zur „wirtschaftlichen Heroenverehrung“ u.a.:
Es ist durchaus bezeichnend, daß überall in der Welt, wo Intensivwirtschaftsformen mit ihren ungeheuren Wettbewebsspannungen einsetzen, diese (einfach weil der Mensch nicht mehr spannungslos zu leben vermag) auch auf die Mußestunden übertragen werden; geistig, sozusagen geistig hat dieser Sachverhalt zu der gewaltigen Spannungsindustrie geführt, deren zahmer Vorläufer der Detektivroman gewesen ist und die als Kino, Radio und Television sich immer noch weiter ausbreitet, während auf physischem Gebiet der moderne Sportbetrieb mit seinen spezifischen Rekordspannungen hier seinen Ausgang genommen hat. Und solcherart aus der Wirtschaft entsprungen, wird dieser alle Lebensgebiete, nicht zuletzt auch die Politik durchdringende „Sportsgeist“ zurück auf die Wirtschaft angewandt und wird hier gleichfalls zur rekord- und Erfolgsanbetung. (2)
Als Broch diese Beobachtung niederschrieb, unterschied er in der Wertproblematik Völker mit „zersplitterten“ Wertsystemen, zu denen er die Industrienationen rechnete, von solchen, die — wie das russische Volk — mit dem Kommunismus „bloß ein stabiles Wertsystem durch ein anderes ersetzen“. Anders als Marx/Engels dachte Broch nicht eurozentrisch, und die „reißende“ Bourgeoisie des Biedermeier sah er, hundert Jahre nach dem Kommunistischen Manifest, politisch in der Awehr der Machtansprüche der Nachfahren von Marx/Engels eher defensiv. Den Ost-West-Konflikt des Kalten Krieges bewertete Broch, im Gegensatz zu den meisten Zeitgenossen, als einen nur ideologisch-propagandistisch hochgespielten Machtkonflikt zwischen den USA und der Sowjetunion, eben den imperialistischen Kampf zwischem Amerika und Rußland, wie ihn im 19. Jahrhundert Tocqueville u.a. vorausgesehen hatten. Er suchte deshalb einen „Dritten Weg“ zwischen Kommunismus und Kapitalismus, wohl wissend, daß es mit dem europäischen Kolonialismus und Missionarismus zu Ende war, und die Wellen, die er geschlagen hatte, auf den alten Westen zurückschlugen.
Die „unendlich erleichterten Kommunikationen“ waren freilich bei Brochs Niederchrift noch nicht, was sie heute sind: der Weltluftverkehr trotz des vorhergegangenen Luftkrieges noch dürftig, das fernsehen erst ein Dutzend Jährchen alt, in Europa noch nicht Alltagswirklichkeit, Weltraumfahrt und Satellitentechnik noch vor dem „Sputnik“-Schock, Kybernetik und NAchrichtentechnik im Anfang ihrer Ausbreitung, von den Folgen der Computerisierung ganz zu schweigen; aber die politischen Zusammenhänge der verkehrsmittel im allgemeinen und der Medien des Symboltransports im besonderen lagen klar zutage.
Die Verlierer des 2. Weltkriegs wie die Sieger hatten den krieg mit Funk und Rundfunk geführt, Hitler gar den Angriff auf Polen 1939 mit einem fingierten polnischen Angriff auf den reichssender Gleiwitz gerechtfertigt. Der Film war, wie Paul Virilio in einer glänzenden Studie Krieg und Kino (1984) beschrieben hat, unentbehrliches Medium der Massenlenkung geworden.(3) Mythen, schrieb 1945 der deutsche Philosoph Ernst Cassirer, auch er im amerikanischen Asyl, werden fabrikmäßig hergestellt wie Maschinengewehre, und Hitlers Krieg sei nur noch der Vollzug solcher Vorfabrikation gewesen.(4) Ein, wie mir scheint, wichtiger Hinweis zum Verständnis der medienpolitischen Entwicklung nach 1945.
Sowohl Broch wie Cassirer und, eine Generation später, Virilio verbinden Politik und Technik über die jeweiligen Mittel des Symboltransportes, die Kommunikationsmittel, die wir abgekürzt „die Medien“ nennen. Weil sie den Symbolverkehr technisch erleichtern, befrachten wir sie mit der Erwartung, daß sie auch das Verstehen und damit den von Kant so genannten „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ erleichtern. Diese Erwartungen werden aber weder durch die „Spannungsindustrie“ noch durch die Mythenfabrikation noch durch die Korrespondenz von „Krieg und Kino“ gerechtfertigt. Ich will versuchen, das zu erklären.
Brochs Begriff der „Spannungsindustrie“ zielt mit den Hinweisen auf Krimi, Kino und Fernsehen auf di Ruhelosigkeit, Angst, nervöse Erregung, die beim Leser und Zuschauer durch lektüre und Partizipation an der Vorführung erzeugt wird, auf provozierte Spannung also. Sie setzt die physiologische Erregbarkeit von Lesern und Zuschauern voraus.
Diese wiederum hängt in jedem einzelnen Fall von den augenblicklichen Zuständen ab, vor allem von dem ständigen Hin und Her von Selbst- und Fremdbestimmung, in dem der Mensch sich mit seiner Umwelt auseinandersetzen muß, den vorhandenen inneren Spannungen also.
Broch nimmt an, daß die Bedingungen, unter denen seine Zeitgenossen sich ihren Lebensunterhalt erwerben, die kapitalistische Konkurenz, als extreme soziale Spannung sie derart fremdbestimmen, daß sie auch in ihrer Freizeit nicht aus-spannen können. Sie sind überspannt und brauchen deshalb immer neue Spannungen, um ihr Subjekt „erneuern“ zu können. Anders gesagt: sie entlasten sich von den Strapazen der Produktion, indem sie das Prinzip dieser Produktionsweise in ihrer Freizeit konsumieren. Auf diese Weise setzen sie die Produktion mit den Mitteln des Konsums fort.
Tatsächlich ist in jeder Mitteilung und Antwort zugleich individuelle und soziale Spannung. Man kann diese Spannungen so wenig aus der Kommunikation herausnehmen wie den Laut aus dem Wortwechsel; doch kann man sie verringern und steifern. Es leuchtet ein, daß politische und wirtschaftliche Systeme, die zu ihrem Funktionieren Wettbewerbsspannungen brauchen, die inneren Spannungen der Subjekte auf die erforderliche Frequenz zu bringen suchen. Dazu brauchen sie die rituellen veranstaltungen, die den „ganzen Menschen“ über die Grenzscheide von Wahrnehmung und Vorstellung hinweg in mythische Geschlossenheit versetzen. Die Rituale machen den menschen zum Teil eines Ganzen, zum „partizipanten“. „Partizipation“ ist gefragt. Die technischen kommunikationsmittel können die kognitiven und emotionalen Mängel der einzelnen Menschen zugunsten der Systeme manipulieren, indem sie die symbolischen Horizonte abstecken.
Der Zugang zu solchen Medien, und der Kampf um solche Medien heißt Medienpolitik. Die Mdien sind das technische Mittelstück zwischen der umfassenderen — eben nur durch Kanalisierung auf bestimmte Medien abgrenzbaren — Vielfalt der Kommunikationen und dem engeren Quantum an Symbolen, das als thematischer Inhalt von Mitteilung und Antwort transportiert werden soll.
Unter dem Gesichtspunkt des behaltens und Loslassens, der alle Politik bestimmt, kann die Medienpolitik als Kampf um Zugänglichkeit sowohl auf die allgemeinere Kommunikationspolitik wie auf die speziellere Informationspolitik einwirken. So ist nicht die Qualität, die Wertigkeit einer Mitteilung das Entscheidende für die Medienpolitik, sondern die reichweite ihrer Kanäle, und ob es ihr gelingt, in kürzerer zeit über weite Räume mehr Leute zu erreichen als die Konkurrenz. Da soziale Einheiten als kommunikative Vernetzungen real werden und solange existieren, bis die Leute auseinanderlaufen, ist die Mdienpolitik eine wichtige Voraussetzung jeder anderen Politik und ein Eldorado für große und kleine und Möchtegern-Machiavellis. (5)
Daraus ergibt sich, daß die Quantitäten in der Medienpolitik als Qualitäten gehandelt werden. Es geht um mehr Öffentlichkeit für bestimmte Informationspolitiken mit dem Ziel, sagen wir — in Anlehnung an Broch — systemkonforme SWpannungsverhältnisse zu produzieren. Das ist etwas ganz anderes, als selbständiges Denken, Gestalten, Aufmüpfigkeit und Mündigkeit herzustellen, die ja per definitionem grenzübergreifend sein müssen und also nicht der Netzspannung sich anpassen lassen.
Mit der Aufteilung des deutschen Aggressionspotentials 1945 unter die Besatzungsmächte mußten die medienpolitischen Reichweiten in ganz Europa neu abgesteckt werden. Die Alliierten waren sich darin einig, daß sie ihre Propagandaapparate aus der Anti-Hitler-Koalition vorerst nicht abrüsteten. Das mußte bei der imperialen Bedeutung des symbolischen Instruments zu Spannungen zwischen ihnen führen, und es ist wohl so gewesen, daß schon das bloße Vorhandensein kriegsstarker und siegerischer publizistischer Apparate gegenseitig als Bedrohung empfunden wurde. Jedenfalls hat es zu Spannungen geführt.(6)
Sie verstärkten sich, als zwei Jahre nach dem Waffenstillstand die Methaphern vom „Eisernen Vorhang“ und „kalten Krieg“ den anglo-amerikanischen und den sowjetischen Einflußbereich zu ideologischen Einheiten stilisierten. nun waren mit wenigen retouchen die aus dem Krieg stammenden Feindbilder wiederzuverwerten — für die bisherigen verbündeten: Statt Hitler war Stalin einzusetzen, die Ähnlichkeit der Diktaturen war hervorzuheben, die Ungleichheiten zu überpinseln, und das Bild war fertig. Noch leichter hatte es die Sowjetpropaganda, sie brauchte den Faschismus-Text nicht einmal umzuschreiben. Ein Vakuum des Zweifels durfte weder in „Ost“ noch in „West“ entstehen. Wer die Medien hat, dirigiert die Inhalte und Nuancen der Informationspolitik.
In Deutschland bestimmten die jeweiligen „Information Control“-Abteilungen, wer von den schreibenden und bildnerischen Potenzen Zugang zu den Medien bekam. Medienpolitik als Lizenzpolitik. Das Verbot vom Februar 1948, Zeitungen zwischen den westlichen und der sowjetischen Zone auszutauschen, gilt auch 1987 noch, auf diese Weise eine gemeinsame Öffentlichkeit verhinderns und damit die unerwünschte nationale Meinungsbildung sowie die tägliche Information „des Westens“ über „den Osten“, die Spannungen abbauen könnte, weil sie die Proportionen „westlicher“, die Umrisse „östlicher“ Wirklichkeiten erkennen ließe. Nicht nur für deutschland, sondern für Europa wäre es zweckmäßig, wenn es in der Meinungsbildung in der Mitte des Kontinents weniger krampfig zuginge. Zwar können Mauern und Elektrozäune Radiowellen und Fernsehfunk nicht aufhalten; aber die Flüchtigkeit des Hörensagens und der an ihr Gerät fixierten Laufbilder vermögen auch nicht, die kulturell fundierten Qualitäten der Schriftlichkeit zu ersetzen oder die Bewertung und Überbewertung der Druckschrift.(7)
Öffentlichkeit, die zwar hören und fernsehen, aber nicht lesen darf, ist in ihrer Mündigkeit behindert. Im Hebräischen bedeutet lesen „ausrufen“ und die Schrift eigentlich „die Lesung“. Mündigkeit hat etwas mit Mundaufmachen zu tun und damit, Gelesenes vorzutragen. Was man schwarz auf weiß besitzt, getrost nach Hause zu tragen, ist nur der Anfang der Mitteilung. Das Gelesene „auszurufen“, es zu veröffentlichen, ist der zweite Schritt, ohne den der erste keinen rechten Sinn ergäbe. Erst das Sprechen erweckt den „toten Buchstaben“ zum Leben. Mündigkeit beweist sich nicht durch den Knopfdruck am Radio- oder Fernsehgerät, auch nicht im Flanieren zwischen den Programmangeboten, sondern einzig und allein durch das Ergreifen des Wortes und das Aussprechen dessen, was ist.
Die medienpolitische Behinderung der europäischen Öffentlichkeit durch die Verbote, periodische Presse zwischen Ost- und Westeuropa auszutauschen, besonders da, wo eine gemeinsame Sprache die Verständigung erleichtert hätte, steigerte die Bedrohlichkeit der politischen Gesamtsituation. Lesen können, wie der Gegner seine Position darstellt und wie er sich selber sieht, hätte die Ausmaße der wirklichen oder vermuteten Bedrohung abschätzbarer gemacht und die Völker entlastet und die Lage entspannt.
Gerade dies aber lag nicht im machtpolitischen Interesse der Regierungen, die ja in der Konfrontation möglichst geschlossene Einheiten führen wollten. Geschlossenheit ist nur durch Spannung zu erreichen, Öffnung erlaubt Entspannung. Entspannung mindert Geschlossenheit.
So spielten die Demokratien spätestens seit 1947 informationspolitisch exakt auf jener „Klaviatur der Aufregung“, die 1937 der deutsche Publizist Leopold Schwarzschild als Kennzeichen der beiden Diktaturen von Hitler und Stalin beschrieben hatte. (8) Je geringer dank der beiderseitigen Zensuren das Hinter- und Grundwissen der Völker war, desto leichter waren sie in der nervösen Spannung zu halten, die unbekannte Gefahren erzeugen, auch wenn sie nur eingebildete Erfahrungen sind (9), desto lenkbarer waren die Aggressionen, die durch das Gefühl des Bedrohtseins geweckt wurden. Ds informationspolitische Instrumentarium braucht disponible Spannungen; wo keine sind, muß es sie erzeugen, um unkontrolliert wirken zu können. Um mit den emotionalen defiziten und der Unkenntnis der Menschen jonglieren zu können, mußten diese in Spannung versetzt werden.
Waren denn aber die Spannungen und Krisen seit 1945 in Europa nur informationspolitische Mache und medienpolitische Kämpfe? Wurden sie nicht mit politischem Mord, mit Panzern und AUfklärungsflugzeugen ausgetragen? Prag 1948, Luftbrücke und Ungarn 1956, Mauerbau, die täglichen Schikanen an den Grenzen — sind sie nicht wirklich bedrohlich? Freilich sind sie das; und bedrohlicher die globale Bedrohung der Menschheit durch ihre technisch-wissenschaftlichen Fortschritte.
Man kann die Industrialisierung des Bewußtseins nach 1945 nicht untersuchen, ohne die psychischen Folgen der Bomben aus heiterem Himmel im 2.Weltkrieg, ohne den bürokratisch organisierten Massenmord der Deutschen an Minderheiten, ohne die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki mitzubedenken. Sie wollten und sollten demoralisieren, Vertrauen in die Menschlichkeit zerstören und damit das Selbstbewußtsein aller Einzelnen. Dieses Ziel haben sie erreicht. Das war der Gewinn aus diesem Weltkrieg und die Voraussetzung aller Kommunikationspolitik hernach.
Die irrsinnige MAchtdemonstration der Amerikaner in Japan 1945 erwies sich noch nicht vier Jahre später, als die Sowjets ihre Atombombe verführten, als eine ideologische Fehlkalkulation. Seitdem haben wir zwei atomare Supermächte, die als moralische Super-Ohnmächte sich erweisen, sooft sie gezwungen sind, ihre imperialen Anspräuche vor den Völkern zu rechtfertigen.(10)
Der Himmel, einst die Hoffnung der auf der Erde bedrohten Menschen, ist selber zur Bedrohung geworden. Auch dort haben die Menschen die Götter verdrängt. Bomben und Raketen können herniederfahren aus dem Weltraum, doch ist es nicht Zeus, der diese Blitze schleudert, sondern irgendein Anonymer, der in sicherem Bunker, in der Unterwelt also, auf den Knopf drückt. Die Luft ist verseucht, und die Ätherwellen jagen uns mit Wörtern und Bildern, die auf unsere menschlichen Mängel zielen, um diese Mängel auszubeuten.(11)
Wenn wir der Gewohnheit folgen, medienpolitische Entwicklungen zu periodisieren, ider der Stand der technischen Vervollkommnung das jeweilige Maß. Politische Datierungen — wie Regierungswechsel, Annexionen, Kriege, Revolutionen — werden gewöhnlich auf den geographischen Raum relativiert und dessen Bevölkerung. Jede Art von Herrschaft und Herrschaftswechsel bemißt sich aber an ihrer medientechnischen AUsstattung. Der frühere deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt hat unlängst in der Illustrierten Stern (8.10.87) die „Fernseh-Demokratie“ von der „Ueitungs- und Radio-Demokratie“ unterschieden und übereilt auch Fehlentscheidungen des amerikanischen Präsidenten Reagan mit dessen Abhängigkeit vom Medium erklärt: „Fernsehdramaturgie tritt an die Stelle von Staatskunst“ schreibt der Insider Schmidt und warnt vor dem Holzweg von der parlamentarischen zur Fernseh-Demokratie: „… auch in Europa werden ANsprachen der Regierungschefs, ihre Pressekonferenzen und vor allem ihre Fernsehauftritte in immer bedenklicherer Weise von Textern, Regisseuren, Beleuchtern und Maskenbildnern inszeniert. Auch bei uns erzwingt das Fernsehen durch seine Berichtte schon längst andere Tagesordnungen für die politische Führung, als sie in der Zeitungs- und Radio-Demokratie üblich waren.“ Politik als Show-Business.(12)
Als die Zeitungs- und Radiodemokratie Mitte der fünfziger Jahre auch in Europa ins Fernseh-Zeitalter überzugehen begann, hatten die Amerikaner längst die medienpolitischen Schlüsselpositionen des Nachrichtenmarktes durch ihre PR-Agenturen, der Unterhaltung durch ihre Filme und der Werbung durch ihre PR-Agenturen und deren Schematismen besetzt. Die Propagandaoffiziere der Militärregierungen wurden von den „Madison-Avenue-Boys“ Mitte der fünfziger Jahre abgelöst. Es gab auch solche, die ihre staatlich-politischen Arbeitgeber einfach durch kommerzielle ersetzten.
Entscheidend war die amerikanische Überlegenheit im visuellen Symbolismus. Da die europäischen Länder, vom Krieg geschwächt, keine weltumfassenden Bildagenturen aufbauen konnten, lernten sie, die Welt mit den Augen der amerikanischen Kameraleute zu sehen. Die Europäer mußten in der Auswahl des Bildmaterials wie in der Wahrnehmung auf eigene Welterkundung weitgehend verzichten und die vorgegebenen Deutungen zur Kenntnis nehmen. Man versteht diese Jahre, glaube ich, zu oberflächlich und vordergründig, wenn man darauf abhebt, es sei den Amerikanern nur darum gegangen, politische und kommerzielle Warenzeichen durchzusetzen und den coltschwingenden, lederbestrumpften, blauäugigen Pionier zum Idol der Anfang der fünfziger Jahre propagierten „Atlantischen Gemeinschaft“ zu machen. Gewiß war der Export, dem so gut wie kein Import gegenüberstand, eine treibende Kraft des in der UNO geforderten „free flow of information“; aber der Coca-Cola, Blue-Jeans- und Waffen-Export, überhaupt die filmische „Promotion“, konnte nur reüssieren, soweit die Völker außerhalb Amerikas durch intensive Wiederholung amerikanischer Klischees und Images dazu gebracht werden konnten, sich in den Kult einbeziehen zu lassen.(13)
Der Kino-Film hat viel dazu getan. Ich erinnere an den James-Dean-Kult nach Jenseits von Eden (1955) und an die Entwicklung einer Gegenthematik zu Hollywood im italienischen Neorealismus.
Die Spannung in der Kommunikation kommt aus der Möglichkeit, dem mitgeteilten Thema ein Gegenthema, dem Spruch einen Widerspruch entgegenzusetzen, dem Bild das Gegen-Bild als Antwort gegenüberzustellen. Wenn abr die elektronischen Medien unisono das nämliche Thema verbreiten, dann müssen sich Gegenthema, Widerspruch und Gegenbild anderwärts artikulieren. Statt des Dialoges haben wir zwei Monologe. Es war die polit-ökonomisch begründete Tragödie des europäischen Films in der letzten Phase, ehe das Fernsehen die neuen technischen Möglichkeiten durchsetzte, jeden einzelnen Konsumenten, auch den, der den Gang ins Kino nicht antrat, in seiner heimischen Höhle unter die kunstvoll produzierten Spannungen zu setzen: physiologische Erregung im Lehnstuhl. Erst mit diesen angenehm-perversen Wahrnehmungsbedingungen (14) kam die Spannungsindustrie zur vollen Entfaltung.
Das Fernsehen überbrückt die Distanz, die das Kino als ein zwar abgedunkelter, architektonisch gleichgerichteter und zugleich isolierender öffentlicher Raum impliziert. Es schließt die nervösen Spannungen der Zuschauer mit ihren emotionalen und kognitiven Defiziten in ihrer Privatheit kurz mit den öffentlich gemachten Spannungen.
Man könnte auch sagen, es zapfe die inneren Spannungspotentiale von Millionen Privaten an, indem es sie synchronisiert. Ds ist das intelligenteste Mittel seelischer Ausbeutung, seitdem einer auf die Idee kam, andere Leute um sich zu versammeln und sie mit ihrer aufgewendeten subjektiven Lebenszeit dafür bezahlen zu lassen, daß er, der redner, sich die zeit ersparte, ihnen allen einzeln nachlaufen zu müssen.
Diesem Prinzip der Signalökonomie folgt seit jenen Urzeiten die medientechnische Entwicklung mit Zeichen, Schriften, Druck, Bilddruck usw. Ihre Erfindungen zielten darauf ab, immer mehr Leute über immer weitere Räume in immer kürzerer Zeit für die nämliche Einzelmitteilung zu erreichen: Symbolnetze auszuwerfen, um die Lebenszeit der vielen Einzelnen zu fischen. Die Macht von Menschen über Menschen beginnt und endet mit der Wegnahme subjektiver Lebenszeit für fremde Zwecke, und jeder Kampf für die Freiheit ist im Grunde ein Aufbegehren gegen die Fremdbestimmung über die unersetzliche Lebenszeit und für die eigene Antwort auf die Mitteilungen, die diese Lebenszeit besetzen, kolonialisieren, verbrauchen.(15)
Im Fernsehzeitalter, das wir in Europa mit 1960 beginnen sahen, hat die scheinbare Privatheit und Selbstbestimmung des Empfangs die dialogischen Komponenten von Mitteilung und Antwort, in denen sich Mündigkeit beweist, weitgehend ausgeschaltet. Die Technik ermöglicht den Dialog nicht, weil das Medium das Versammlungsprinzip dadurch verfeinert, daß es die Teilnehmer der Versammlung zum stummen Glotzen verurteilt. Diese betrachten das Gerät als ein ihnen zugehöriges Möbel, während die Mitteilenden, die Kommunikatoren, ihre Gegenüber als statistisch erfaßbare Größen der Partozipation am Programmritus begreifen, die nicht als Einzelne, sondern mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden nach der für das Medium aufgewendeten Lebenszeit empirisch berechnet werden.
An dieser technischen Vorgabe ändert auch das gelegentliche Einspielen von Telefonanrufen nichts. Die Anrufer werden zum Bestandteil der mitteilung weniger an die vielen, die unmündig bleiben. Es gehört deshalb eine gehörige Portion Zynismus dazu, die Vermehrung von Programmen mit der Mündigkeit der Bürger begründen zu wollen. Die Wahrheit ist, daß sich die insgesamt passiven Millionen in finanzielle Unkosten stürzen sollen, um neue Apparate zu kaufen, die sie den Ausstrahlungen neuer Unternehmer verfügbar machen. Darum geht die gegenwärtige medienpolitische Debatte.
Andererseits hat die durch Massenproduktion der Apparaturen eingetrene Verbilligung den Gegenverkehr in der bisherigen Einbahnstraße gefördert. Das Fernsehgerät ist kein Statussymbol mehr, wie es vor dreißig Jahren noch war. Das Edelholz-Radio wurde durch das Transistorradio gewöhnlich gemacht. Die Videokamera hat die Schmalfilmkamera verdrängt. Erstere hat auf dem Umweg über den Amateuermarkt sogar die fernsehprofis erreicht und ihnen neue Produktionsmöglichkeiten und -zwänge auferlegt, über die im einzelnen zu diskutieren wäre. Kurz: die vermehrten und leichter gewordenen Geräte haben dazu beigetragen, das Prestige, also den Anschein der Macht der Konsumenten zu erhöhen. Sie finden im Zuge der „Produkt-Promotion“ mehr Beachtung. Das Radio, das zu sechzig Prozent der Musikberieselung emotionaler Defizite seiner Hörer dient, gibt in einzelnen Kanälen dem Wort in Rede und Gegenrede mehr Zeit als bisher. Vorwiegend Frauen machen Gebrauch von diesem Radio-Telefon-Kombinationen, die Engagement ermöglichen und Distanzen scheinbar verringern, was beides der mitverpackten Produktwerbung zugute kommen mag.
Die Werbewirtschaft ist der Sieger der kommunikationspolitischen Rennen der letzten dreißig Jahre, indem sie zugleich die Akteure, über die berichtet wird — Trikotwerbung, Bandenplakatierung im Stadion, Markenzeichen auf Staatslimousinen, noch nicht auf den Staatsfräcken, aber doch schon: Papst mit Tennisschläger Marke „Puma“ —, die Werbeseiten und -zeiten der Medien, dann ab 1960 schleichend („product placement“) deren Texte und Bilder und zunehmend die Alltagskleidung der Konsumenten besetzt hat. (16)
Hermann Broch hat schon auf die Schlüsselrolle des Sports in der „Spannungsindustrie“ hingewiesen; aber er konnte noch nicht wissen, daß die öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten in der damals noch nicht vorhandenen Bundesrepublik im Jahr 1986 allein 16 Millionen DM (16A) für die Übertragungsrechte der Fußball-Bundesliga ausgeben würden, um damit die Werbung im Stadion und auf den Trikots der Berufsspieler, nicht zuletzt deren weitere wirtschaftliche Verwendbarkeit als „Publikumslieblinge“, zu subventionieren.
Mit zunehmender Kommerzialisierung ist der Berufssport in die täglichen Informationssendungen vorgerückt, obschon der Nachrichtenwert eines Tennis-Matchs in Australien oder Brasilien doch eher gering zu veranschlagen ist und ohne die ökonomischen Interessen der Spannungsindustrie nicht zu verstehen.
Politologisch betrachtet, erscheint diese Entwicklung als Teil der Kompensation nationaler Ohnmächte der Kleinstaaten, die mit Weltranglisten, Olympiaden und dergleichen für die Tatsache entschädigt werden, daß sie im Spannungsfeld der Supermächte kleine Rollen zu spielen haben und wenigstens den Prestigegewinn haben sollen, „dabei“ zu sein. Weltmeistertitel als Ersatz für die Unfähigkeit, die Welt zu meistern. „Identität“ (17) herstellen, wo Mündigkeit nicht sein kann.
Technische Neuheiten, wie Nachrichtensatelliten und Glasfaser-Kabel, ermöglichen die Übertragung in alle elektrifizierten Länder. Das neue Stadium des Kapitalismus, das der Nationalökonom Werner Sombart 1903 mit der Elektroindustrie heraufkommen sah, erreicht in unseren Tagen seine Weltherrschaft, indem es den Seelenmarkt global markiert. Unkontrollierbare Kommerzialisierung des Rundfunks auch dort, wo dieses Medium, seiner Penetranz wegen, bisher öffentlich-rechtlich organisiert ist und öffentlicher Kontrolle unterliegt. Dies geschieht, obwohl gerade im Ursprungsland der globalen Expansion, den Vereinigten Staaten, bedeutende Köpfe der politischen und Kommunikationswissenschaften wie Lasswell, Lazarsfeld, Herbert Schiller und andere in den sechziger und siebziger Jahre die dortigen Zustände kompetent kritisiert und davor gewarnt haben, sie nachzuahmen.
Der Ökonom Galbraith rechnet 1986 die Medien der „konditionierten Macht“ (18) zu, die er aus freiwilliger Unterwerfung durch Glauben bewertet. Tatsächlich ist der Glauben an die Medien ein grund dafür, daß ihre Macht überschätzt wird und deshalb ausgeweitet werden kann. Dieser Glaube hat seine Apostel sowohl bei den Machern als bei den Angemachten. Die wenigen investieren in neue Medien horrende, nur noch multifunktional aufzubringende Kapitalien, weil sie an die Macht der Medien glauben, Gewinne zu erzeugen. Die vielen amortisieren am Ende diese Investitionen, indem sie gläubig glotzen und durch ihre Vielzahl die Werbeeinnahmen erbringen. Der Mythos ist rationaler Argumentation unzugänglich.
Aber das ist nicht alles. Das System funktioniert, weil der Mensch nicht erträgt, allein zu sein, und Kommunikation sucht, um seine emotionalen und kognitiven Mängel zu kompensieren. Der Mangelquell versiegt nicht; Freud und Leid, aktive, schöpferisch gestaltende, mündige Selbstdarstellung des Menschen werden ebenso aus Mangel gespeist wie die passiven, rezeptiven, unschöpferischen, apathischen Haltungen, die der Kulturpessimismus unter den Begriffen der „Vermassung“ zu bringen versucht hat und die den politischen Dijtaturen und wirtschaftlichen Ausbeutern ihr „Material“ liefern.
Fragen wir darum zum Schluß, ob die Prognose von 1848 — daß die Bourgeoisie durch die unendlich erleichterten Kommunikationen auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation reiße — nicht umgedacht werden muß: Reißt diese selbe Bourgeoisie die zivilisierten Nationen in die Barbarei? Die Antwort bleibt offen. Manches spricht für die pessimistische Prognose, manches gegen sie. Negative Faktoren sind:
1)Das Zeitalter der Weltkriege ist noch nicht beendet. Wir sind nicht immer mittelbar betroffen, aber immer bedroht. „Kleine“ Kriege, auch „Stellvertreterkriege“ genannt, leiten die Spannungen der Supermächte ab. Das kann auch schief gehen. Zum Beispiel, wenn brisante Entscheidungen fürs fernsehen getroffen werden, statt für den Frieden. Der Zusammenstoß unserer „Sozialreligionen“ (Alfred Weber) mit den Fundamentalisten der alten Weltreligionen bietet neuerdings Beispiele.
2) Im Zusammenhang damit hat die medienpolitische Entwicklung in den Demokratien zu einer teils weltpolitsch orientierten, teils durch die öffentliche Hände unkontrollierbaren Konzentration der Medien in Privathand geführt. Die Machtverhältnisse sind undurchschaubar geworden. Branchenfremdes, international fluktuierendes Kapital bemächtigt sich der Spannungsindustrie. Es kolonisiert die Mitteilungskanäle der Demokratie.
3) Der Kapitalismus war nie so stark wie in seiner Krise; aber sein Hauptproblem, die Überproduktion, ist geblieben. Sie droht, die Profite aufzufressen, auch in der Spannungsindustrie. Sie ist politisch wie ökonomisch eine Schlüsselindustrie, weil sie Bedarf schafft, indem sie in allen drei Welten neue Märkte erschließt. Also muß sie immer mehr Spannung erzeugen.
4) Ihre Wichtigkeit für politische Propaganda und wirtschaftliche Reklame ist nicht mehr zu unterschätzen, nachdem sie semantische Vorgaben in die allgemeine Kommunikation eingeführt hat. Die zitierte Wahrnehmung des Ex-Bundeskanzlers Schmidt vor der fensehpolitik des amerikanischen Präsidenten stand unter der Seitenüberschrift „Europäer sind schockiert, wenn aus der Hüfte geschossen wird“ — gemeint waren die raschen Statements, zwei oder drei Minuten vor der Fernsehkamera, den Terminzwängen der Signalökonomie folgend; aber die Metapher stammt aus der Sprache der Revolverhelden im „Western“ und ist längst in unser Alltagsidiom eingegangen. Schmidts Nachfolger, Bundeskanzler Kohl, versicherte bei anderer Gelegenheit, er sei keiner, der aus der Hüfte schießt, was man ihm gerne glaubt, weil man oft genug gesehen hat, was dazu gehört. Im Zeitalter der Atombombe ist der Revolver nicht nur das Symbol, sondern auch die Waffe der raschen Problemlösung geworden. Er bringt den „Wilden Westen“ in jeden Stadtpark und macht den Abendspaziergang zum Spannungserlebnis, fast wie im Kino. Ein deutlicher Rückfall hinter das erreichte humanitäre Niveau. Nicht nur der Weltfrieden, auch der Landfrieden ist bedroht.
5) Der Raketenwirklichkeit entspricht der Phallus-Kult. Es paßt eben alles zusammen, was Spannung provoziert. Die Medien, befand 1980 der Kommunikationswissenschaftler Arnold A.Rogow für Amerika, tragen durch ihre Unterhaltungsprogramme dazu bei, Heranwachsende einer Kultur einzupassen, die Sex ohne Liebe sucht und den Körper als Maschine behandelt. Schneller Umsatz als Effekt plakativer Werbung ohne Affektion, berechnet nach „Einschaltquoten“. Oder: Der mythische Wettstreit des Priapus mit dem Esel, von Schulkindern wiederholt. Wer mitmacht, ist „in“, wer in der Kopulationsstatistik zurückbleibt, fällt aus dem Rahmen. Rogow versteht die Massenmedien in diesem Zusammenhang als Beschleuniger und Widerhall von Marktinitiativen und Vorgaben einer Konsumgesellschaft: „Die überlieferten Institutionen von Liebe und Intimität werden ausgebeutet und verdünnt durch die Reklame für Güter und Dienstleistungen.“ (19) Demzufolge stünde in den achtziger Jahren die Ausbeutung der natürlichen, unaufhebbaren Spannung zwischen den beiden Geschlechtern für kommerzielle Zwecke im Vordergrund der Informationspolitik. Die Spannung der Geschlechter wird vermarktet. Das Symbol des Paares dient in vielen Variationen demselben Zweck, neue Spannungen zu erzeugen.
6) Das hat politische Konsequenzen. Eine Gesellschaft, die sich vorwiegend mit der Symbolik ihrer Geschlechter beschäftigt, befriedigt sich selbst wie Kinder in ihrer phallischen Phase. Wer würde nicht mit größerem Vergnügen im alltäglichen Paar-Angebot des fernsehens Paare verschiedenen geschlechts verfolgen, als zu sehen, wie das obligate Politiker-Paar sich zum Händeschütteln aufbaut? Das politische Paar freilich trägt zur Aufklärung so wenig bei wie das private. Wahrnehmung und Vorstellung vermischen sich im voyeuristischen Effekt. Uralte Versatzstücke der Mythologie wirken auf das gefühl, wo der Verstand säuberlich die Grenzen von Wunsch und Erfüllung, von Bild und Sache ziehen sollte. Die bunte Magie (20) triumphiert, es leidet die Kritik. Der kanadische PR-Theoretiker Marshall McLuhan konnte 1964 behaupten, das Medium sei die Botschaft. Inzwischen hat die kommunikationspolitische Entwicklung tiefer in die anthropologischen Verhältnisse eingegriffen. Das war vorauszusehen. Unser smbolisches Universum hat sich verändert. es gibt kein Zurück, so wenig es ein Zurück hinter die Bedrohung durch ABC-Waffen gibt: Die Spannung ist die Botschaft, die Botschaft ist die Spannung…
Schon Broch hat die Ausbreitung der Spannungsindustrie damit begründet, daß die Menschen gar nicht ohne Spannung leben können. Inzwischen ist durch das Gefühl globaler Bedrohung und der gleichzeitigen Beschleunigung aller technischen Kommunikationsmittel die Nervosität allgemein geworden. Ein Publikum von Kurzatmigen ist außerstande, langatmigen Erklärungen zu folgen, wie sie die Ökologie der Sprache erfordert. Wenn die Zivilisierten sich im Umgang mit ihren Symbolen halb so hygienisch verhielten wie in ihren Toiletten, wäre schon viel gewonnen. Aber sie haben keine Zeit; keine Zeit; keine Zeit — zu entspannen.
Den regressiven Erscheinungen stehen ermutigende Faktoren gegenüber. Die Mißverständnisse der Spannungen zu erkennen, sie innerlich und äußerlich zu verarbeiten, etwas Verläßliches daraus zu gestalten, das ist der Weg zur Mündigkeit. Er steht uns offen; aber er ist so beschwerlich, wie er immer war.
1) Jeder weiß, daß rasche und flüchtige Mitteilungen schnell wahrzunehmen, aber nur allmählich durch Nachfragen zu erkennen sind. Der Tod eines schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten in einem Genfer Hotel hat jüngst die Spannungsindustrie in voller Aktion gezeigt: Die Schuldzuweisungen gingen, wie zu erwarten, am System vorbei; aber — Politiker hin, Journalisten her — die wochenlange Beschäftigung mit einem von 14.000 Selbstmorden, die in der bundesrepublik jährlich bei 200.000 Versuchen gelingen, hat doch für Millionen dieses System fragwürdig gemacht. Das ist nicht viel; aber offene Fragen führen zum Mundauftun, zur Mündigkeit, zur Polemik, die nach Heraklit der „Vater aller Dinge“ sein soll.
2) Technisch liegen Chancen in der Verbilligung neuer Kommunikationsmittel begrenzter Reichweite; Alternativpresse, alternatives Radio, alternative Literatur und Kunst. Das Fernsehen ist noch zu teuer in Investition wie Betrieb. Es verstößt gegen den Grundsatz der Signalökonomie, Medien lokal und regional einzusetzen, die mit dem selben Aufwand mehr Leute über weitere Räume in kürzerer Zeit erreichen können. Darum steht zu erwarten, daß politisch vernünftige Initiativen, die Mündigkeit ermöglichen, von den Kartellen und Konzernen der „Spannungsindustrie“ verschluckt werden, ehe sie gegen deformierte Wahrnehmung neues Hören und neues Sehen durchsetzen können; aber die Hoffnung belebt. (21)
3) Verzagen Sie also nicht, wenn Ihr Reformradio, mit großen Vorsätzen begonnen, sich in einen Lautsprecher der Schallplattenindustrie verwandelt und Sie mit priapeischen Rhytmen auf die Sensationen der Reklame gespannt macht. Sie werden die frohe Botschaft der MArkenartikel als Entspannung aufnehmen und munteres Geplauder des Sprechers als Herausforderung Ihrer Intelligenz. Der Mangel wird zum Gewinn, wo Widerspruch sich regt.
4) Schon im öffentlich-rechtlichen Rundfgunk wurden unter dem Druck der globalen Spannungen besinnliche, nachdenklich machende, erkenntnisförderliche Beiträge in die sogenannten Programmnischen verdrückt, wo sie den Schein der Unabhängigkeit wahrten. Alibi-Sendungen zu schlechten Sendezeiten. Das wird und muß es auch in der Phase der Kommerzialisierung („Vermarkten der Kultur“) geben, weil das prestige, also der Anschein der Macht der Kultur, zur Legitimation des Geschäftes unerläßlich ist. Ganz ohne Orientierung an den überlieferten Werten der Zivilisation kann auch das Karusell der Spannungsindustrie sich nicht drehen. Darin liegt eine Chance für Trittbrettfahrer, denn:
5) Die technisch „unendlich erleichterten Kommunikationen“ stärken die Positionen der anonymen und der weniger namenlosen Machthaber; aber die können nicht verhindern, daß in vielen kleinen Gruppen aus ganz unterschiedlichen Motiven Widerspruch aufkommt, daß im Widerspruch neue Erkenntnisse gewonnen werden über die technisch und politisch so kompliziert gewordenen Medien von Mitteilung und Antwort.
Auf Erkenntnis aber gründet Freiheit.
(1) Ausführlicher in Pross: Medienforschung. Darmstadt:Habel, o.J.[1972]; im Radioessay Pross: Von der schwarzen Kunst zur bunten Magie. — Lutz Franke (Hrsg.): Die Medienzukunft. Frankfurt/M., 1983 (GEP-Medien-Dokumentation 11), S.9 ff.; sowie im Vortrag Pross: Die Welt reduziert aufs Rechteck. — Zoom, Nr.3/1987.
(2) Herman Broch: Zur politischen Situation unserer Zeit. — Broch: Massenpsychologie. Schriften aus dem Nachlaß. Hrsg. von Wolfgang Rothe. Zürich: Rhein Verlag, 1959, S. 383. Vgl. auch Pross: Demokratie und Dritter Weg. — Lützeler/Kessler (Hrsg.): Hermann Brochs theoretische Schriften. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1987.
(3) Paul Virilio: Krieg und Kino. Logistik der Wahrnehmung. München, Wien: Carl Hanser Verlag, 1986.
(4) Ernst Cassirer: Vom Mythos des Staates. Hrsg. von Walter Ruegg. Zürich: Artemis Verlag, 1949, S. 360 ff.
(5) Vgl. Denis McQuail/Karen Siune (Hrsg.): New Media Politics. Comparative Perspectives in Western Europe. London: Sage, 1986.
(6) Harold Hurwitz: Die Stunde Null der deutschen Presse. Die amerikanische Pressepolitik in Deutschland 1945-1949. Köln: Verlag Wissenschaft und Politik, 1972, S.301 ff.
(7) Neuerdings: Vilém Flusser: Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft? Göttingen: Immatrix Publications, 1987. Helmut Glück: Schrift und Schriftlichkeit. Eine sprach- und kulturwissenschaftliche Studie. Stuttgart: Metzler, 1987. Erich Straßner: Ideologie-Sprache-Politik. Grundfragen ihres Zusammenhanges. Tübingen: Niemeyer, 1987.
(8) Leopold Schwarzschild: Zwei Despotien. — Das Neue Tagebuch: Paris, Amsterdam, 21. und 28.8.1937.
(9) Schon Alfred Adler hat auf die „verstärkte Fiktion als leitende Idee der Neurose“ hingewiesen und die Gier nach Geld und Macht in diesen Zusammenhang gestellt. Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. Wiesbaden: Bergmann, 1919(2), S. 31 ff.
(10) Vgl. Richard L.Merritt: Transmission of Values across National Boundaries. — Ders. (Hrsg.): Communication in International Politics. Urbana, Chicago, London: Uni Illinois Press, 1972. Pross: The Hierarchy of Political Values and their Communication. — Int. Pol. Sc. Rev. London, 1982, Vol.3 Nr.2.
(11) Dieter Wyss: Mitteilung und Antwort. Untersuchungen zur Biologie, Psychologie und Psychopathologie von Kommunikation. Göttigen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1976, S. 35 ff., S. 283 ff.
(12) Pross: Terminzwang und Signalökonomie. — Petri (Hrsg.): Sprachverfall, Sprache im Wandel, Was wid aus unserer Sprache. Bochum: Studienverlag Brockmeyer (=Schriftenreihe „Praktische Psychologie“, Bd. X), 1986, S. 245 ff.
(13) Jeremy Tunstall: The Media are American. Anglo-American Media in the world. London: Constable, 1977. Kaarle Nordenstrang/Herbert I. Schiller (Hrsg.): National Sovereignty and International Communication. Norwood N.J., 1979.
(14) Hertha Sturm: Das „Wie der Präsentation“. Methoden und Ergebnisse zu Wirkungen der formalen medienspezifischen Angebotsweisen. — Grewe-Partsch (Hrsg.): Mensch und Medien. München u.a.: Saur, 1987, S. 33 ff.
(15) Pross: Zwänge. Essay über symbolische Gewalt. Berlin: Kramer, 1981, S. 33 ff.
(16) Arbeitskeis Werbefernsehen der dt. Wirtschaft (Hrsg.): Europafernsehen und Werbung. Baden-Baden: Nomos, 1986, S. 177 ff.: Wolfgang Lehr: Anmerkungen zur Medienpolitik.
(16 A) Anfang Juni 1988 sehen die Zahlen schon ganz anders aus. Der DFB-Vorstand hat beschlossen, der Bertelsmann-Tochter Ufa die Fernsehrechte für drei Jahre zum Honorar von 135 Millionen DM zzgl. Mehrwertsteuer zu überlassen. Die Ufa garantiert für die Fußballübertragungen bereits für die kommende Saison 40 Millionen DM (s.Der Spiegel 22/1988, S. 214 f.)
(17) Philip Schlesinger: On national identity: some conceptions and misconceptions criticized. — Social Science Information. London, 1987, Vol. 26, Nr. 2, S. 219 ff.
(18) J.K. Galbraith: Anatomie der Macht. München: Bertelsmann, 1987, S. 207 ff.
(19) Arnold A. Rogow: Love and Intimacy: Mass Media and Phallic Culture. — Lasswell/Lerner/Speier (Hrsg.): Propaganda and Communication in World History. Vol. III A: Pluralizing World in Formation. Honolulu: University Press of Hawaii, 1980, S. 148 ff. Ähnlich: Herbert von Borch: Amerika — Dekadenz und Größe. München: Piper, 1981, S. 169 ff.
(20) Arnold Zingerle/Carlo Mongardini (Hrsg.): Magie und Moderne. Berlin: Guttandin + Hoppe, 1987 (deutsche Ausgabe von Mongardini: Il magico e il moderno. Mailand: Franco Angeli, 1983).
(21) Vgl. das Themenheft „Popular Music“ (ed. Andrew Goodwin) von Media Culture and Society. London: Sage, 1986, Vol. 8, Nr. 3 und Thorsten Hägerstrand: Decentralization and Radio Broadcasting: on the „Possibility Space“ of a Communication Technology. — European Journal of Communication. London: Sage, 1986, Vol. 1, Nr. 1, S. 7 ff.