Der Titel dieses Vortrages ist nicht von mir. Die Gastgeber haben die Metapher einem Essay des Kulturphilosophen Vilém Flusser entnommen, «Ins Universum der technischen Bilder», der 1985 zum ersten und 1989 zum zweiten Mal aufgelegt worden ist. Flusser führte darin sein Plädoyer «Für eine Philosophie der Fotografie» (19894) dort. So entbehrt es nicht einer gewissen Logik, daß er sich mit dem Zusammenhang von technischen und traditionellen Bildern befasst.
Der wissenschaftliche Diskurs baut auf Fortsetzung. Das schließt Wiederholung ein. Es geht dabei zu wie bei der «Echternacher Springprozession», in der die Gläubigen sich hüpfend fortbewegen, zwei Schritte vor, einen zurück, wieder zwei vor und so weiter. Gläubige hüpfen gern – , was man auch bei politischen Demonstrationen beobachten kann.
Auch Professor Flusser geht so vor. Sein Essay hüpft über fünf Stufen eines Modells, das die Kulturgeschichte und die «Entfremdung des Menschen vom Konkreten» versinnbildlicht. Sein Modell will nicht die Kulturgeschichte schematisieren, – «ein lächerlich naives Unterfangen» (Flusser, 1989/2, S. 10) – , sondern letztlich zeigen, daß die traditionellen Bilder das Resultat eines völlig andersgearteten Schritts zurück aus dem Konkreten sind, als die technischen Bilder. Es soll zeigen, daß die technischen Bilder völlig neuartige Medien sind, auch wenn sie in vielerlei Hinsicht an traditionelle erinnern mögen, und daß sie etwas völlig anderes als traditionelle Bilder ›bedeuten‹. Kurz, daß es bei ihnen tatsächlich um eine Kulturrevolution geht.
Flusser nimmt den Einwand vorweg, daß es nicht nötig sei, «zwei Millionen Jahre umfassende Hypothesen aufzustellen, wenn es nur darum geht, die traditionellen von den technischen Bildern zu unterscheiden. Es müsste doch eigentlich genügen, die technischen Bilder als jene zu definieren, die ihr Entstehen technischen Apparaten verdanken. Aber gerade diese eigentlich selbstverständliche Un-
terscheidung erweist sich als für die hier vertretene These ungenügend. Denn hier wird behauptet, daß wir der eben emportauchenden, von den technischen Bildern hervorgerufenen, abenteuerlich neuen Lebensform nur dann gerecht werden können, wenn wir versuchen, bis zu den Wurzeln unserers In-der-Welt-Seins zu tauchen. Angesichts dieser Radikalität ist die Weitschweifigkeit des vorgeschlagenen Modells unerlässlich.» (Ebd., S.11)
Soweit Vilém Flusser. Der Leser sollte sich durch die anschauliche Sprache nicht davon abbringen lassen, die Sprachbilder auf ihren diskursiven Gehalt zu überprüfen. «Emportauchen» und «bis zu den Wurzeln unseres In-der-Welt-Seins tauchen» geben gute Beispiele für die Beschränktheit der Versinnbildlichung: wie taucht man zu Wurzeln? Tauchen setzt Flüssigkeit voraus, wurz, Wurzeln, radix, Radieschen sind etwas im Erdreich verzweigtes. Wie tu ihnen hinunter «tauchen»? Ob abenteuerlich neue Lebensformen «emportauchen» oder sich «ausbreiten», ist eine Frage der Perspektive; aber wie können Bilder sie «hervorrufen»? Selbst bei den «technischen Bildern» sind Ton und Bild zweierlei, und wer zu den Wurzeln «tauchen» wollte, wäre bald am Ende seiner «Radikalität».
Ich errichte diesen Einwand, weil der Sprachgebrauch, auch wenn er sich bildlicher Übertragungen bedient, an die Differenzen von Wort und Bild gebunden bleibt.
Flussers Modell geht darum auch vom «Tauchen» auf «Hüpfen» über: «Die fünf Stufen der Leiter, welche aus dem konkreten Erleben der Umwelt ins Universum der technischen Bilder führt, sind voneinander durch Intervalle getrennt, die übersprungen werden mußten, Intervalle, die wir im Verlauf unseres Lebens auch tatsächlich immer wieder in beiden Richtungen der Leiter überspringen müssen. Bei jedem dieser Sprünge wechseln wir aus einem Universum in ein anderes, und es soll nun versucht werden, sie im einzelnen, Schritt für Schritt, zu bedenken.« (Ebd., S.11)
Das Bild der Leiter impliziert die Symbolik von oben und unten. Oben ist in der Regel positiv bewertet, unten negativ, Menschen steigen auf. Von oben kommen die Götter (Pross, 1981, S.11 ff.). So liegt auch hier der Anfang unten: Aus einer vierdimensionalen Raumzeit streckt der Mensch seine Hand gegen die Welt. Die «Handlung abstrahiert das Subjekt aus der Lebenswelt, klammert es aus ihr aus, und was übrigbleibt, ist das dreidimensionale Universum [m.H.] der zu fassenden Gegenstände, der zu lösenden Pro-
bleme. Dieses Universum der Objekte kann nun vom Subjekt umgeformt, ›informiert‹ werden. Kultur ist die Folge.» (Flusser, 19892 S.11)
In einem zweiten Schritt auf der Leiter überblickt der Mensch ein weiteres Feld als die Hände fassen: «Weltanschauung». Er kann Zusammenhänge erkennen, sie der Handlung vor-stellen. «Es geht um ein Abstrahieren der Tiefendimension aus dem Umstand, und dank ihrer entsteht eine zweidimensionale, imaginäre Region zwischen Umstand und Subjekt: das Universum der traditionellen Bilder.»
In einem dritten Schritt nennt Flusser das Wechselverhältnis der Bedeutungen von Vorstellung und Umstand «magisch». «Das Fassen und Verändern der Umwelt durch Bilder hindurch ist eine magische Handlung» – Um die Handlung zu «ent-magisieren», muß man die Bildfläche «zerfasern» zu Zeilen. Die Eindimensionalität der Zeile ergebe dann «das konzeptuelle Universum der Texte, der Rechnungen, der Erzählungen und Erklärungen, welche als Projekt für nichtmagisches Handeln dienen.» (Ebd., S.12) Bild und Text sind Vermittlungen, im Falle der Texte durch konventionelle Regeln der Rechtschreibung, «die auch anders sein könnten».
Mit dieser Erkenntnis zerfallen schließlich die Fäden und kollern die Begriffe auseinander. Und zwar zerfällt der zu beschreibende Umstand zu einem Schwarm von Partikeln und Quanten und das schreibende Subjekt zu einem Schwarm von Informationsbits, Entscheidungsmomenten und Aktomen. Übrig bleiben dimensionslose Punktelemente, die weder fassbar noch vorstellbar, noch begreifbar sind – unzugänglich für Hände, Augen, Finger. Aber sie sind kalkulierbar (›calculus‹= Steinchen) und können mittels spezieller mit Tasten versehener Apparate gerafft (›komputiert‹) werden.» (Ebd. S.13)
Die mosaikartigen Raffungen solcher Punkteelemente bezeichnet Flusser als «technische Bilder»: «Dieses eben entstehende Universum, dieses dimensionslose, eingebildete Universum der technischen Bilder soll den Umstand begreiflich, vorstellbar und fassbar machen.» Der Unterschied zwischen traditionellen und technischen Bildern bestünde darin, daß die ersteren Anschauungen von Gegenständen, die zweiten «Komputationen von Begriffen» sind. «Die ersten entstehen durch Imagination, die zweiten durch eine eigentümliche Einbildungskraft, nachdem das Vertrauen zu den Regeln verloren gegangen ist.» (Ebd., S.13)
Nimmt man Flussers Modell der Leiter an, so ergibt sich von der höchsten Sprosse, daß Punktelemente kalkuliert und komputiert werden (müssen), weil das Vertrauen in die texte abhanden gekommen ist. Sie sind unanschaulich geworden. Das Universum des «Kalkulierens und Komputierens» soll besser als die Mediationen von Bild und Text «den Umstand begreiflich, vorstellbar und fassbar machen». Dazu ist freilich «eine eigentümliche Einbildungskraft» erforderlich. Da diese eigentümliche Kraft das Motiv des engagierten Autors ist, widmet er ihr anschließend viele Seiten, um sie von der sozusagen gewöhnlichen Imagination abzugrenzen.
Auf diesem kurvenreichen Weg möchte ich ihm nicht folgen, sondern nach der Methode «Echternach» auf seine Anfänge zurückgehen. Wenn das «Universum der technischen Bilder» tatsächlich, wie Flusser schreibt, eine «Kulturrevolution» bedeutet, wäre zu fragen, was das Universum und die Kultur miteinander zu tun haben und welche Rolle die als «technische» definierten Bilder in einer solchen Revolution spielen könnten.
Das «Universum» ist wörtlich das in Eins gewendete, das allumfassende, das Weltall. Von einem Weltall der Bilder zu sprechen, macht keinen rechten Sinn, weil die Bilder, – wie immer sie definiert werden –, partielle Präsentationen sind, Ausschnitte, Menschenwerk und nicht der Natur zugehörig, ohne die «Universum» nicht denkbar ist.
Ein «Universum der Bilder», egal ob «technischer» oder «traditioneller» ist eher als «Mikrokosmos» zu bezeichnen, weil der Ausdruck «Kosmos» den Aspekt der Ordnung schon beinhaltete, ehe er von den Griechen aus ihrer Vorstellungswelt auf das Unvorstellbare übertragen wurde. Aber auch diese Überführung sozialer Rangvorstellungen auf das Weltall sah sich der Schwierigkeit gegenüber, daß da immer noch etwas anderes war, als das mit den Mitteln der Menschen Erfassbare.
Wie Flusser in seinem kulturgeschichtlichen Aufbau mit der Hand beginnt, argumentierten die ersten Kosmopoliten von diesem Anderen her zurück auf die Politik. Der Sophist Antiphon begründete die Gleichheit von Barbaren und Hellenen von der Natur her: «Atmen wir doch alle insgesamt durch Mund und Nase in die Luft
und essen wir doch alle mit Hilfe der Hände!» (A. Horstmann, 1976, S. 1155) Es ist hier nicht der Ort und nicht die Zeit, die Begriffsgeschichten von «Universum» und «Kosmos» weiterzuverfolgen. Doch möchte ich im Unterschied zu Flusser im folgenden daran festhalten, daß der erste Schritt auf seiner Leiter, der ihm «das dreidimensionale Universum der zu fassenden Gegenstände, der zu lösenden Probleme», durch die Abstraktion des Subjekts mittels Handlung einbringt, das, was Universum genannt wird, unzulänglich beschränkt. Er nimmt das andere, das Außermenschliche, in die Abstraktion hinein; aber das heißt nicht, daß es mit ihr alterte oder veraltet. Das Weltall, eben das «Universum», verändert sich nicht, weil wir uns ein Bild von ihm machen. Die Sache bleibt, was sie ist, auch wenn die Abstraktion sich wandelt.
Oder, um in der Gegenwart kosmopolitischen Philosophierens zu enden: «… welchen Rang nimmt der Mensch im Ganzen des von Natur aus Seienden ein? Vermutlich einen sehr untergeordneten, gemessen am Ganzen der physischen Welt. Denn diese lässt sich ohne eine ihr wesentliche Beziehung zum Dasein von Menschen denken, aber kein Mensch ist denkbar ohne Welt. Wir kommen zur Welt und wir scheiden aus ihr; sie gehört nicht uns, sondern wir gehören
zu ihr. Diese Welt der Natur ist immer sie selbst und sie verändert sich nicht nach Maßgabe unserer wechselnden Weltauslegungen. Sie war zur Zeit des Aristoteles dieselbe wie zur Zeit von Newton und Einstein. Die Welt der Natur lässt sich überhaupt nicht verhältnismäßig aus unserem Verhalten und Verstehen zureichend bestimmen. Die elementare Natur zeigt sich uns zwar besonders aufdringlich im Verhältnis zu einer vom Menschen kultivierten Umgebung, aber die Elemente selbst, etwa die Macht von Feuer und Wasser, lassen sich nicht im Ausgang von einer Flussregulierung oder einer Heizanlage angemessen verstehen.» So Karl Löwith 1969 in seiner Kritik an Heideggers Seinfrage: «Die Natur des Menschen und die Welt der Natur». (K.Löwith, 1984, S. 287)
In den seitdem vergangenen zwei Jahrzehnten hat die Kultivierung der elementaren Natur durch den Menschen rasche Fortschritte gemacht und die «elementare Natur» zu noch aufdringlicherer Reaktion gezwungen. Ich gebe nur die Schlagworte «Ozonschicht», «Waldsterben», «Bevölkerungsexplosion», die nun ihrerseits die interessierte Menschheit nötigen, sich ein Bild von ihrer Wirksamkeit zu machen. Bevölkerungsexplosion, Ozonschicht, Waldsterben, Umweltschutz sind menschliche Antworten auf Mitteilungen der Natur, die zur Korrektur der «Weltauslegung» drängen; aber eben
Mitteilungen und Antworten und nicht im Entferntesten das Universum. Was sich freilich geändert hat seit den Anfängen des Menschen ist auch nicht seine Natur mit ihrer dünnen haut und deren Wahrnehmungsmöglichkeiten, sondern die Techniken zur Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Weltteil, den wir als Umwelt bezeichnen.
Zu den Techniken der Auseinandersetzung des Menschen mit der Umwelt gehören die Bilder, angefangen mit Bildern in der Vorstellung, von deren Beschaffenheit bei Früheren wir nichts wissen, bis zum Mikrokosmos des Kalkulierens und Computierens in unseren tagen. Bilder setzen allemal Technik voraus. Es gibt außerhalb der Vorstellung keine nichttechnischen Bilder. Ob in Altamira an die Höhlenwand gemalt, ob irgendwo in Rinde geschnitten, ob, wie bei den frühen Christen, der mit den Füssen in den Sand gezeichnete Fisch: Ohne Technik kein Bild. Dabei kann Technik beladen sein mit der Geschichte ihrer Entwicklung von der Mechanik bis zur Elektronik und darüber hinaus, oder einfach, wie im griechischen Ursprung des Wortes, Handwerk, Kunst, Fertigkeit, Wissenschaft
heißen. Techniken werden überliefert, neue werden erfunden, weil jemandem etwas einfällt, daß dies oder jenes anders gemacht werden könnte als bisher. Marx sprach in seiner Vorliebe für Architekturmetaphern vom Plan im Kopf des Baumeisters, Heisenberg erzählte von bildhaften Vor-Stellungen in der Quantenmechanik.
Wohl gibt es traditionelle Techniken des Bildens und neue Techniken. Der Mikrokosmos der Bilder umfasst sie mit- und nebeneinander, wie die Natur des Menschen archaische und erworbene Eigenschaften in jedem Individuum versammelt, und so garantiert, daß die Menschheit als Ganzes nur langsame Fortschritte macht, wenn überhaupt (Saage, 1990, S. 183f.). Unter dem Gesichtspunkt technischer Verbesserung von Mordwerkzeugen betrachtet, ist die Atombombe ein ungeheurer Fortschritt gegenüber der Keule des Steinzeitmenschen; aber das heißt nicht, daß damit der Totschlag mit Stein, noch das Ritual der Steinigung aus dem menschlichen Instrumentarium verschwunden wären. Die neue Technik hebt die alte nicht auf, sie relativiert deren Stellenwert.
So verhält es sich auch mit den Bildern. Die elektronischen Bildproduktionen sind ein ungeheurer Fortschritt gegenüber der Technik der Höhlenmalerei; aber deshalb bilden sie noch lange kein «Universum», und wenn, wie behauptet (Flusser, 19892, S.97), jemals «immer kompetentere Apparate zu immer kompetenteren Menschen» führen sollen, so beschränkt sich diese Kompetenz auf den Umgang mit den betreffenden Apparaten. Damit ist über den «Rest der Welt» gar nichts ausgesagt, weder über die Natur des Menschen, noch über das Universum oder über das Weltall.
Bilder sind Kommunikationsmittel. Das heißt, sie thematisieren etwas, sie machen etwas anschaulich, das dem menschlichen Austausch, der Beobachtung, dem Gefühl, kurz den Sinnen zugänglich ist. Daß Bilder ein Thema veranschaulichen, geschieht unter Verzicht auf die Wahrnehmungsmöglichkeiten der anderen Sinne, wie Geruch, Geschmack, Gehör. Diesen Mangel suchen wir instinktiv zu korrigieren, wenn wir etwa ein Bild betasten. Anders ausgedrückt: Die Anschaulichkeit des Bildes provoziert den Wunsch, seine sinnlichen Mängel zu kompensieren.
Je vollkommener die präsentierten Formen erscheinen, desto stärker das Bedürfnis nach Kompensation bis zu jenen seltenen Graden der Vollkommenheit, die man «überwältigend» nennt, weil sie die anderen Sinne überwältigt. Alltägliches Beispiel: Der sexuelle Blickfang in der Reklame. Dann kommt das Bild momentanen Naturerfahrungen gleich. Es absorbiert alle Aufmerksamkeit des Betrachters, denn es gehört zum Wesen der Aufmerksamkeit, daß sie selektiv ist (Gombrich, 1984, 15 ff.). Das gelingt über Techniken der Farbkombination und der Illusion von Tiefe und Bewegung auf einer flachen Leinwand, einem flachen Papier, einem Film oder bemalten Glas.
Dabei wirken die Anschauung und im Gedächtnis gespeicherte, frühere Eindrücke zusammen. Das können primäre Erlebnisse gewesen sein, oder Konstellationen von visuellen Zeichen, einmalige oder schematisierten. Anschaulichkeit verwandelt sie in mehr oder weniger gute alte Bekannte, wenn das Bild ein Motiv wiederholt.
Motiv hat etwas mit movere (=bewegen) zu tun, und wenn es «anspricht», bewegt sich Erkennen zwischen der konservierten Vorlage und dem Wahrnehmungsapparat des Schauenden hin und her. Einfache Formen, die im visuellen Alltag tausendmal vor-kommen und übersehen werden, erleichtern das Wieder-erkennen, in-
dem sie die verwirrende Vielfalt unserer visuellen Wahrnehmungen reduzieren. Die Natur auf den Strich gebracht wie Kinder Männchen malen: Der leicht erlernbare Kodex der Piktogramme. Sie tragen dazu bei, aus einer chaotischen Welt einen verkehrsfähigen Kosmos zu machen, der über kulturelle Grenzen hinweg verständlich ist.
Soll man diese Piktogramme nun «technische Bilder» nennen in einem Sinn, der über die technische Voraussetzung jedes Bildens hinausgeht? Ich glaube nein. Denn Piktogramme sind traditionalistisch par exellence. Sie zielen auf die gemeinsamen Geburtserfahrungen aller Menschen von innen und außen, oben und unten, hell und dunkel in vereinfachter Darstellung. Psychologisch betrachtet, kehren sie zu Mitteln nonverbaler Verständigung vor dem Spracherwerb (Spitz 1976, S.17; Piaget, 1975, S. 84ff.) zurück. Ihre wunderbare Vermehrung in jüngster Zeit soll hauptsächlich dazu beitragen, in einer Gesellschaft erleichterter und erweiterter Verkehrsbedingungen Sprachbarrieren zu überwinden.
Piktogramme sind die Eselsbrücke für jedermann in eine hochtechnisierte Umwelt; aber nicht grundsätzlich verschieden von archaischen Zeichen, die elementare Funktionen kenntlich machen
(Bentele 1982, S. 226 ff.), «traditionelle» Bilder also, bezogen auf die Auseinandersetzung von Gruppen mit ihrer Umwelt.
Das Universum wird durch Symbole ausgegrenzt, die Gefahr für Leib und Leben bedeuten, wie der stilisierte Totenkopf auf der Giftflasche, am unbeschrankten Bahnübergang, oder ältere Beispiele der Todes- und Türsymbolik. Auch die Rede vom «Universum der technischen Bilder» ist eine solche Ausgrenzung, indem sie Um-Welt für Weltall setzt und damit zu technokratischen Schlussfolgerungen gelangt.
Diese wiederum kann man als Nachgeburt des göttlichen Gebotes an die Menschen verstehen, sich zu mehren und sich die Erde Untertan zu machen. Ob Luther das richtig übersetzt hat, ist eine andere Frage, jedenfalls findet sich die Stelle in der Schöpfungsgeschichte, als die Erde «wüst und leer» war, also synchronisiertes Handeln zur Kulturförderung angemessen (1.Mose:1.28).
Was immer Judentum, Christentum und Islam daraus gemacht haben, es war und ist – einschließlich der aktuellen Vermischung von Ölinteressen und Religionskrieg – Ausbeutung der Naturkräfte für menschliche Zwecke und geht so fort. Die Piktogramme des
Todes sind insofern «technische Bilder», auch wenn ein Korporal in der Wüste sie mit der Hand vor ein Minenfeld malt.
Verglichen mit den Piktogrammen erfordern Fernsehbilder ungleich größeren Aufwand an Technik. Um Piktogramme wahrzunehmen, brauchen wir kein eigenes Gerät. Nur der Hersteller muß zumindest einen Stift oder Pinsel haben. Aber das Fernsehen braucht außer Aufnahme- und Sendetechnik in doppelter Ausstattung für Bild und Ton, eben solche Empfangstechnik. Ich rechne es zu den tertiären Medien im Unterschied zu den elementaren Kommunikationsmitteln, die kein Gerät nötig haben, und den sekundären, die nur auf der Kommunikatorenseite Geräte aufwenden (Pross 1972). Auch ist mit der Verbreitung der TV-Technik über den Globus mit Satelliten einerseits und Solarempfängern andererseits die Erde wohl bald mit einem TV-Netz überzogen; Europa muß aufpassen, daß es nicht ausschließlich von den Japanern installiert und von den Amerikanern gespeist wird (Tenbruck 1989). Wer über die Netze verfügt, bestimmt auch den Inhalt (Reck 1988; Pross 1988, S. 38 ff.). Medienpolitik ist der Kampf um die Zugänglichkeit von Medientechnik.
Insofern liefert das Fernsehen «technische Bilder». Was aber teilen sie mit? Was wir als Besitzer eines oder mehrerer Bildschirme erkennen können, ist technisch aufbereiteter Traditionalismus, nicht mehr und nicht weniger.
Als ein Symbolsystem betrachtet (Pross 1985, S. 153 ff.), reduziert das Fernsehen die Welt aufs Rechteck (Pross 1987, S. 2ff.). Der Rahmen verweist den Blick des Zuschauers nach innen. Der Mittelpunkt ergibt sich aus der Kreuzung gleichmäßiger horizontaler und vertikaler Abstände zum Rand. Die obere Hälfte ist traditionell positiv besetzt, weil traditionell «höher» bewertet wird, was oben ist. Diese Höherbewertung des Oberen im Bild entspricht der elementaren Bewertung des aufrechtgehenden Hominiden. Alle sozialen Wertsysteme sind hierarchisch von oben nach unten gegliedert, und so glauben wir sehr wohl zu «wissen», was im Bild richtig ist und was falsch, wenn nur das, der, die, oben sind, die nach der jeweils oktruierten Norm nach oben «gehören» und wenn nichts «schiefläuft» oder «verrutscht».
Das vergangene Jahr der schönen Täuschungen, 1990, hat sich auch durch Denkmalstürze und Bilderstürme als ein solches erwiesen. Abgeschafft wurde nicht die Hierarchie der Werte, sondern ihre Stufen wurden anders besetzt. Wie ich höre, soll statt des Sowjetsterns jetzt der Mercedesstern Berlin überstrahlen.
Es wäre falsch, diese «Wende» als eine bloß symbolische gering zu veranschlagen. Oben und unten sind Koordinaten der menschlichen Orientierung, und wie wir, worauf Gombrich (1984, S. 19) im Zusammenhang mit der perspektivischen Verkleinerung hingewiesen hat, sehr genau «wissen», ob ein Bild «richtig» aussieht oder nicht, «wissen» wir auch, ob eine Sequenz auf dem Bildschirm «richtig» abläuft oder nicht. Der ungeheure technische Aufwand von der Selektion der Szene über Beleuchtung, Tonführung, Kameraeinstellung, Schnitt, Senderegie beruht auf solchem Vor-Wissen, das wertorientiert ist, zutiefst konventionell, eine wortgesteuerte Kette von weiteren Selektionen.
Was am Ende dabei in zunehmender Verkürzung unter dem Diktat der Signalökonomie (Pross 1989, S. 151 ff.) dem Zuschauer visuell wahrnehmbar wird, ist mitunter nicht mehr intelligibel. Hertha Sturm hat mit ihren Experimenten festgestellt, daß die Dramaturgie dem Rezipienten sogar die Halbsekunde streicht, die er nötig hätte, um den visuellen Eindruck innerlich zu benennen. Sie wird vermutlich in dieser Vorlesung selbst darauf zu sprechen kommen.
Laufbilder, wie sie den Film, das Fernsehen und Videotechnik definieren, bringen den Betrachter in die unangenehme Situation, ihnen mit den Augen folgen zu müssen. Zu «glotzen». Wie die Er-
scheinungen der elementaren Welt sind sie ständig in Bewegung; aber der Zuschauer ist nicht frei, den Blick schweifen zu lassen. Deshalb eignen sich Laufbilder weit besser als statische Bilder oder die zum Bild geronnene Sprache, die Schrift, dazu, Spannungen zu erzeugen.
Der Ausdruck «Spannungsindustrie», den der österreichische Dichter Hermann Broch vor vier Jahrzehnten im amerikanischen Exil gefunden hat, trifft den politisch-wirtschaftlichen wie den psychologisch-ikonologischen Aspekt dieser Technik (Broch 1956, S. 383). Für ein Wirtschaftssystem, das darauf gründet, immer neue Konsumbedürfnisse wecken zu müssen, ist es ganz unerlässlich, das Kaufvolk in Spannung zu halten. Die innere Spannung, die sich aus der mangelhaften physiologisch-psychologischen Ausstattung des menschlichen Organismus ergibt, darf in einem solchen System nicht zur Ruhe kommen. Schon ihre momentane Kompensation muß neue Bedürfnisse wecken und deren Erfüllung in Aussicht stellen.
Das heißt, daß das «diffuse Mangelerlebnis» (Wyss 1975, S. 284 f.) auf wirtschaftlich-politisch antizipierte Bedürfnisse hin selektiert wird. Der Zuschauer soll im Endeffekt die Produktion mit den Mitteln des Konsums fortsetzen und in Schwung halten. Die erweiterte «menschliche Kompetenz» ist die Kompetenz des Tretrades, das die vielen für die wenigen in Schwung halten, indem sie neue Bedürfnisse entwickeln.
Das geht weit über Adornos mit der Metapher von der «Kulturindustrie» (Adorno 1932) geäußerten Befürchtungen hinaus, weil die elektronische Revolution die permanente Verbindung des Laufbildes mit dem kalendarischen Ritual hergestellt hat, der synchronisierten Voraussetzung jeglicher Kultur. Die tägliche, stündliche, minütliche Interpretation des Kalendariums durch die elektronischen Medien macht die Welt zwar nicht zum «globalen Dorf» (McLuhan), aber jegliches Dorf zum Wirkungsfeld eines globalen Netzes verwirrender Mitteilungen und verringerter «Dingkonstanz» (Bischof 1974).
Die technischen Fortschritte «im Zeichen des Blitzes» (Pross 1982, S. 96 ff) drängen auf größere Reichweiten. Sonst rentieren sich die hohen Investitionskosten nicht. Um Gewinn zu machen, müssen möglichst viele Einzelmitteilungen in möglichst kurzer Zeit an möglichst viele Leute gehen. Diese Einzelmitteilungen müssen deshalb zeitlich reduziert werden und in ihrer Aussage soweit schematisiert, daß sie über sprachliche, kulturelle, ökonomische und politische Grenzen hinweg anschaulich sind und wie aus der je eigenen Umwelt erscheinen können. Damit ein solches «Wiedererkennen» im Niegesehenen erfolgen kann, muß das Thema in überall vorkommenden Formen dargestellt werden. Im Zeitalter der Satelliten ist Fernsehen ubiquitär oder nicht; aber Ubiquität ist nicht gleich Universalität. (Charguff, 1990).
Welche Formen kommen in der flüchtigen Welt wechselnder Farben und Gestalten überall vor? Natürliche, also psycho-physiologische Konstanten wie Sexualität, Emotionalität, Kognitive Differenzen. Die Fernsehgestalt des Menschen ist in Größe, Farbe, Bau verschieden; aber der Bewertungsrahmen, dem der rechteckige Bildschirm vorgibt, ist und bleibt binär, von den Oppositionen innen-außen, oben-unten, hell-dunkel programmiert. Das hat zur Folge, daß das Paar die Szene dominiert, und im Grunde geht es immer darum, wer oben und wer unten endet.
Das sind, wie wir aus der Kulturgeschichte wissen, althergebrachte Schemata, in Jahrtausenden eingeübt und durch die Literatur, Kunst und vor allem Geschichtsschreibung vorgeführte Strichmännchen, mit denen die Menschheit sich selber unterhält, im mehrfachen Sinn dieses Wortes. Ob man das Fernsehen unter diesem Aspekt aus dem Kosmos der traditionellen Bilder herausnehmen kann, erscheint doch zweifelhaft. Zwar hat sich das Jahrmarktsvergnügen zu einem Alltagsmarkt erweitert, aber man spielt die alte Leier: Hominiden-Show-Business (Pross 1990, 54 ff.).
Der Guckkasten des Fernsehgeräts ändert, wie ich höre, bald seine äußere Erscheinung. Das ist wohl nötig, denn der Markt nähert sich der Sättigung. Die Industrie muß neue Bedürfnisse vor Augen führen. Beim Rechteck soll es wohl bleiben. Es ist nicht nur eine dominante Form unserer Gesamtkultur, es gibt in seiner geschlossenen Form auch die schon erwähnten Möglichkeiten leichter Einordnung. Die flüchtigen Ereignisse einer chaotischen Welt, die unser visuelles und erst recht unser Erkenntnisvermögen weit überfordern, tagtäglich zur gleichen Stunde einem Kästchen zu entnehmen, stabilisiert den Bürger ähnlich wie eine von Montag bis Sonn-
tag eingeteilte Arzneikassette mit ihren Guckkästchen seinen Pillenverbrauch. Der Anschein, dabeigewesen zu sein, wenn das separierte Paar Bush und Hussein in die je eigene Kamera schimpft, oder die Türsymbolik des Bundeskanzleramtes an wieder einem nicht zu seltenen «historischen» Tag geschaut zu haben, befriedigt das Interesse mit «Schlagbildern» (Pross 19892, S. 55 f.)
Für die Unbefriedigten entwickelt die Technik zusätzliche Verwendungsmöglichkeiten selbst tätig zu werden, technische Bilder selbst zu produzieren, die «Einbahnstraße» fernsehen für den Gegenverkehr zu öffnen. Der Zuschauer kann etwa zwischen verschiedenen Kameraeinstellungen auf verschiedenen Kanälen hin und her schalten. Kinder werden mit präparierten Spielzeuggewehren vors Gerät gesetzt, die auf bestimmte Farben auf dem Bildschirm reagieren usw. Gemischte Verwendung von TV und Video ist eine andere Versuchsanordnung, die neue Kombinationen ermöglicht. Es scheint aber, daß sie technisch sehr aufwendig sind und im Effekt eine Geldfrage. Für «Interaktive Elektronische Systeme (IES)», die sich wachsender Beliebtheit erfreuen, stellt sich «überraschen heraus, daß die zentrale Konzeptionsstrategie schwerpunktmäßig nicht technologiegestützt, sondern organisations- und finanzgestützt durchzuführen ist. Das System ist nicht ›technologically‹ sondern
›organizationally an drivenfinancially‹!» So Systemprojektmanager Lazak von der Siemens AG (Lazak 1990, S.3).
Seine Überraschung könnte darauf hindeuten, daß der technische Apparat zu groß geworden ist, um den Signalaufwand für die Einzelmitteilung noch verringern zu können. Dann wären die IES freilich an der absurden Mauer der Kommunikation angestoßen und das Prinzip verletzt, durch angemessene Signale dem Kommunikator Zeit und Energie bei der Interaktion «einzusparen» (Pross 1989, S. 151 ff.). Es gibt eine Art Wohlstandstechnik in unserer Gesellschaft, den Schmerbäuchen ihrer Bürger vergleichbar. Warum sollte sie in der expandierenden Kommunikationsindustrie ausbleiben? Aber das ist zunächst nur eine Frage.
Sie stellt sich auch in der Unterhaltungselektronik. Interaktives Fernsehen, wie «CyberTV – Die Glotze lebt» (MACup, 12/90), steht vor der Schwierigkeit, daß der Zuschauer erst lernen muß, aktiv fernzusehen. Er muß über die Kompetenz des Knopfdrucks an der Fernbedienung hinaus technische Kombinationen handhaben können und die Themen erfassen. Ohne Thema kann man nicht kommunizieren, und so lange die Technik der Übertragung das Thema ist, bleibt keine Zeit für die Inhalte. Kreuzschienen, Grafik-
Computer, Videomixer, Audiomixer, Cameras und Bildtelefone sind interessante Themen und zugleich interessante Geräte von unbestreitbarer Konstanz; aber sie erfordern eine Fachsprache zum Verständnis. Wo soll da die Aufmerksamkeit für den Fluß der Symbole herkommen? Beides, technische Perfektion und thematische Inspiration macht den Künstler; aber nichts berechtigt zur Annahme, daß die elektronische Technik Künstler in Mengen heranziehen könne, die auch nur im entferntesten der Menge passiver Zuschauer gleichkäme, was doch die Voraussetzung für die von Flusser u.a. angekündigte Revolution der Vorstellungswelt wäre.
Unbestreitbar nimmt mit dem Einsatz von Computern am Arbeitsplatz und dem ökonomischen Druck der Industrie, das Arbeitsgerät relativ weniger auch als Freizeitobjekt vieler zu popularisieren, die Zahl der Computer-Fans zu. Ähnlich hat die der Sport-Fans zugenommen, seitdem der Berufssport zu einem Teil der Spannungsindustrie im Solde der Wirtschaftswerbung geworden ist. Beides dient als Leistungsanreiz.
Zweifellos beeinflusst dieser wirtschafts-technische Prozeß die Gesamtkultur. Sie integriert Quantitäten wiederholter Zuwendung in periodische Abläufe und wandelt mit ihren Ritualen sich selbst.
Das berechtigt jedoch noch lange nicht, von einem «Universum der technischen Bilder» zu sprechen. Das Universum hat sich nicht durch die Erfindungen von Hertz, Zuse, benz, Daimler und Maybach, nicht einmal durch den Supermarkt und die Kern-Spaltung verändert. Was sich geändert hat und weiter verändern muß, sind die menschlichen Verkehrsformen.
Man kann sie nach den Mitteln elementarer Fortbewegung unterscheiden wie Boot, Wagen, Luftballon, Lokomotive, Auto, Flugzeug, Rakete und nach denen des Symboltransports. Jedesmal erhält man eine andere Epoche von Kultur, genauer gesagt, eine andere Interpretation des Kalenders.
Man kann sie aber auch an Mitteln des Symboltransports unterscheiden, wie Eingangs von Flusser zitiert, und man kann sogar mit dem selben Autor vom symbolischen Instrument des Computers behaupten, er versetze uns nicht nur in die Lage, die Welt zu zertrümmern, sondern auch, sie wieder zu computieren: «Wir sind an dem Punkt, wo wir alles in Bits zertrümmern können, und wir beginnen zu sehen, wie wir aus diesen Bits alternative Welten kreativ,
technisch herstellen können. Wir sind an dem Punkt, wo wir wieder einsehen, was wir seit Jahrhunderten vergessen haben, daß Technik und Kultur Kunst Synonyme sind, und daß wir als wir als homines fabri, die wir sind, homines ludentes sind, Künstler, Spieler.» (Flusser 1989, S. 20) Die Betonung liegt auf «wir».
Das sind in diesem Falle die Angehörigen einer Kultur, die sich auf die bilderfreudigen Hellenen und die wortgewaltigen Juden zurückführen lässt. Sie hat sich durch missionarischen Eifer über die Erde verbreitet und ihre inneren Widersprüche dazu.
Auch das Kalkulieren und Computieren hilft nicht über die «Antinomien der Öffentlichkeit» hinweg, wie sie Hirschfeld u.a. (D.Hirschfeld/B.Debatin 1989) jüngst analysiert haben. Bild bleibt Bild, auch wenn seine Produktionstechniken, wie in den neuen DM-Noten der Deutschen Bundesbank, Stichtiefdruck, Wasserzeichen, Sicherheitsfaden, Durchsichtsregister, Kippeffekt, Mikroschrift auf schmalem Rechteck vereinen (Deutsche Bundesbank, Faltblatt: Die neuen Gesichter der deutschen Mark 1990).
Es war ein großer Irrtum der Europäer, ihre technischen Fortschritte für universal zu halten. Sie haben damit viel Unheil angerichtet und erst recht ihre Auswanderer nach Amerika, die ihr Überleben hauptsächlich besserer Technik verdanken und dieses
Image mit politischem Anspruch verbanden (Hofmann 1988). Diese Perspektive hat die Euro- Amerikaner häufig dazu verführt, ihre technischen Errungenschaften für die Erfüllung ihrer «inneren Bilder» zu halten und auf diese Weise Wunsch und Vorstellung zu identifizieren. Deshalb sind sie mitsamt ihrer in die Technik investierten Rationalität immer wieder ins magische Denken zurückgefallen. Wir Deutsche sind dafür besonders anfällig. Nicht zufällig sind von dieser Stadt Berlin zwei Weltkriege ausgegangen. Sie setzten hohes technisches Können voraus, disziplinierte Arbeitskraft und risikofreudiges Kapital. Darüber aber ideale Bilder von der Realisation dieser Möglichkeiten.
Flusser hat schon recht: der homo ludens und der homo faber sind identisch. Zum Jahreswechsel erhielt ich unter anderen eine Glückwunschkarte der Wissenschaftlichen Verlagsgesellschaft, die auf dunkelblauem Karton eine punktierte gelb, weiß, ocker und hellgraue Konstruktion zeigte, die wie ein Kirchenfenster aussah. Darunter die Zahl 1991, die ja graphisch sich besonders harmonisch ausnimmt. Innen aber unter dem Glückwunsch die verbale Erklärung: «Nicht ein Kirchenfenster, sondern eine DNA-Helix der Form B zeigt unsere Abbildung (Computersimulation). Die Blickrichtung ist entlang der Helixachse (d.h. Aufsicht auf ein Helixende).
Die Pyrimidin- und Purinbasen bilden die Struktur der inneren Kreisfläche mit blauen und weißen Atomen. Die Strukturen des äußeren Kreises stellen die Zuckerreste und die Phosphatgruppen dar (weiß, Rot, Orange). Um diese Strichformeln herumgelegt ist ein Punkteraster, das einen Ausschnitt aus der von der Waals-Oberfläche des Gesamtmoleküls zeigt. Die allgemeine Farbcodierung der Atome ist: Kohlenstoff= weiß; Sauerstoff= rot; Phosphor= orange; Stickstoff= blau. Wasserstoffatome wurden der Übersichtlichkeit halber weggelassen. Die Abbildung verdanken wir Priv.-Doz. Dr. G. Folkers vom Pharmazeutischen Institut der Eberhard-Karls-Universität Tübingen.»
Ich zitiere das hübsche Spiel zum Jahreswechsel, weil es, wie dessen Feier selbst, belegt, daß der identische Homo faber-ludens von Natur ein «animal symbolicum» ist, wie Ernst Cassirer ihn genannt hat, ein Tier, das keinen unmittelbaren Zugang zur Natur hat, sondern nur über Zeichen mit sich und der Welt verkehren kann (Cassirer 1944, dt.1990, S. 47 ff.).
Dieser Umstand – ich glaube eher, es ist ein Mangel – verführt die Gattung immer wieder dazu, die Zeichen für die Sache selbst zu halten. Die Gefahr ist die gleiche bei Höhlenmalereien und Hologrammen, bei Handschriften und bei Bildschirmtexten, und sie wird größer, je mehr Menschen an Kommunikationen teilnehmen, deren Technik ihnen undurchschaubar bleibt. Der Analphabetismus nimmt in den Industriegesellschaften zu; aber ich habe nirgends gelesen, daß die Unfähigkeit schwindet, die steigende Flut bildlicher Präsentationen aus ihrer Machart zu verstehen. Der visuelle «Analphabetismus» nimmt nicht schon deshalb ab, weil fernsehen, Amateurphotographie, Video und die Bilder in Presse und Werbung sich vermehren.
Umso wichtiger scheint mir die rationale Forderung, Bild und Sache scharf zu trennen. Zwar ist das Zeichen als Voraussetzung der Benennung auch der Anfang des Erkenntnisvorgangs; aber eben nur der Anfang und nicht die Sache selber. So auch die Metapher vom «Universum der technischen Bilder».