Der Kulturhistoriker Aby Warburg hat 1919 «Die heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten» untersucht und dabei Folgendes geschrieben: «Die Furcht vor den wahrsagenden Naturwundern am Himmel und auf Erden, die ganz Europa teilte, wurde durch die Tagespresse in ihren Dienst genommen: war schon durch den Druck mit beweglichen Lettern der gelehrte Gedanke asiatisch geworden, so gewann jetzt durch die Bilderdruckkunst auch die bildliche Vorstellung, deren Sprache noch dazu international verständlich war, Schwingen, und zwischen Norden und Süden jagten nun diese aufregenden ominösen Sturmvögel hin und her, während jede Partei versuchte, diese «Schlagbilder» (wie man sagen könnte) der kosmologischen Sensation in den Dienst ihrer Sache zu stellen.»
Warburg wollte mit seiner Untersuchung von «Reformation, Magie und Astrologie» sichtbar machen. «Die Renaissance der dämonischen Antike im Zeitalter der deutschen Reformation», quasi als Vorarbeit zu einem «fehlenden Handbuch ‹Von der Unfreiheit des abergläubischen modernen Menschen› –». Er stellte seinem Text zwei Zeilen aus Faust II voran: «Es ist ein altes Buch zu blättern: Vom Harz bis Hellas immer Vettern.»
Luthers Zeiten waren auch die Zeiten des historischen Dr. Faust, und die Reformation publizistischer Teil einer Flut von Bilddrucken und Flugblättern, die als «neue Medien» Europa überschwemmten. Freilich war der Bilddruck zuerst da, und was Warburg «Tagespresse»nennt, setzen wir heute mit dem Beginn der periodisch erscheinenden Presse später an, als mit «Luthers Zeiten». Das ändert nichts an der Feststellung vom «asiatisch» gewordenen Gedanken und dem Bestreben der Parteien, durch «Schlagbilder» die «kosmologische Sensation in den Dienst ihrer Sache zu stellen. Auch ist gut, daran zu erinnern, daß Gutenberg einen astronomischen Kalender und das Gedicht vom Weltgericht druckte und seine Kunst durchaus die Ängste und Hoffnungen seiner Zeit verbreitete, nicht nur das biblische Wort. Der bilderfeindliche Purismus war
Gutenberg fern. Reformation und Gegenre-Formation sind nicht nur Kämpfe mit dem Wort, sondern auch mit Bildern gewesen, die jede Partei in den Dienst ihrer Sache stellte. Aus der Gegenreformation entwickelte der Katholizismus die plastische und Bilderpracht des Barock, der Protestantismus die augenabgewandten Künste seiner Kirchenmusik und des Wortes.
In den fünf Jahrhunderten, die seit den frühen Bilddrucken vergangen sind, hat das Bild mit neuen Techniken der Herstellung auch neue Qualitäten angenommen. Lithographie, Fotografie, Film, Fernsehen, Video, und deren Kombinationen haben unser symbolisches Universum verändert. Das bewegliche Bild vermittelt ganz andere Sensationen als die Flugblätter, die Warburg als «Sturmvögel» bezeichnete. Das Fernsehen funkt «Sturmvögel» in jedes Haus. Gleichwohl hängt diese Bilderschwemme von der Sprache ab. Wort und Schrift waren nötig, sie zu erfinden. Wort und Schrift sind die Grundlagen der elektronischen Bildproduktion.
In Wort und Schrift verebbt die Bilderflut, wenn sie der Nachkritik unterzogen wird und wenn das Bewegende der Bilder an andere vermittelt werden soll, die den Moment der Bewegung verpaßt haben, oder die nicht das Gerät besitzen, das ermöglicht, den Ablauf zu wiederholen.
Warburg hat gesagt, die «Sprache der Bilder sei international verständlich. International «verständlich» sind aber nur solche Bildelemente, die Einordnung in schon Gesehenes ermöglichen: ein Mensch liegt am Boden und blutet, ein Auto fährt vor, zwei Männer begrüssen sich, ein Paar trennt sich. Das Déja vu kann auf Teilererlebnisse beruhen, aber auch auf schon gesehenen Bildern. Bildanordnungsteste, Bildergänzungsteste und Zusammensetzproben der Kinderpsychologen greifen auf kulturspezifische Bildervorräte zurück. Diese Vorräte sind begrenzt. Märchen, Science ficiton und die modischen Space-Thriller können als illusionäre Umdeutungen auf den Speichervorrat an bekannten Gestalten nicht verzichten und wirken dadurch oft unfreiwillig komisch. Was Bilder außer ihrem
Gestaltvorrat verständlich macht, ist nicht «die Sprache der Bilder», sondern die Zuordnung bildlichter Präsentation zu verschiedenen sprachlichen Deutungen: Warburgs «Sturmvögel» sind an der Unterelbe jedem Kind geläufig, wie den Kindern vom Oberrhein die Schnaken. Das Sprachbild, die Metapher «Sturmvögel» kann also im Norden besser verstanden werden, und Warburg läßt sie ja auch von Norden nach Süden jagen und nicht umgekehrt. Neben dem Gestaltvorrat entscheidet also der ebenfalls auf Anschaulichkeit basierende Wortvorrat über die Verständlichkeit von Bildern.
Es kommt ein Drittes hinzu. Der Tendenz, Bildverstehen durch Zusammensetzen und Ergänzung zu lehren, tritt die Tendenz entgegen, die «simultane, integrale Präsentation», wie Susanne Langer (1940) den bildlichen Symbolismus definiert hat, in ihre Teile zu zerlegen, um zu verstehen, was hat das Ganze gedeutet. Wie das «Monogramm Christi» aus dem 5. Jahrhundert, dessen Reproduktion der Einladung zu dieser Tagung Glanz verlieh, sprachliche Deutung brauchte, brauchen auch die «Schlagbilder» unseres Alltags Deutung. Sie bestehen nicht aus abgestempelten Passfotos, deren Stimmigkeit amtlich beurkundet ist, sondern aus lauter unbeglaubigten Präsentationen, die irgendwelche Interessenten auf uns loslassen,
damit schnell «etwas rüberkommt», was in Wort und Sprache zuviel Zeit brauchte und auch vielleicht in seiner Begründung sprachlich nicht so ohne weiteres zu erklären wäre. Bilder sind immer Abkürzungen. sie geben in der Platzierung der Elemente auf einem vorgegebenen Rechteck, innen-aussen, oben-unten, links-rechts, Kürzel von Werturteilen, die dem Betrachter nicht bewusst zu sein brauchen. Macht er sie sich bewusst, würde er das Bild anders sehen.
Die analytische Deutung von Bildern heißt Ikonologie. Die Warburgs, Saxl, Panofsky, Gombrich u. a. haben sie in unserem Jahrhundert wissenschaftlich gefördert; aber das früheren Jahrhunderten alltagsnotwendige Deutenkönnen ist abhanden gekommen. Wir sind weit davon entfernt, die Bewertung zu erkennen, die Bilder durch ihren Aufbau unserem Verständnis vorgeben. Die Intelligenztest zielen gewöhnlich auf Ergänzen vorhandener Elemente, nicht aufs Zerteilen. Es ergibt natürlich auch andere Intelligenzen und Intelligenzwerte, je nachdem ob das Zusammensetzen oder das Zerlegen das Spielchen gewinnt. Solange wir Bilder «nur» anschauen, ohne ihre Machart zu durchschauen, wird wohl auch das Handbuch «Von der Unfreiheit des abergläubigen modernen Menschen» nicht erscheinen, das Warburg am Ende des Ersten Weltkrieges vermisste.
»Wer schreiben kann, der kann auch lesen», schrieb der Kommunikationstheoretiker Vilem Flusser 1983: «Aber wer knipsen kann, muß nicht auch unbedingt Fotos entziffern können» (Für eine Philosophie der Fotografie, Göttingen 1983). Das gilt erst recht für Film, Video und Fernsehempfänger. Wer Bilder produziert oder Wiedergabegeräte kauft, braucht nicht notwenig Bilder zu verstehen. Es gibt keine Lücke, ein «cultural lag» (Ogburn/Nimkoff 1947) zwischen der Medientechnik und den Sehgewohnheiten. Deshalb ist es auch falsch, daß der Staat die Interessen der Gerätehersteller fördert, ohne in seinen Grundschulen die Kunst des Sehens zu lehren, die intelligenten Umgang mit Medien ermöglichen könnte. Die staatliche Kommunikationspolitik ist insofern gegenaufklärerisch, als sie die Mittel seelisch-geistiger Manipulation vermehrt, aber so gut wie nichts tut, um die Einzelnen instand zu setzen, dieser Manipulation zu begegnen.
Altbundeskanzler Helmut Schmidt hat zu Weihnachten 83 in der «ZEIT» beklagt, daß «die Medien» Angst verbreiten. Das ist wahr. Die Angst kommt aber aus verschiedenen Ereignissen außerhalb der Medien und nur teilweise durch ihre Präsentation.
Publizistik übersetzt Abläufe von Ereignissen in medienspezifische Zeichensysteme. Beängstigende Politik produziert Ängste, indem sie jedem Einzelnen die Unklarheit des Wissens und die Unsicherheit des Könnens täglich und stündlich vor Augen führt. Was wäre denn Ermutigendes zu berichten, das die Kräfte der Selbstverantwortung und die Suche nach Identität der Einzelnen stärken könnte?
Der desolate Zustand der Weltpolitik weckt Ängste, die zu überwinden nicht ohne weiteres ratsam wäre. Angst hat auch etwas mit Vorsicht zu tun, mit Sich-nicht-für-dumm-verkaufen-lassen, mit Flucht nicht nur, sondern auch mit Schutz, Abwehr, Gegenangriff. Wir leben in einem Krieg der politischen und der Weltreligionen auf vielen zerstreuten Schauplätzen. Der Rüstungswahn der Vormächte, der israelisch-moslemische Krieg um Heilige Stätten, die Todfeindschaft von Katholiken und Protestanten im nahen Irland wurden nicht von «den Medien» gemacht.
Wir müssen Angst haben, daß er zu einem Krieg aller gegen alle wird. Aber es ist klar, daß jede Partei, ganz wie zu Luthers Zeiten, die Medien in den Dienst ihrer Sache stellt, und wir hat, «diese aufregenden ominösen Sturmvögel» – wie Aby Warburg die Bilder-
drucke diagnostizierte ihres magischen Charakters zu entkleiden. Wir haben auch heute nicht geübt, die «Schlagbilder» als solche zu relativieren. Da ist ein Loch in der Rationalität unserer perfektionierten Mitteilungssysteme, und durch dieses Loch fallen die Ansätze zur friedlichen Durchdringung immer wieder ins Halbdunkel unbegriffener Ängste zurück.
Der tägliche Rückfall ins mythische Dunkel ist zum Teil der Bequemlichkeit eines Publikums anzulasten, das Bild und Sache nicht unterscheidet. Es erfordert Anstrengung, Bild und Sache zu trennen. Man muß nachdenken. Man kann sich nicht in dem kitschigen Zustand von Rührung ohne Betroffenheit suhlen, der so angenehm ist, weil völlig unverbindlich. Man überlaÅNsst sich der Maschine als Instrument der Egozentrik. Die Flucht aus der Ratio mit ihren ewigen Trennungen, Unterscheidungen ist bequem; man braucht den Gedanken nur nicht an sich heranzulassen. Das Halbdunkel zwischen Vorstellung und Wahrnehmung verwischt auch die Grenzen von Wunsch und Erfüllung. Das Bewusstsein trübt sich ein. Was soll’s?
Es ist aber gerade diese Trübe beim Einzelnen, die Großmächte der Propaganda und Werbung nutzen. Die Unterhaltungsindustrie beutet sie aus. Wenn die Ölvorräte längst erschöpft sein werden, kann sie aus den unerschöpflichen Quellen emotionaler Defizite ewige Profite machen. Der Wissensdurst ist schnell gestillt, der Gefühlshunger bleibt. Derlei Manipulation zielen auf das Unbewusste und schüren unbewusste Angst.
Die Rüstungspropaganda spielt mit der Todesangst, indem sie Bedrohung verkündet und die Unklarheit unseres Wissens vom Weltuntergang ausnützt. Die kosmologische Sensation verkörpert in Manfred von der Bundeswehr und ähnlichen Repräsentanten. In der Reklame wird die Angst geschürt, nicht sauber genug zu sein und schlecht zu riechen, die Angst vor dem Nichts auf Raten sozusagen.
Die Angst vor Verlust und die Unsicherheit des Könnens nützt die Unterhaltungsindustrieweidlich aus. Sie zehrt ganz allgemein von unseren emotionalen Defiziten. Weit verbreitete Depression füllt die Kassen. Das ist in den 80er Jahren nicht anders als um 1930.
Das Spiel mit den kleinen und großen Ängsten, ist das Erfolgsrezept des Films. Angst ist immer im Spiel, angefangen von der Angst, sich lächerlich zu machen und ihrer Kompensation durch Schadenfreude über die Verfolgungsängste im Vorabendprogramm und die immer wieder und ausgiebig strapazierte Trennungsangst, die aus dem Zuschauer den Voyeur herauskitzelt bis zu den Ausstattungskatastrophen (»Erdbeben», «Flammendes Inferno»), die Hollywood neben die Ausstattungsrevue gesetzt hat. Angst und Paarung wer fühlte sich nicht «angesprochen», wenn ihm die «Spannungsindustrie» (Hermann Broch) damit kommt. In der Regel löst das Kino die Ängste am Ende wieder auf, damit die Leute wiederkommen, aber eben deshalb müssen die Bilder immer brutaler werden, um ein zunehmend neurotisiertes Publikum zu halten.
Die Manipulation geschieht durch Musik, Bild und Wort; aber sie wäre weniger effektiv, schiene weniger bedrohlich, wenn wir gelernt hätten, Elemente der Bilder eben als Elemente zu erkennen,
statt uns vom Ganzen erregen zu lassen, wenn wir geübt wären, die bildliche Spekulation auf unsere defizitären Zustände gedanklich zu durchdringen. Was man «Entängstigung» der Bilderwelt nennen könnte, wäre ein bewusster Schritt zu jener freien weltlichen Bildung, die zu Luthers Zeiten Erasmus und andere Ilumanisten vor sich gesehen haben. «Daß wir die Bücher auch versah; Wohlauf, ist Zeit, wir müssen dran!», reimte Ulrich von Hutten. Jetzt müssen wir an die Bilder dran. Dem stehen einige rituelle Schwierigkeiten entgegen. Ich will versuchen, sie vorzustellen.
Riten nennen wir wiederholte Hinwendungen zu gleichen Inhalten in gleichen Formen. Sie sind soziale Einrichtungen, zwischen den kosmologischen Rhythmen der Natur und den biologischen Rhythmen der menschlichen Organismen. Atmen und Verdauen, Wachen und Schlafen verlaufen rhythmisch, und die Ritualisierung der Arbeit begann schon bei Jägern und Bauern mit ihrer Anpassung an die kosmologieschen und biologischen Rhythmen ihrer Umwelt. Heute ist der industrielle Arbeitsritus die synchrone Voraussetzung unserer Kultur, und wir wundern uns deshalb nicht, daß die Diskussion über Arbeitszeiten mit Eifer und Beschwörung
geführt wird. Der Ritus der Industrigesellschaft ist nicht weniger als das religiöse Ritual darauf aus, bestimmte soziale Akte bestimmten Zeitabschnitten zuzuweisen und die Angehörigen der Gesellschaft zu gleichzeitiger Präsenz zu zwingen. Soziale Einheiten konstituieren sich durch ihre Riten, wie wir selbst an Paaren, Familien, Firmen, allerlei Gruppen, an Kirchen und Nationen, zunehmend an den symbolischen Anlässen eines «Weltsyndikats» (Alfred Weber) in Gestalt von «Gipfeltreffen», UNO-Deklarationen, Weltmeisterschaften und dergl. feststellen können.
Die Wiederholung des Gleichen in ritualisierten Abläufen bringt Verlässlichkeit in die Unsicherheiten der subjektiven Lebenszeit. Der Psychologe Abraham Moles spricht von der «praxeologischen Routine» der Alltagsriten; aber der Philosoph ernst Cassirer hat in seiner Kritik des Nazistaates auch darauf hingewiesen, daß nichts besser imstande sei, individuelle Verantwortung einzulullen, als der monotone Vollzug gleicher Riten. In diesem Zusammenhang wäre an den Kampf aller Reformatoren, insbesondere Zwinglis, gegen die Praxis der katholischen Liturgie und ihres Klerus zu erinnern, überhaupt an die Verweigerung ritueller Praxis durch Dissidenten. Sie bringt in aller Regel neue Riten hervor.
Die Störung organischer Rhythmen wie der täglichen Routine verunsichert den Einzelnen, weil sie die gedankliche Vorwegnahme behindert und uns von unseren jeweiligen kurz- oder längerfristigen Zielvorstellungen abbringt. Je differenzierter die subjektive Lebenszeit aufgeteilt ist, desto größer die Irritation. Wer sich «nur» nach den Jahreszeiten und dem Wetter einrichtet, kommt nicht so leicht außer Takt, wie ein Mensch, dessen Terminkalender seinen Status bestimmt.
Wird der Ritualismus zu weit getrieben, treten beim Einzelnen Herzrhythmusstörungen, epileptoide Anfälle, Infarkte und Psychosen auf. Insgesamt darf man wohl sagen, daß offene und verdeckte Depressionen und die Hypochondrie als Volkskrankheiten dort vorkommen, wo der Ritualismus von der energiesparenden Wohltat zur Plage wird, – wo er die subjektive Lebenszeit der Vielen zerstückelt und auffrisst. Das mag für die Pfaffenwirtschaft vor 500 Jahren ebenso gegolten haben, wie es für die Herrschaft von Technokraten, Bürokraten, Funktionären und Militäre in unserer heutigen Welt gilt.
Die nordalpine Variante der europäischen Kultur ist dabei ungleich gefährdeter als der Süden. Hier wurde die unglückselige Erfindung der Taschenuhr gemacht, hier auch der ursprünglich alexandrinische Kalender von seiner kosmologischen Funktion auf die Terminierung von Tageszeiten, Stunden, Minuten und neuerdings Sekunden differenziert. Goethes Glocke, die das Kind einholt, das nicht zur Kirche sich bequemen wollte, ist längst von profaner Pünktlichkeit überholt. Mit den Zeit-Toleranzen hat sich die Toleranz im Umgang verändert. Rückfälle in ekstatische Primitivrhythmik folgen aus den Strapazen des sozielen Ritus, können aber den Verlust an Gelassenheit, Geduld und Duldung nicht ausgleichen. Sie sind zwanghafte Konsequenz, nicht frei…
Der erbarmungslose Takt des elektronischen Zeitalters äußert sich in den zuckenden Leibern und Lichtern in der Disco als rhythmische Ansteckung. Dabei unterdrückt die Lautstärke der Musik die Sprechfähigkeit, so daß eine Art vorfabrizierter Mystik entsteht: Versenkung in das Kollektiv als Lärm. «Partizipation» als Außersichsein.
Derselbe «Ticker» bestimmt die periodische Berichterstattung. Sie interpretiert das kalendarische Ritual in Presse, Radio und Fernsehen von Woche zu Woche, von Tag zu Tag und von Stunde zu Stunde. Journalisten sind im industriellen Arbeiterritus Angestellte mit dem Zweck, eine «Weltlehre» zu vermitteln. Sie haben aus der Fülle der Ereignisse einige hervor und übersetzen sie durch Sprache und Bild in die spezifischen Zeichensysteme der Medien.
Wie überall, wo es um Interpretation, also um auslegen geht, bestimmt eine jeweilige Hierarchie der Werte auch im Journalismus die Hierarchie der Interpreten. Da gibt es mehr und weniger «eingeweihte», solche, die nur «Vertrauliche Korrespondenzen» für maßgebliche Kleingruppen edieren, solche, die bei «großen Anlässen» vom Veranstalter geladen werden, solche die zeitlebens mit den kleinen und kleinsten Gelegenheiten fürlieb nehmen müssen. Solche, die nur das Medium verkäuflich machen, und solche, die das Ohr der Mächtigen haben, und nur zu gut wissen, was jene gerne hören.
Nach den Verfassungsgrundsätze, die sich letztlich von Menschenrechten, nicht von Mächtigenrechten, herleiten, sollte die Hierarchie der Interpreten der politischen Hierarchie gegenüberstehen.
Stattdessen ist sie mit ihr verwoben durch Mitgliedschaften, ideologische Gemeinsamkeiten und Umgang. Im Grunde hat sich in dieser Hinsicht an der Liaison der Hierarchien nicht viel geändert. Wie im Mittelalter die Äbte und Bischöfe mit den Standesherren gemeinsame Sache hatten, die kleine Mönche und Pastoren mit dem Dienstadel, so auch die großen Journalisten mit den großen Machthabern, die kleinen mit den kleinen. Nur haben sie keine gemeinsame Kirche; aber selbst das ist bei der Rolle des Gesangbuches in der deutschen Politik nicht auszuschließen. Ein libertärer Journalismus muss sich einen festen Punkt außerhalb der Beziehungsnetze suchen, in denen er gefangen ist. Er muß nach den Menschenrechten fragen, nicht nach den Privilegien.
Die Interpretation des Kalenders stellt die Journalisten unter ihr ureigenstes Gesetz der Aktualität. Wie im religiösen Ritus bestimmte Handlungen nur dadurch sakral sind, daß sie zu bestimmten Zeiten vollzogen werden und zu anderen Zeiten nicht, so sind im journalistischen Ritus nur die unabgeschlossenen, die in actu befind-
lichen Ereignisse «fit to print», das, was «los ist», nicht das Ab- und Festgelegt. Nur sie bekommen ins Blatt, ins Radio, ins Fernsehen und erhalten dort Raum und Zeit nach dem Werturteil ihrer Interpreten. Sind sie dort aufgezeichnet, werden Personen und Ereignisse zeitgeschichtlich fassbar und haben eine Anwartschaft auf die Interpretation von Zeugnissen der Vergangenheit, die man Geschichte nennt.
Andererseits ragen die Daten der jeweiligen Geschichtsschreibung in die Aktualität hinein und verdrängen Gegenwärtiges zugunsten der Rückbesinnung in parteilicher Absicht: Man versucht, etwas Aktuelles aus der Vergangenheit herauszuholen und läßt weg, was nicht «in die Zeit» der Veröffentlichung «passt». Dabei tut sich der Wertjournalismus leichter, weil er sich im fortlaufenden, nach vorne offenen Diskurs der Sprache bewegt, während der Bildjournalismus die immer abgeschlossenen und nur für sich stehenden Bilder zur Verfügung hat. Sie bedürfen zudem in aller Regel sprachlicher Auslegung.
Das Gebet der Aktualität leitet sich von dem allgemein menschlichen Bedürfnis her, Zukünftiges gedanklich vorwegzunehmen,
sich einen Plan zu machen, das Handeln zu orientieren, zu antizipieren: Sich einrichten auf den Winter, auf den Frühling, auf die rituellen «grossen Ferien» der Industriegesellschaft. Sich einrichten auf Gedenktage, Messedaten, Kongreßdaten, Sportdaten und die nächsten Wahlen. 1984 zählt die Pressevorschau Deike etwa 500 «kulturelle Daten», darunter die Weiberfastnacht in Bonn am 1. März und die «Große Hengstkörung» in Verden/Aller vom 29. – 31. Oktober. Dazwischen liegt der Gedenktag an den Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914. Die «Verdener Aller-Zeitung» und die «Verdener Nachrichten» werden die Hengstkörung nicht umgehen können, das Fernsehen nicht die Weiberfastnacht, und das ganze Ensemble wird an 1914 erinnern und Auslegungen daran knüpfen.
Die im journalistischen Ritus praktizierte Vorwegnahme folgt selbstverständlich den in unserem Kalender vorgegebenen religiösen Periodisierungen; aber sie geht, seitdem das Kanzelmonopol wiederholter Verkündigung gebrochen ist, weit darüber hinaus: Sie hat außer der Aktualität kein gemeinsames Credo. Die periodische Berichterstattung hat nicht einfach heilige Anlässe durch profane er-
setzt, sondern kompensiert den Verlust des einheitlichen Glaubens, indem sie jeglichen Glauben und Aberglauben ins Ritual hineinnimmt. Die Zeitung, Zeitschriften, Radio und Fernsehen sind nach Ressorts gegliedert, die unterschiedlichen Antizipationen ihrer Leser und Zuschauer korrespondieren sollen. Sie kanalisieren unterschiedliche Erwartungen und unterschiedliche Vorwegnahmen thematisch und binden damit Interessen in den Ritus ein: Die Zeitung, das Leib und Magenblatt, und das Radio und das Fernsehen (als Mobiliar) verbinden durch Lektüre und Hören und Anschauen die Einzelnen mit dem Ganzen auf dem jeweils vom journalistischen Klerus für aktuell befundenen Stand der Dinge. Im Einzelnen tun das der Sportteil, der den Fußball- oder sonstigen Fan in seiner mehr oder weniger überprüfbaren Kompetenz anspricht und ihn emotional bindet, oder die Theaterkritik, oder das Börsenblatt, Höfers «Frühschoppen», Hans Schenks «Blauer Bock» und andere unsterblichen Präsentationen von Leitartikeln, Shows, Nachrichtensendungen, Magazinen.
Sie entlasten den Alltag, weil jeder Teilnehmer sich dabei potent vorkommen kann, beteiligt und aufgehoben im Programm-Ritual. Seine Wichtigkeit im Lehmstuhl der vertrauten Höhle. Walter Benjamin machte sich noch große Illusionen über die Fortschrittlichkeit
des Kinos als Leni Riefenstahl schon den Film als kultisches Element der Nazidiktatur erprobte. Er schrieb, die Presse mache jeden Leser zum potentiellen Autor. Er glaubte, das Kinopublikum werden den Film erziehen.
Doch führt die innere Versenkung in Zeitungslektüre höchsten zur Autorschaft in der Leserbriefecke, und der erzieherische Einfluß des Publikums auf den Film wird nach der Quantität de Einspielergebnisse, nicht nach der Qualität des Films, nach Einschaltquoten des Fernseh- bzw. Radioprogramms berechnet. Diese Einschaltquoten hängen wiederum davon ab, zu welcher Tageszeit eine Sendung läuft. Das Programmritual muß sich dem Arbeits-Rhythmus anpassen. Es gibt Haupt- und Nebensendezeiten, wie es in der Presse bevorzugte Plätze links und rechts oben und in den Zeitschriften «Aufschlagseiten» und andere gibt. Wie Pastoren um den Hauptgottesdienst sorgen sich Redakteure um Hauptsendezeiten und Umbruchplätze; so sie «ihr» Publikum haben für ihren speziellen Beitrag zu einer Kosmologie der Ungewissheit. Gerade weil die periodischen Medien nicht beantworten, was der Glauben vergibt, ist dem Publikum wichtig, immer wieder und möglichst genau über die jeweiligen Leitfiguren und Grundsachverhalte unterrichtet zu werden.
Man weiß im Grunde nicht, was nun eigentlich wichtig wäre, also hält man sich an «die Medien». Man weiß nicht, wie die Wirtschaft funktioniert, mehr rational oder mehr irrational, also hält man sich an die Aktienkurse. Man weiß nicht, was Kunst ist und was Kitsch, also hält man sich an den Kritiker, der ungefähr das schreibt, was man sich vorgestellt.
Man weiß nicht, hat der Minister richtig entschieden oder ob er überhaupt entscheiden kann, also hält man sich an den Leitartikel der Zeitung oder den Eindruck, den man aus dem Fernseh-Magazin gewinnt. Hauptsache, man hat etwas, um sich dran zu halten und nicht nichts.
»Schlagbilder» und «Sturmvögel» ziehen also in unüberschaubarer Zahl am öffentlichen Ritus vorbei. Was von ihnen hineingelangt und gar das ganze Ensemble der etablierten Medien beschäftigt, sind immer Drohungen und Zeugnisse brachialer Gewalt und Anschläge auf gültige Vorstellungen von dem, was sein soll und was nicht sein soll. So eine Auseinandersetzung stattfindet, erfolgt sie in den Stereo-Typen, die die jeweiligen Sollensvorstellungen am allgemeinsten zum Ausdruck bringen.
Die Affäre Kiessling/Wörner war in dieser Hinsicht exemplarisch, wenn auch eher von «lahmen Enten» als von «Sturmvögeln» die Rede sein könnte. Wie die ganze Geschichte visuell wenig herab – eine Assoziation zu «Ritter, Tod und Teufel» stellte sich nicht ein. Rechnete man die Stunden zusammen, die Fernsehteilnehmer und Zeitungsleser von ihrer subjektiven Lebenszeit abgaben, um sich mit der Affäre lesend, schauend und zuhörend zu beschäftigen, käme dennoch eine Größe zustande, die in keinem Verhältnis zum Anlass steht, und dies Verhältnis scheint mir die ethische Frage des Journalismus schlechthin. Ist das Mitgeteilte die Stunden wert, die alle Empfänger zusammen aufbringen, um es wahrzunehmen? Es geht von ihrer Lebenszeit ab, die unersetzlich ist. Der Publizist muß sich fragen, ob sein Wort, ob sein Bild, seine Sequenzen den Zeitaufwand der einzelnen wert sind, wohlwissend, daß nicht Wort und Bild es sind, die ihm ihre Aufmerksamkeit zuwenden, sondern das Ritual, dem sie und er unterliegen.
Die Medientechnik ist durch Jahrtausende immer dahin gegangen, den Signalaufwand des Mitteildenden für seine einzelne Mitteilung zu verringern: In kürzerer Zeit über weiter Räume zugleich mehr Leute zu erreichen, ist das technische Prinzip. Es hat dahin ge-
führt, daß immer kostspieligere Investititonen für die Mitteilenden und mit der Elektrifizierung des Nachrichtenverkehrs auf für Geräte des Empfangs nötig wurden. Hitlers billiger «Volksempfänger» verdeutlicht, wie man Leute zugänglich macht, die man als Einzelne nicht erreichen kann.
Im Augenblick erleben wir die Anstrengungen der einschlägigen Industrie und ihrer politischen Vertreter, uns davon zu überzeugen, daß wir neue Geräte anschaffen sollen, um unseren seelischen Haushalt den Betreibern zugänglich zu machen. Deren Signalaufwand verringert sich mit der zunehmenden Zahl der Empfänger. Die Einzelmitteilung wird mit millionenfachem gleichzeitigem Empfang billigem ökonomischen Sinn. Sie wird aber auch kürzer, um den Vorteil des Mediums für den Betreiber voll auszunutzen. Nicht nur die einzelnen Werbespots verkürzen sich zusehends, auch die Sequenzen der übrigen Programme. Filmer, die mit langen Sequenzen arbeiten und ihrem Publikum Zeit zur Reflexion lassen, wie Godard, passen nicht in des System, wie Heinrich Heines hintergründige Betrachtungen nichtig die französische Journale seiner Zeit passen wollten.
Im Fernsehen muß Programmvermehrung zu verschärfter Konkurrenz um die Hauptsendezeiten führen. Das sind auch im industriellen Arbeiterritus noch die Vesperzeiten nach sechs Uhr. Dann sitzen die meisten potentiellen Teilnehmer in ihrer Höhle, körperlich entlassen aus dem Produktionsrhythmus und symbolisch umso anfälliger. Vorabendprogramm und Abendprogramm, nach dem kalendarischen Ritual arrangiert, bringt Publikum Millionfache Lebenszeit für zwei bis drei Stunden. Mehr opfert der Durchschnitt diesem Ritus nicht. Die Verfügbarkeit ist auch im Fernsehritual nicht beliebig ausdehnaber. Auch für 20 oder 30 Anbieter ist nur einmal am Tag 18:00 – 22:00 Uhr.
Das führt uns zu Aby Warburgs «Schlagbildern» zurück. Ermüdet von den beruflich erzwungenen Kommunikationen, die ja immer spontane Regungen verdrängen, abgespannt, zerschlagen sich fühlend, schaltet der Heimkehrer das Gerät ein. Jetzt braucht er das ganz andere Erleben, Erlebnis, Anregung, Aktion, Illusion, denn er ist reizbar und ablenkbar, weil müde. Die große Angst vor dem eigenen Ungenügen gibt vor, was ihm hilft: der Filmheld, ob im Western oder im Krimi, zeigt, wie man Probleme in einer halben
Stunde löst. Sein emotionales Defizit ist für eine Weile kompensiert. Er hat sich unterhalten lassen; aber er ist nicht erholt. Tiefsitzende Ängste eigener Unzulänglichkeit im Beruf oder im Geschlechtsverkehr, im Umgang überhaupt wurden bestätigt.
Die Routine der Anpassung entläßt ihn ein andermal als den ständig Unterlegenden. Die Bilder haften, das Gehörte verweht. So ist für die Selbstbehauptung nichts gewonnen und für die Selbstbeherrschung wäre vielleicht etwas zu gewinnen, wenn der Teilnehmer die Energie aufbrächte, die intelligentere Mitternachstmesse einzuschalten, wo alles zelebriert wird, was die Routiniers für das Abendprogramm zu anspruchsvoll finden.
So ergibt sich im Fernsehritual das Paradox, daß die Sendungen, die zur Entfaltung von Individualität und damit zur Humanität verhelfen könnten, denen vorbehalten bleiben, die sich zu später Stunde zur Teilnahme disziplinieren. während Signalökonomie und Müdigkeit der Millionen die Gesellschaft auf dem Niveau «Dallas» etcetera integrieren. Symptome von Sucht nach immer stärkeren Reizen, Lenkbarkeit statt Erziehung, der Chok als Kultwert sind
nur ein paar Stichworte zur Fremdbestimmung subjektiver Lebenszeit durch Fernsehriten und Alltagsrituale.
Während sich die Amerikaner durch Organisationsformen, die unserem öffentlichen-rechtlichen System ähneln, allmählich der kommerziellen Ausbeutung ihrer seelischen Defekte zu entziehen beginnen, wird bei uns mit «Neuen Medien» eben diese Ausbeutung gesetzlicht sanktioniert. Die nächsten Jahre werden uns mehr davon ins Haus bringen und damit das uralte Symbol der Geborgenheit vollends entwerten.
Angst macht unfrei und Unfreiheit macht Angst. Das Fernsehritual, das die Menschen in ihrem sichersten Bereich, zuhause, in die Netze fremder Interessen verwickelt, durchbricht nicht den Kreis von Unfreiheit und Angst. Es schliesst ihn fester. Bruno Bettelheim hat schon 1960 die eigentliche Gefahr des Fernsehens in der Verführung zur Passivität und zur Angst vor selbständiger Teilnahme am öffentlichen Leben erkannt. Diese Gefahr sei größer als die stupider oder grausiger Inhalte.
Eine Medienethik aber muß Ritualismus und «Schlagbilder» gleichermaßen der Vernunft unterwerfen: die Bilder analysieren und das Ritual als sozialen Machtfaktor quasi von außen betrachten. Am Anfang ist eindeutig zu klären, welche Parteien die von War-
burg so genannte «kosmologische Sensation» in den Dienst welcher Sache stellen.