Durch den Bau der Berliner Mauer und den Schießbefehl der ostdeutschen Regierung ging die Zahl der Flüchtlinge, die in die Bundesrepublik kamen, von jährlich rund 200 000 auf 21 356 im Jahr 1962 zurück. Die Bundesregierung versuchte, den so grausam gestoppten Zustrom an Arbeitskräften durch vermehrte Importe exploitablen Menschenmaterials aus dem südeuropäischen Proletariat wettzumachen. Da diese Gastarbeiter jedoch nur auf Zeit ins Land geholt wurden und keine bürgerlichen Rechte erhielten, arbeiteten sie nicht wie die 15 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene als besitzlose Einwanderer in die westdeutsche Volkswirtschaft hinein, sondern exportierten einen erheblichen Teil des von ihnen geschaffenen Wertes in ihre Heimatländer, in die zurückzukehren sie vertraglich angehalten wurden. Damit ging das Wirtschaftswunder zu Ende.
Die wunderbare Tatsache, daß immer neue Besitzlose nach Westdeutschland zuwanderten, hatte vor allen anderen Faktoren die wirtschaftliche Expansion weit über die auszugleichenden Kriegsverluste hinaus ermöglicht. Nach dem Bau der Mauer normalisierten sich die wirtschaftlichen Bedingungen in beiden Territorien. Im Osten verbesserten sie sich zusehends, im Westen verlangsamte sich das Wachstum. Hierüber entstand große Ratlosigkeit, denn die rapide Steigerung von Produktion und Konsum hatte das ganze Glück des Staates ausgemacht. Sie hatte seine Rolle in der Welt über seine reale Bedeutung vergrößert und ihm eine scheinbar unbegrenzte Überlegenheit gegenüber dem anderen Teil Deutschlands verschafft, aus dessen selbst- verschuldetem Verlust an Arbeitskraft man die eigene potenzierte. Dabei wurden Ein- kommen und Vermögen nach traditionellem Schema verteilt, als sei nichts geschehen. Der Anteil der Arbeitnehmer am Volkseinkommen lag durch die Wunderjahre hin- durch konstant bei 60 Prozent. Er kam damit an die französische Vergleichszahl von 1961 (60,3 Prozent) heran, blieb jedoch noch immer weit hinter Großbritannien (74,0 Prozent) und den USA (71,8 Prozent) zurück(1). Dieses Ergebnis enthielt schon die Verwandlung der häuslichen Kulturmacht der Frauen in eine industrielle Armee, die vorzüglich eingesetzt wurde, um neue Bedürfnisse zu schaffen, welche auch die ganze Familie mit ihrem Entgelt nie voll befriedigen konnte. überhaupt hätte das System nicht funktionieren können, wäre es nicht gelungen, nach seiner Teilung vermittels Währungsreform das deutsche Volk zu veranlassen, sein Heil im gesteigerten Konsum zu suchen. Am Ende der fünfziger Jahre hatten sich die Massen damit abgefunden, daß das soziale Versprechen in der Sozialen Marktwirtschaft nicht eingelöst worden war. Wirtschaftswerbung und Regierungspropaganda empfahlen ihnen unisono, sich einen sicheren Anteil am Konsum zu ergattern, ein billiger und bei der steten Geldentwertung auch sicherer Tip. Ohnehin hatten die kleinen Leute genug zu tun, den jährlichen Preissteigerungen von zweieinhalb bis dreieinhalb Prozent zu folgen, die sich auf Güter des Grundbedarfs am stärksten auswirkten. Milliarden gingen den Sparern verloren, ehe sie es richtig bemerkten. Wo das Prestige der Leute auf ihrer Fähigkeit beruht, unablässig neue Kleider zu erwerben, neue Automobile, neue Elektrogeräte, Waschmittel, Verpackungen, Wohnungen, Gummibäume, wo es fast als verfassungsfeindlich gilt, arm auszusehen – da sucht man vergeblich Bürgertugend. Vergessen ist der vornehme Ehrgeiz, die Welt zu verändern, der die Bürger seit der Renaissance hochbrachte und durch Marx auf die Arbeiter kam. Denn Veränderung der Welt und Neuverteilung ihrer Güter wurden immer durch Konsumverzicht realisiert, nie durch Konsumvergötzung, die sich hierzu nicht recht eignet. Insofern schwächt die Orientierung nach dem Konsum Tüchtigkeit, Intelligenz und Bildung, die erforderlich sind, die Zustände zu verändern. Grundsatzdiskussionen kamen in Deutschland aus der Mode, als sie deftigem Konsum gegenüber abstrakt erschienen, wie ja überhaupt der volle Bauch nicht gern studieret.
Bis sich die sozialdemokratische Opposition diesem Wunder beugte und den marxistischen Geist aufgab, sein humanitäres Pathos den Kommunisten überlassend, da oblag es den Gelehrten und den Gewerkschaften, Unruhe zu stiften. Ihre dann und wann geäußerten Fragen nach den Zielen der Politik blieben, wie die vorgetragenen Prinzipien, den Konsumierenden gleichgültig, weil man Ideen nicht essen kann. Trotz der Stabilität der Vermögens- und Machtverhältnisse gelang es endlich 1960 auf 1961, den Anteil der Arbeitnehmer am Volkseinkommen von 60,8 Prozent auf 62,3 Prozent zu verbessern. Im selben Jahr nahmen die nichtentnommenen Gewinne um 1,4 Prozent zu, ihr Anteil am Volkseinkommen verringerte sich jedoch von 6,7 Prozent auf 6,2 Prozent.
Diese alarmierende Entwicklung veranlaßte Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard am 21. März 1962 zu einer Rundfunk- und Fernsehansprache über alle deutschen Sender, in der er Eingangs mehr Gemeinsinn für »Gemeinschaftsaufgaben« (2) forderte und den totalen Verlust des gesunden Menschenverstandes unterstellte: »Arbeitnehmer und Arbeitgeber ziehen für sich seit Jahren aus dem Ertrag der Volkswirtsd1aft relativ höheren Nutzen als alle anderen Bevölkerungsschichten.« Das deutsche Volk müsse, »- und ich meine da buchstäblich jeden einzelnen – wissen, wo wir stehen, ja richtiger wäre es noch zu sagen, wohin wir taumeln und welche Gefahren uns bedrohen. Noch ist es Zeit, aber es ist auch höchste Zeit, Besinnung zu üben und dem Irrwahn zu entfliehen, als ob es einem Volke möglich sein könnte, für alle öffentlichen und privaten Zwecke in allen Lebensbereichen des einzelnen und der Nation mehr verbrauchen zu wollen, als das gleiche Volk an realen Werten erzeugen kann oder zu erzeugen gewillt ist, und daß es im Zweifelsfalle nur der Androhung oder auch Anwendung von Macht und Gewalt bedürfe, diese Grenze zu sprengen. Solch törichtes Beginnen kann – von wem auch immer geübt – sehr wohl zu einem Mißbrauch wirtschaftlicher Macht ausarten, aber in jedem Falle bedeutet es einen Mißbrauch des gesunden Menschenverstandes.« Es folgte ein Hinweis auf die Lohn- und Preisentwicklung und den »hohen Anteil der Unselbständigen am gesamten Volkseinkommen« von 62,1 Prozent, während der Anteil des Einkommens aus Unternehmertätigkeit und Vermögen rückläufig sei. »Schließlich verdient es vermerkt zu werden, daß die nicht entnommenen Gewinne von 1960 auf 1961 um rund 18 Prozent zurückgegangen sind.« Ein Rückgang, den zu vermerken die Statistik nicht für verdient hielt, da sie eine Zunahme von 1,4 Prozent notierte (3). »Wir haben offenkundig das Gefühl für das Mögliche verloren und schicken uns an, eine Sozialpolitik zu betreiben, die vielleicht das Gute will, aber mit Gewißheit das Böse – nämlich die Zerstörung einer guten Ordnung – schafft. So manches Mal frage ich mich wirklich, ob denn dieses deutsche Volk mit wachsendem Wohlstand immer weniger ansprechbar, immer weniger bereit ist, die Wahrheit zu hören.« Er, Ludwig Erhard, sei keineswegs gewerkschaftsfeindlich: »Was will ich denn? Ich möchte sichergestellt wissen, daß sich das alte Sprichwort >Wer nicht hören will, muß fühlen< am deutschen Volk nicht noch einmal tragisch erfüllt. Das deutsche Volk besteht eben einmal nicht nur aus Tarifpartnern. Und es widerspricht dem innersten Wesen einer demokratisch-parlamentarischen Ordnung dazu, die Stabilität der Währung, das heißt die Erhaltung des Geldwertes, und das wieder bedeutet in letzter Konsequenz die gesellschaftliche und soziale Ordnung wie auch das wirtschaftliche Schicksal eines Volkes, dem Ermessensspielraum von Tarifpartnern zu überantworten, die dann nur zu allzuleicht bereit sind, die Auswirkungen ihres Verhaltens der Regierung als Versagen und Schuld anzulasten.«
In der Tat sind nur vier Fünftel aller in der deutschen Wirtschaft beschäftigten Arbeitnehmer in Betrieben beschäftigt, die bei der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände organisiert sind, und die Reduktion von Sozialpolitik auf Tarifpolitik mag aus der Ministerperspektive natürlich erscheinen; aber nach dem Konzept der sozialen Marktwirtschaft hatte die Regierung versprochen, die Preise stabil zu halten, Einkommen und Vermögen gerecht zu verteilen und das wirtschaftliche Wachstum stetig zu fördern. Eigene Unterlassungen in der Pose eines gekränkten Barockfürsten dem Wahlvolk zuzuschieben, wurde nach dieser Rede des Ministers Erhard liebster Brauch. Sachlich führte er zu nichts, aber den Deutschen war es recht so, denn sie verstehen sich darauf, von ihren Oberen gescholten zu werden. Der >Führer< selbst hatte vor seinem Ende noch erklärt, dies Volk sei seiner nicht würdig. Immerhin verbreitete sich deutlich ein schon länger spürbares Mißbehagen.
Dreieinhalb Jahre vor Ludwig Erhard hatte Karl Jaspers, als er den Friedenspreis des deutschen Buchhandels entgegennahm, gefragt, was wohl nicht stimme: »Wir Deutschen insbesondere haben unsere Wahrhaftigkeit als Voraussetzung des Friedens zu gewinnen. In der Bundesrepublik haben die Arbeitskraft und Tüchtigkeit der deutschen Unternehmer, Angestellten und Arbeiter, die verantwortungsbewußte Sachlichkeit der Wirtschafts- und Finanzpolitik der Erhard, Schäffer, Vocke nach der Katastrophe das Erstaunlichste ermöglicht. Unbeirrbar ist die Außenpolitik das Bundeskanzlers, der die relative Souveränität der Bundesrepublik erreichte, bedingungslos dem Abendland verbunden. Das deutsche Wirtschaftswunder und die Erreichung des neuen Staates sollen nicht durch Nörgeleien verkleinert werden. Aber: Leistung allein genügt nicht. Die Hauptsache ist damit noch gar nicht geschafft. Der Stolz auf die Leistung trügt. Er darf nicht ablenken vom Wesentlichen. Aus der Anstrengung des Arbeitsbetriebes und aus der Vergessenheit zur Besinnung kommend, fragen daher Deutsche: Woher unser Ungenügen im Gefühl von Unwahrheit im Grunde? Was fehlt? Was wurde versäumt?« (4)
Was war das Wesentliche? War es, wie Jaspers beim selben Anlass formulierte, die Steigerung der Konsumtion bis zur Vernichtung jedes Bleibenden, und zu einem Leben »zwischen der träger werdenden Arbeitslust und der leerer werdenden Freizeit«? War es, daß das Volk, wie Erhard angab, über seine Verhältnisse lebte und zu wenig arbeitete? Aber die Produktivität des einzelnen Arbeitsplatzes hatte sich doch ständig erhöht, die Leute werkelten noch in ihrer Freizeit privat oder als >Schwarzarbeiter<, und ungezählte Geschäftsinhaber arbeiteten sich in relativ jungen Jahren buchstäblich zu Tode. Das gesellschaftlich Wesentliche war offensichtlich weniger im Verhältnis von Produktion und Konsum zu suchen als im Missverhältnis dieser beiden gesteigerten Anstrengungen zum sozialen Rahmen, in dem sie sich vollzogen. Was nützte den Millionen neuer Automobilbesitzer ihr erfüllter Traum von Kraft und Blech, wenn er sich auf den unzulänglichen Straßen aus einer Bequemlichkeit in ein Mordinstrument verwandelte? Man kann mit großer Wahrscheinlichkeit behaupten, daß jemand, der nach 1960 zu einem Auto kam, nie das Vergnügen einer freien Fahrt hatte. Sehr wahrscheinlich ist es auch, daß die hohe Sterberate kleiner und mittlerer Unternehmer zusammenhängt mit der völlig ungenügenden Kartellgesetzgebung und der durch sie ermöglichten fratzenhaften Verzerrung des Wettbewerbes zugunsten der von jeher Stärkeren. Die Vergiftung der Luft in den Ballungszentren, die Verurteilung der Bäche, Flüsse und Seen zu Kloaken. Fehlende Schulen, überfüllte Universitäten, zu dünner wissenschaftlicher Nachwuchs, weithin keine reellen Aufstiegschancen für Begabte.
Das war und ist noch heute der Rahmen, in dem sich Produktion und Konsum steigerten. Die Bundesregierung hat in der Ära Adenauer wie unter der Nachfolge Erhards ihre öffentlichen Aufgaben sträflich vernachlässigt, beherrscht von einem Glauben des privaten Nutzens, daß dem, der hat, gegeben werden muß. Auf diese Weise konnte sich keine umfassende öffentliche Philosophie bilden, auch wenn viele wohlmeinende Gruppen und einzelne sich darum bemühten. Gegen die materiellen Grundlagen des Staates kann eine solche Philosophie nicht errichtet werden; das gilt für die sächselnde Verhunzung des Marxismus in der DDR, offensichtlich aber auch für die taumelige Geschäftsführung der Bundesrepublik. Karl Jaspers ahnt etwas von diesem Zusammenhang materieller und ideeller Tätigkeiten m der gesellschaftlichen Gesamtarbeit, wenn er die »große Aussicht« einer Sozialdemokratie malt, die »die Wirtschaftspolitik, die das Wirtschaftswunder ermöglichte, in den Grundzügen akzeptierte, und nun mit dem ganzen Ernst sozialer Gerechtigkeit für die Solidarität des Operierens aller Glieder der Arbeit, nicht für einen Kampf von nicht mehr existenten Klassen sich einsetzte!« Aber Jaspers weiß nicht, wo die Glocken hängen. Eine Fahrt über die Autobahn könnte ihm zeigen, daß Klassen miteinander kämpfen wie eh und je, und von der CDU dürfte er nicht erhoffen, daß sie nun »mit dem ganzen Ernst die geistige Überlieferung hütete, sie selber durch die Wirklichkeit ihrer Menschen bezeugte, und wenn sie dem gesamten Volk überzeugend fühlbar machte, daß ohne diese Überlieferung auf dem Grund der griechisch- römischen Antike und der Bibel die Substanz unseres Wesens verlorengehe!« Die Wirklichkeit des Konservativen heißt Ludwig Erhard und betrachtet den Staat aus der Perspektive des Betriebswirtes, die ideelles Pathos von Rechts wegen ausschließt.
Erhard oder Jaspers? – Selbstverständlich ist damit keine personelle Alternative gemeint. Weder wäre Karl Jaspers in dem Zweimillionenmark-Bungalow vorstellbar, den sich der frischgebackene Bundeskanzler in den Park des Palais Schaumburg hat bauen lassen, noch könnte man sich Ludwig Erhard auf dem Basler Lehrstuhl für Philosophie denken. Auch ist nicht geplant, den langen, eher hageren Oldenburger mit dem runden Franken landsmannschaftlich zu vergleichen, um so den Norden Deutschlands bayerischem Süden zu konfrontieren, wiewohl an beiden Herren landsmannschaftlich Typisches zu beschreiben wäre, wie es an unseren führenden Männern von jeher auffiel und trotz der Ideologie des verstorbenen Professors Nadler und seinesgleichen auch künftig zu beachten sein wird. Die mentale Unterschiedlichkeit der deutschen Stämme ist eines der Fundamente bürgerlicher Freiheit in ihrem Lande. Erinnern wir uns an das eingeborene Misstrauen, das den Westpreußen Kurt Schumacher mit dem Rheinländer Konrad Adenauer verband, oder an zwei negative Erscheinungen ihres Milieus, Paul von Hindenburg und Adolf Hitler, und spielen wir eine Sekunde mit dem Gedanken, ersterer hätte seine Abneigung gegen den »böhmischen Gefreiten« nicht überwunden. Wo wären wir dann?…
Kein solcher Vergleich ist gemeint. Es geht um die Gedanken, die Jaspers und Erhard nach dem Ende des Wirtschaftswunders in gleichzeitiger Sorge um die Bundesrepublik entwickelten. Der seit Beginn der sechziger Jahre nicht bloß den Intellektuellen, sondern breiten Bevölkerungsschichten spürbar werdende Mangel an öffentlichem Geist in der Bundesrepublik wurde durch die verschiedenen >Maßhalteappelle< Ludwig Erhards zum Thema des Tages. Er appellierte, jedermann verständlich und in einer Phraseologie, die Stapels längst vergessener Zeitschrift >Deutsches Volkstum< entnommen zu sein schien, an die einzelnen und gegen ihre Interessenvertretungen: daß die materialisti- sche Zielsetzung der Verbände die soziale Sicherheit und Stabilität, ja selbst die wirtschaftliche Leistung ihrer Mitglieder bedrohe, die er mit dem »Ganzen« identifizierte. Schon 1960 hatte er auf die Verbandsfunktionäre gezielt, als er in der FAZ vom 27. August »Die wahren Feinde des deutschen Volkes« charakterisierte: »Ich habe darum keine Hemmungen, es deutlich auszusprechen: Das sind die Feinde des deutschen Volkes, die seiner bequemen Neigung entgegenkommen, sich im Maßlosen zu verlieren und um der Gunst des Augenblicks willen das Glück und die Zukunft derer, die nach uns kommen, aufs Spiel zu setzen.« Die Denunziation der Verbands- und Gruppenfunktionäre entsprang wohl nicht nur dem Ärger über die Lobby. Erhard glaubte vielleicht ernstlich, die Gesellschaft sei klassenlos und es käme auf den einzelnen an: ». .. es ist der Mensch, der sich dem Ganzen gegenüber unterlegen und einsam fühlt... Je mehr solche Unsicherheit zu einer unbestimmten Lebensangst führt, desto weniger scheint es verwunderlich, wenn sich Menschen aus dem Gefühl der Isolierung heraus in Gruppen und Verbände flüchten, die die innere Unruhe des einzelnen dann verstärkt in die Öffentlichkeit hinaustragen.« Die Wahrnehmung materieller Interessen erscheint unter diesem Aspekt als Ausgeburt der Lebensangst, die zu nichts als Unruhe führt: »Ein Prozess wie der hier aufgezeigte löst selbstverständlid1 nicht nur Wirkungen aus, die gleichermaßen die Gefahr der Atomisierung wie der Kollektivisierung des Lebens mit sich bringen, sondern er verstärkt auch die Sehnsucht der Menschen nach harmonischer Einordnung in überschaubare Bindungen, in denen er Wärme und Geborgenheit sucht und finden kann. Die tieferen Gemeinschaften der Familie und der Kirche werden dabei ergänzt durch gesellige Formen Gleichgesinnter, wie sie in Vereinen, Stammtischen oder Nachbarschaften Ausdruck finden. Fast möchte ich sagen, die menschliche Natur braucht den inneren Ausgleich, das seelische Gleichgewicht, die Versöhnung zwischen den zweckhaften Formen des Berufslebens in der Massengesellschaft und dem Verlangen nach Ruhe und Geborgenheit in geistig-seelischen Zuordnungen. Die soziale Marktwirtschaft ist überfordert, wenn ihr die Verantwortung aufgelastet werden soll, die äußeren Lebensformen unserer Gegenwart zu sprengen und nach einem Wunschbild zu formen.«(5)
Dass die Regierungspolitik überfordert sei, hörte man damals zum ersten Male, und es war nicht ohne höhere Heiterkeit, es aus dem Munde des Mannes zu vernehmen, der durch ein Jahrdutzend mit allen Mitteln der Regierungs-, der Partei- und der Arbeitgeberpropaganda zum Symbol des neuen deutschen way of life hinaufstilisiert worden war. Besonders hübsch klang aus diesem Munde die kriegerische Rede gegen die Gruppierungen materieller Interessen; wußte doch jedes Kind im Lande, daß keine andere Partei so vollkommener Ausdruck eben dieser Gruppen war wie die CDU. Mit aller Macht hatte sie durchgesetzt, dass die Verfassungsvorschrift unbefolgt blieb, die Parteifinanzen offenzulegen, und durch die Subventionierung immer neuer Einzelinteressen aus dem Steuersäckel hatte sie sich Wähler gekauft wie keine andere Partei vor ihr.
Überfordert war nicht das Konzept, sondern die politische Praxis der sozialen Marktwirtschaft, und zwar von ihren eigenen Unterlassungen und Konsequenzen überfordert. Das Ergebnis entsprach dem Wunschbild nicht, und Ludwig Erhard begann ein neues zu entwerfen; er schwieg, wo Ort und Zeit gewesen wären, seine Popularität zu Gunsten der geistig-seelischen Einordnungen geltend zu machen, nämlich in der großen kulturpolitischen Debatte des Bundestages am 4. März l964 und in der Debatte über die Verjährung von NS-Morden ein Jahr danach. »Politiker schreiben, um für sich zu werben. Sie möchten den Willen ihrer Leser auf die Bahn bringen, die sie wollen. Sie begründen ihr Handeln und rechtfertigen es. Sie verbergen auch ihr Handeln und kleiden es in allgemein einleuchtende Argumente.« Gewiss gilt das für Erhards >Maßhalteappelle< wie für sein Schweigen; aber es lässt sich nicht ausschließen, ob nicht auch etwas Literarisches in seinen Absichten steckt- , »Politische Schriftsteller dagegen wollen zeigen, was ist, was möglich und was unmöglich ist, wie das politische Geschehen faktisch vor sich geht. Sie wollen zeigen, was Verhängnis ist und was noch von freien Entscheidungen der Menschen abhängt.«(6)
Ludwig Erhard wurde Bundeskanzler, weil seine Partei hoffte, mit seiner Symbolkraft das schwindende Wählerinteresse zurückzugewinnen. Es war klug von ihm, nicht auf die eigene Person allein zu vertrauen, sondern die politische Formel »soziale Marktwirtschaft« durch eine neue zu ersetzen. Schon 1942 hatte er geschrieben, dass der Appell an das sittliche und nationale Empfinden des Volkes in Bezug auf die Einkommensverwendung »in seiner Wirkung häufig bedeutsamer«(7) sei als rechtliche Bestimmungen oder steuer- und preispolitische Maßnahmen. In seiner und in der bundesrepublikanischen Situation überhaupt konnte die neue Formel nur eine wirtschaftspolitische sein. Dabei war es klar, daß die beiden Pole des Erhardschen Gruppenverständnisses – hier destruktive Interessenwahrnehmung, dort harmonische Vereins-Idyllik – die Aufhänger sein mussten. Das Wunschbild, das der Bundeskanzler auf dem CDU-Bundesparteitag 1965 zum ersten Male skizzierte, wurde >formierte Gesellschaft< genannt. Das Wort stammt, wie manch andere schöne Tautologie, angeblich von Rüdiger Altmann, einem unserer hochfliegenden Publizisten, denen die Freiheit nicht reicht und die deshalb dem Kommunismus immer noch etwas Besonderes >entgegenhalten< wollen. Die Weisheit der >Entgegenhalter< war,dass die >formierte< Gesellschaft »nicht mehr aus Klassen und Gruppen besteht, die einander ausschliessende Ziele durchsetzen wollen, sondern daß sie fernab aller ständestaatlichen Vorstellungen ihrem Wesen nach kooperativ ist, das heißt, daß sie auf dem Zusammenwirken aller Gruppen und Interessen beruht. Diese Gesellschaft, deren Ansätze im System der sozialen Marktwirtschaft bereits erkennbar sind, formiert sich nicht durch autoritären Zwang, sondern aus eigener Kraft, aus eigenem Willen, aus der Erkenntnis und dem wachsenden Bewusstsein der gegenseitigen Abhängigkeit.«(8) In den >Gesellschaftspolitischen Kommentaren< der CDU vom 1. Juli 1965 wurde das eingehender in 12 Thesen erläutert, von denen hier nur vier zitiert werden sollen: Die Formierte Gesellschaft, so heißt es, »ist ihrem Wesen nach kooperativ«, »ist eine Gesellschaft mit gemeinwohlorientierten >befestigten< Gruppen«, »ist eine freiheitlich-demokratische Gesellschaft«, »ist eine Gesellschaft mit einem ausgeprägten gesamtgesellschaftlichen Bewusstsein«.
Da es zur Natur der Freiheit gehört, dass Klassen, Gruppen und einzelne einander ausschließende Ziele durchsetzen wollen, und da die Verfassung und die Grundrechte diesen Willen anerkennen und ihm Raum geben, damit die Gesellschaft sich weiter entfalten kann, hätte es nicht des Hinweises auf das kooperative »Wesen« der Erhardschen Formierung bedurft, um deutlich zu machen, dass es sich hierbei um verspäteten Korporativismus handelt. Die Ansätze hierzu waren tatsächlich in der >sozialen Marktwirtschaft< gegeben. Nicht zufällig ließ die wirtschaftspolitisch orienierte Regierung die Sozialpolitik verkommen und die zuständige Bundesbehörde zum Rentenministerium verkümmern. Nicht zufällig bezichtigte die Regierungspresse die Gewerkschaften, sie schwächten den geschlossenen Leistungswillen der Nation, sie stellten sich außerhalb der Gesellschaft, als es in den Jahren 1961/1964 vorübergehend gelungen war, den Anteil der Arbeitnehmer am Volkseinkommen zu erhöhen. Nicht zufällig wurde ein Anhänger der Todesstrafe Justizminister und erhob sich das Geschrei vom kommenden Notstand zu einem Zeitpunkt, als Europa so friedlich war wie nie seit dem Kriege. Erhard will die »zerstörerischen Kräfte des Pluralismus« mit konzentrierter Staatsautorität überwinden.
Reicht die Autorität seiner Regierung nicht aus, sich in einer offenen Gesellschaft zu behaupten? »Das sogenannte freie Spiel der Kräfte, das nicht einmal hinreichte, um die Wirtschaft vor dem Verfall zu retten«, schrieb Erhard 1939, »wird noch weniger dazu geeignet sein, sie zu jener Anstrengung emporzureißen, die vonnöten ist, um das politische Ziel nicht an wirtschaftlichem Unvermögen scheitern zu lassen.«(9) In der Regierungserklärung von 1963 heißt es, der produktive Elan wolle dem Genuß des Erreichten weichen und der neu bestellte Bundesbeauftragte für Wirtschaftlichkeit habe ein weites Betätigungsfeld, die Verwaltungspraxis und -technik so zu reformieren, »daß sie den Anforderungen eines modernen Staatswesens gerecht werden und aufgeschlossenem Bürgersinn gerecht werden«(10). Ihn darf man bei der Regierung suchen, der nach Ansicht der >Gesellschaftspolitischen Kommentare< u.a. die Aufgabe zufällt, dem Volk zu sagen, »an welchem geschichtlichen Ort die Gesellschaft steht«(11). Ganz konsequent spricht Erhard, der die alten nur mangelhaft beherrscht, 1965 von »modernen Techniken« des Regierens, von neuen Formen der staatlichen Herrschaft und erklärt die Gesellschaft für formiert, »wenn sie gleichzeitig zu einem geschlossenen Leistungswillen fähig ist«(12).
Der geschlossene Leistungswille geht allemal zu Lasten des freien Spiels der Kräfte, in der gewaltigsten Militärmacht von 1939 wie in der großen Wirtschaftsmacht von 1966. Die Frage ist, ob der Freiheitswille seine Rechte behauptet; er allein kann ja den Anschluss an die Traditionen der Geistesgeschichte garantieren, nicht die »großen Gemeinschaftsaufgaben«, die das Erreichte »nutzbar« machen sollen, wie Erhard in listiger Spekulation auf das >gesunde Volksempfinden< im Wahlkampf 1965 sagte: »Es gilt, das Erreichte zum Wohle des ganzen deutschen Volkes nutzbar zu machen. Das kann nur durch Opfer und bessere Einsicht geschehen. In dieser zweiten Phase unserer sozialen Entwicklung gewinnt das Bewußtsein an Raum, daß die Nation mehr ist als die Summe ungezählter Egoismen, daß Einzelbürger und Interessengruppen vom Mittelpunkt des Gesamtinteresses her handeln müssen, wenn Deutschland wieder Anschluß finden soll an die großen Traditionen seiner Geistesgeschichte. Wir sprechen von der >formierten Gesellschaft<, in der freie Menschen ihre Kraft zum eigenen und zum allgemeinen Wohle voll entfalten und doch ihrer Bindungen an das Ganze bewußt bleiben. Auf diese formierte Gesellschaft, in der Wohlstand und Würde auf das Engste beeinander wohnen, richtet sich schon heute unser vorausschauendes Handeln.«(13)
Karl Jaspers machte sich nicht anheischig, das Gesamtinteresse zu bestimmen, noch war er in der Zwickmühle, eigene politische Versäumnisse durch eine neue politische Formel kaschieren zu müssen, als er fragte: »Wohin treibt die Bundesrepublik?« Auch hatte er nicht nach langer Ministertätigkeit die »Zuordnung« von Gesellschaft, Wirtschaft und Staat als ein neues Problem zu entdecken. Er sagte dem Volk auch nicht, wohin die Bundesrepublik taumele, wie der Bundeswirtschaftsminister 1962, sondern fragte nur. Dieses bescheidene Fragen eines Einzelbürgers, der sich die Freiheit des Philosophierens wie gegen Wissenschaft und Religion so auch gegen die Politik nimmt, machte solches Aufsehen, daß die Hoffnung erlaubt scheint, die Formierung der Gesellschaft nach dem Muster eines Industriebetriebes möge noch eine Weile auf sich warten lassen. Jaspers demonstriert deutlich, was angesichts der Verflechtung noch Freiheit sein kann. Er denkt in aller Öffentlichkeit, und sie ist ihm dankbar dafür, auch im Widerspruch. Die häufigste Kritik hat er vorausgesehen und darauf schon geantwortet: »Vielleicht werden meine Urteile als sachunkundig verworfen. Was ich sage, gründet sich auf Informationen durch Zeitungen und Bücher und Protokolle und mannigfache Gespräche mit deutschen Landsleuten und deren Mitteilungen. Es scheint mir nicht gleichgültig, wie die Dinge im Kopfe eines Beobachters sich zeigen, der nicht ohne Angst mit seinem Herzen dabei ist. Ich bringe keine neuen Informationen, wohl aber eine Wiederholung oft vergessener Informationen und die Heraushebung des für unser Schicksal Wesentlichen. Ich urteile sittlich-politisch, das heißt nicht nur nach gesinnungsethischen, sondern nach verantwortungsethischen Gesichtspunkten, die selber – nach Max Weber – in einer Gesinnungsethik gegründet sind.«(14) Von den drei Kapiteln der Schrift (Gespräch mit Rudolf Augstein: >Für Völkermord gibt es keine Verjährung<, der Jasperschen Analyse der diesbezüglichen Bundestagsdebatte und >Aspekte der Bundesrepublik<) ist das zweite das erschreckendste, das letzte das wichtigste.
Erschrecken muß die von Jaspers an Reden der debattierenden Parlamentariern vielfach exemplifizierte Unstimmigkeit der Argumente. Sie zielt in die schon an Ludwig Erhard festzustellende Richtung. Jaspers, der in seiner Beurteilung anderer Autoren gewöhnlich deren Geschichtlichkeit zu Gunsten seines eigenen Begriffes von Freiheit vernachlässigt, relativiert auch hier nicht. So hat es gelegentlich den Anschein, sein Vorwurf laute, daß jener nicht denke wie er. Wie Erhard seinem Konzept durch einen angeblichen deutschen Entwicklungsvorsprung europäische, ja weltweite Vorbildlichkeit sichern will, so macht Jaspers den philosophischen Glauben für sie geltend. Zwar bleibt solche Existenz subjektiv und kann keine Allgemeingültigkeit erlangen, aber der damit geleistete Verzicht auf Objektivität der Erkenntnis läßt es zu einem Brückenschlag zwischen dem politischen Schriftsteller und dem Politiker nicht kommen. Es ergibt sich eine Attitude des Geistesaristokratismus, die der Sache nicht dient und die wohl auch der historischen Anschauung im Wege steht. So zitiert er aus der Bundestagsdebatte ein >Bekenntnis Barzels<: >»Als Hitler kam, war ich acht Jahre alt. Ich war später Soldat und Offizier, und ich glaubte, im Dienst des Vaterlandes zu wirken. Ich kenne den Mißbrauch des Idealismus der deutschen Jugend damals. Eben darum war ich bereit, diese Rede zu halten; denn ich glaube an Deutschland.< Und dann die erstaunliche Selbstzufriedenheit: >Unsere Geschichte umfaßt mehr als zwölf böse Jahre. Unsere Gegenwart ist rechtlich und sie ist ehrenhaft… Unser Land ist ein anderes geworden. Hier ist ein Ort der Humanität, der Freiheit, der Redlichkeit und des Rechts. Deshalb lohnt es sich, wie ich meine, ein Deutscher zu sein.< Was heißt >Glaube an Deutschland Man kann an Gott glauben. Kann man an ein Volk, an einen Menschen, gar an einen Staat glauben? Da gerät man in die Denkungsart, die auch die NS forderten. >lohnt es sich, ein Deutscher zu sein das ist ein zweideutiges Wort. Ich bin Deutscher. Ich verneine nicht, was ich bin. Es fragt sich nicht, ob es sich lohnt (wie hochmütig ist dieser Gedanke), sondern wie ich dazu beitrage, daß wir Deutschen vor uns bestehen können, und daß die Menschheit unserem Dasein in dieser Gestalt ihre Zuneigung schenken kann.«(15)
Manch einer wird Jaspers eher zustimmen als Barzel; aber der Abgeordnete ist nicht verpflichtet, nur an Gott glauben zu können. Er kann an Deutschland glauben, oder an sich, oder an den Lohn, den es ihm bringt, Deutscher zu sein; denn seine Voraussetzungen sind nicht die von Karl Jaspers, und als Politiker wird er es wahrscheinlich mit dem alten Fritz halten, der äußerte, er würde sein eigen Hemd und Rockverbrennen, wenn sie seine Pläne wüßten. Jaspers zieht diese Kluft zwischen der philosophischen und der Politiker-Existenz nicht in Betracht, obwohl gerade die Voraussetzung, daß Barzel mit seinem »Bekenntnis« doch wohl auf Beifall aus war, Einsichten ergäbe, die anders nicht zu gewinnen sind. Jaspers‘ aus eigenen existentiellen Ursprüngen gewonnene politische Anschauung erfaßt das zu Verstehende, nicht aber dessen Ursprünge, weil es die eigenen nicht relativiert. So verwundert es auch nicht, daß das Urteil den Sachverhalt mitunter übertrifft: »Die Politiker fragen wir: Was denken, sagen und tun sie für den neu zu schaffenden Staat? So gut wie nichts. Sie lassen alles hineingleiten in die >Normalität< des politischen Betriebs, der die Zwischenstadien zwischen den großen Ereignissen füllt, die sich doch durch ihr Versagen schon in die unheilvollen Richtungen vorbereiten, so vor 1914, so vor 1933, so vor dem Augenblick, der kommen wird.«(16) Hier spielen die Politiker die apokalyptische Rolle, die bei Erhard die Funktionäre zu übernehmen haben. Der gemeinsame historische Ursprung dieses Denkens aus dem deutschen Nationalliberalismus liegt zu Tage. Auch die Unlogik des Absonderungswillens ist dem Staatsmann und dem Philosophen gemeinsam: natürlich ist Erhard ein Funktionär, ein hoher sogar, und Jaspers wird Politiker, indem er zu Tausenden, vielleicht Hunderttausenden, ja Millionen politisch redet.
Das ist die >Normalität<. Eine ganz andere Frage wäre, ob die von Jaspers so genannten großen Ereignisse groß und ob sie vergleichbar sind; darüber müssen seine Leser nachdenken, für ihn darf es bei der Behauptung bleiben, wenn er sie verantworten kann. Den Leuten Angst zu machen, sie vor dem »Augenblick, der kommen wird«, in das schon überfüllte Bockshorn jagen zu wollen, kann nicht gut gehen, zumindest nicht besser als die demoralisierende Propaganda für eine >Notstandsgesetzgebung<. Jaspers sieht diese, wie den oligarchischen Beharrungswillen, dem sie entspringt, richtig; auch seiner Ansicht über die ausgebliebene Denkerziehung durch Opposition ist zuzustimmen: »Mit der Aufhebung des Spiels der Opposition als unentbehrlichen Faktors der politischen Willensbildung des Staates hört die demokratische Freiheit auf. Denn der politische Kampf im Denken der Bevölkerung hört auf. Ein parlamentarischer Staat, der noch keinen gesetzlich geregelten Machtwechsel durch die Opposition vollzogen hat, ist als demokratischer Staat fragwürdig.«(17) Erhard und die ihm geistesverwandten Professoren wie Briefs, Vögelin, von der Heydte etcetera werden diese Sätze vermutlich als >Demokratismus< abtun; aber die Folgsamkeit der Deutschen oder ihre Unfolgsamkeit gegen die herrschende Klasse entscheidet tatsächlich darüber, ob Freiheit sein wird.
Man muß Jaspers voll zustimmen, wenn er die Oligarchisierung des Denkens auch in scheinbar außerpolitischen Bereichen für lebensgefährlich hält. Indem er jedoch die Schuld an diesem Prozeß den Parteien zuschreibt und diese abqualifiziert, wie es Erhard mit den Interessenverbänden macht, trifft er nicht den Kern der Sache und nährt historische Animositäten. In Wahrheit ist das Skandalon des deutschen Parlamentarismus das Verhalten der sozialdemokratischen Partei. Da sie aufhörte, eine geistige Macht sein zu wollen, verlor die Auseinandersetzung über staatliche Ziele ihren intellektuellen Halt. Um bloß eine andere Versammlung heterogener Interessengruppen, wie die CDU eine vorstellt, an die Macht zu bringen, braucht man keine Sozialdemokratie. Da genügten bisher die Kombinationen mit BHE, DP, CSU und FDP. Die Entscheidungen fallen nicht mehr durch die Wähler, sondern durch personelle Intrigen innerhalb der regierenden Fraktionen. Indem die SPD für den Zugang zur herrschenden Klasse ihren universalen Anspruch preisgab, hat sie dem Volk die Alternative zu der oligarchischen Gemengelage entzogen und damit den Rückhalt gegen die Umfunktionierung seiner Freiheitssphäre, die von Erhard versucht wird. Vor zwanzig Jahren, als Karl Jaspers in der von hungrigen Veteranen überfüllten Aula der Universität Heidelberg seine berühmte Vorlesung über die Schuldfrage zelebrierte, erklärte Alfred Weber: »Klar ist aber, und wie ein Tag und Nacht Erleuchten- des sollte man es vor Augen haben: Unsere Aufgabe ist Umwandlung des deutschen Massenmenschen aus einem geduldig gehorsamen Massentier in einen Typus der Zusammenordnung charakterlich selbständiger, aufrechter, selbstbewußter, auf ihre Freiheitsrechte eifersüchtiger Menschen.«(18)
Diese Aufgabe ist mit Jaspers nicht unerfüllbar.
Anmerkungen
(1) Statistisches Jahrbuch 1964, Internationale Übersichten 8/142
(2) Zitiert nach Nordsee-Zeitung, Bremerhaven, 23. 3. 62
(3) Wirtschaft und Statistik, 1/1963, S. 8; ebenso Herbert Ehrenburg, Die Erhard-Saga, Stuttgart 0 . J., s. 86
(4) Karl Jaspers, Hoffnung und Sorge, München 1965, S. 179
(5) Wirtschaftspolitik ist Gesellschaftspolitik, FAZ, 4. 5. 1960
(6) Jaspers, Politisdte Sdtriftsteller und politisdtes Handeln, in op. cit., S. 367
(7) Festsdtrift zum 60. Geburtstag von Wilhelm Kalveram, Berlin- Wien 1942, S. 227
(8) Ludwig Erhard in: Niederschrift des CSU-Bundesparteitags 1965, S. 704
(9) Ludwig Erhard in: Marktwirtschaft und Wirtschaftswissenschaft, Hrsg. Georg Bergler/Ludwig Erhard, Berlin 1939, S. 57
(10) Zitiert nach FAZ, 13. 10. 1963, S. 13
(11) Gesellschaftspolitische Kommentare, Nr. 13/14, 1965, S. 162
(12) Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 28. 7. 1965
(13) Ludwig Erhard, Das Erreichte nutzbar machen, Süddeutsche Zeitung, 19. 9. 1965
(14) Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik? Tatsachen. Gefahren, Chancen; München 1966, Vorwort
(15) Jaspers, op. cit., S. 1.07/8
(16) Jaspers, op. cit., S. 119
(17) Jaspers, op. cit., S. 138
(18) Alfred Weber, Abschied von der bisherigen Geschichte. Überwindung des Nihilismus? Hamburg 1946, S. 241