Verglichen mit dem biblischen Nadelöhr, durch das kein Kamel geht, ist das Brandenburger Tor mit seinen 12 dorischen Säulen und den 26 Metern Höhe auf 62 Meter Breite recht stattlich. Es gibt auf der ganzen Welt kein Kamel, das da nicht hindurchkäme. Zwei Passagen für Fussgänger, zwei für Kutschen, die Mitte frei für königlich preussische Staatskarossen. Durch sie kam auch der siegreiche Napoleon 1807 in die Stadt. Die Könige von Preussen und drei deutsche Kaiser fuhren von ihrem Schloss ins Grüne des Tiergartens.
1848 und 1918 besetzten Revolutionäre das Tor. 1933 stilisierte sich Hitler mit seiner Hilfe als Testamentsvollstrecker Friedrichs des Grossen und Bismarcks. Sein letztes Aufgebot verteidigte das Symbol gegen die armen Rotgardisten, die es noch erobern mussten, obschon die Schlacht geschlagen war.
Dann mauerten die sowjetischen Satelliten 1961 das Tor ein und machten es für Hundertausende von Hobbyfotografen und zahllose Fernseh-Berichterstatter zum Beweis der Unfreiheit, bis das nicht mehr in die Moskauer Politik passte. Ungarn öffnete zuerst die Grenzen, die in Berlin noch versperrt blieben. Das Volk begriff schneller als seine Regierer. Es machte, ganz auf der Höhe des bürokratischen Jahrhunderts, seine „Deutsche Revolution“ mit Ausreisestempel und Polizeipapieren.
Nun steht das Brandenburger Tor, ein Jahr vor seinem 200. Geburtstag, für neue symbolische Akte zur Verfügung. Die beiden alten Geheimdienstler an der Spitze der Supermächte, Bush und Gorbatschow, können sich im Torbogen die Hände schütteln, „say cheese but nothing“, oder die Parteifunktionäre, die Bundesrepublik und Deutsche Demokratische Republik repräsentieren, Kohl und Krenz, können ein neues K.u.K.-Reich als Spitze ihrer Karriere dort anvisieren.
Aber geht Europa durchs Brandenburger Tor? Sicher nicht ohne Mitterrand. Er sollte bald einen Fototermin bekommen, um der Lenkerin der Quadriga auf dem Tor, der man 1958 Preussenadler und Eisernes Kreuz wegnahm, eine Jakobinermütze aufzusetzen… Vorausgesetzt, Mrs. Thatcher erlaubt es.
Die Sache ist nicht so komisch, wie sie aussieht. Auch wer nicht jeden AUgenblick für „historisch“ hält, den Politiker und Journalisten für „historisch“ erklären, muss einräumen, dass die Ereignisse ums Brandenburger Tor und die Löcher in den innerdeutschen Grenzen nicht auf Deutschland allein beschränkt bleiben können.
Sie sind eine Folge des verzweifelten Versuches, den Sowjetstern wieder zum Steigen zu bringen, indem man dogmatischen Ballast abwirft. Dazu muss das diplomatische Vorfeld bereinigt werden, und das kann nicht besser geschehen als durch Räumung des europäischen Glacis, soweit es militärisch entbehrlich geworden ist. Wenn im „europäischen Haus“ (Gorbatschow) jeder vor seiner eigenen Tür kehren soll, muss der damit anfangen, den die anderen nicht mögen.
Das muss schnell gehen, denn die westeuropäischen Politiker beeilen sich, den Wünschen der multinationalen Konzerne nachzukommen und den „Binnenmarkt“ tatsächlich 1992 aufzumachen. Wenn der „Ostblock“ nicht bis dahin seine koloniale Abhängigkeit als Zulieferer billiger Arbeitskraft für westliche Teilproduktionen verringert und neue Formen der Zusammenarbeit findet, wird er noch lange der „Affe auf der Schulter des Kapitalismus“ bleiben.
Dann sinkt der Sowjetstern. Nicht weil die materialistische Philosophie, die er kündet, so verschieden wäre von der materialistischen Philosophie, die den Westen regiert, sondern weil sie sich für die Massen nicht in Waren umsetzen lässt.
Der westliche Materialismus ist zum Anfassen und wird durch immer neue Kreationen täglich, stündlich neu geweckt: Triumph, Triumph — „Der Kunde ist König!“ Mit solcher Philosophie lässt sich leben. Lieber Fürst von Monaco als Bahnhofsvorstand in der großen Sowjetunion. „Haste was, biste was!“ köderte Konrad Adenauer 1957 seine Wähler. Er löste damit ein für allemal das „Mehr sein als scheinen“ des preussischen Feldmarschalls Moltke mitsamt dem benediktinischen „Ora et labora“ („Bete und arbeite“) ab.
Es genügt nicht, darüber die Nase zu rümpfen. Man sollte einräumen, dass mit der Mehrung der Mittel sich die Bedürfnisse der Selbstdarstellung jedes einzelnen vervielfachen. Der Reiche, der im Gleichnis mit dem Kamel nicht in den Himmel kommt, ist der übermächtige Selbstdarsteller. Westeuropa ist so voll davon, dass sie schon nicht mehr auffallen. Fragt man die „Übersiedler“, warum sie gekommen sind, erhält man alle möglichen Antworten; aber das Ungenügen an den Möglichkeiten der Selbstdarstellung spricht immer mit. Der „real existierende“ Kapitalismus verspricht mehr davon als der „irreal existierende“ Sozialismus, dem die Menschen entlaufen.
Am Grunde des Bündels wirtschaftlicher, politischer und sozialer Fragen, das mit dem preussischen Ballast auf Europa niedergeht, erhebt sich die alles entscheidende Frage nach dem gemeinsamen Menschenbild im zukünftigen Europa. Sie ist durch den Gegensatz zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden allzeit gegenwärtig. Durch die Ausdehnung auf die bisher hinter dem „Eisernen Vorhang“ verborgenen Osteuropäer erhält sie eine neue Dimension.
Wer in den letzten Jahrzehnten Osteuropa besucht hat, fühlte sich ins alte Europa zurückversetzt. Die alte Bausubstanz beherrschte, soweit sie den Krieg überstanden hatte, Städte und Dörfer. Man konnte einfahren, ohne sich in Denver/Colorado zu wähnen wie hierzulande. Es gab Pferdewagen auf Landstrassen, museumsreife Eisenbahnen, und die Menschen sahen aus, wie sie 1938 ausgesehen haben mochten. Die Literatur war Substanz, Elixier, Hoffnung zugleich, und um die Moderne zu sehen, mußte man Künstler in ihren Ateliers aufsuchen.
Das wirtschaftliche Scheitern des Staatskapitalismus und die Zensur erhielten viel „Europäisches“, das im Western überrannt, verdrängt, „amerikanisiert“ worden ist. Damit wird es nun zu Ende gehen. Wie in Westdeutschland 1948 nach der „Währungsreform“ werden die Osteuropäer ihren materiellen Nachholbedarf zu stillen trachten, und ein Literat aus diesen Ländern wird im Westen kein Paradiesvogel mehr sein und ohne Seltenheitswert im Strudel des Kulturbetriebs ums Überleben kämpfen wie seine westlichen Kollegen: Wer nicht „einschlägt“, fällt heraus. Der rasche Umsatz bestimmt die „Kulturindustrie“, nicht die Nach-Denklichkeit tut es. Er macht die Menschen wohlhabender und die Kultur ärmer.
Stirbt die Zensur, werden alte kulturelle Bande neu geknüpft werden: Polen und Franzosen bieten ein Beispiel schon jetzt, Ungarn und Österreich ein anderes. Das austriakische Erbe umfasst alle katholischen Völker der Habsburger-Monarchie. Unvermeidlich treten Gegensätze wieder hervor, die der Kommunismus gewaltsam unterdrückt hat. Die Rumänen, wenn sie ihren Diktator loswerden, werden sich den sprachlich Verwandten im Westen zuwenden. Und die Deutschen, seit Herder Zugpferde der osteuropäischen Nationalbewegungen, werden wieder der stärkste militärisch-industrielle Komplex auf dem Kontinent sein, wie vor 1914, wie vor 1939 …
Dazu brauchen sie keine staatliche Wiedervereinigung und nicht das unselige Bismarckreich, dessen Schatten alle schrecken. Es genügt, dass diese 80 Millionen gemeinsam organisieren, produzieren, finanzieren, exportieren und konsumieren, um längst vergessene Allianzen in Europa zu erneuern. „Die freudigste Revolution der europäischen Geschichte“, wie Golo Mann den Umschwung in der DDR nannte, könnte leicht zum traurigen Rückschritt der europäischen Sache werden, wenn sie den Nationalismus stärkt.
Die europäische Allianz ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied, und es ist schwer, „die Grossen“ davon zu überzeugen, dass sie auf „die Kleinen“ Rücksicht nehmen sollen, insbesondere wenn sie gross genug sind, mit Mächten ausserhalb des Bündnisses zu paktieren. Russland war fast immer Preussens Schutzmacht, und noch die Reichswehr der Weimarer Republik wurde mit Hilfe der Roten Armee heimlich aufgerüstet. Man kommt durch das Brandenburger Tor nicht nur westwärts ins satte Kurfürstendamm-Berlin, sondern auch ostwärts auf die ungesättigten Märkte bis Archangelsk. Das näherliegende „Mitteleuropa“-Konzept ist unvergessen. Es sollte vor 1914 der deutschen Industrie den Balkan unterwerfen.
Das alles spielt sich sehr weit von den europäischen Elendsgebieten im Süden ab. Aber auch dort existiert eine Arbeiterklasse, die sich nichts kaufen kann, und sie wandert, wie die DDR-Deutschen, die Polen, Jugoslawen, Griechen und Türken wandern. Über ihrem fremdländischen Erscheinungsbild vergessen wir oft, dass die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts auch die Mitteleuropäer zu Halbnomaden gemacht hat, die den industriellen Standorten nachziehen wie Hirtenvölker den Weideplätzen. Relative Sesshaftigkeit der Angekommenen verdeckt diesen Grundzug unserer Kultur; aber „arriviert“ ist erst, wer nicht mehr umziehen muss.
Wie tief dieses Halbnomadentum in der Kultur verankert ist, zeigen das Privatautomobil und der Massentourismus. Im Auto repräsentieren sich die Klassenunterschiede unverhohlen in Ober-, Mittel- und Unterklasse. Im „Umsteigen“ tun sich sozialer Auf- und Abstieg kund; Klassifikation der Selbstdarstellung.
Der Tourismus bewegt sich längst in rituellen Bahnen. Die halbjährliche Bräunung nördlicher Bleichgesichter signalisiert Mobilität und Konkurrenzfähigkeit beim kleinen Ladenmädchen wie beim Konzernherrn. Ich will nur mal nach Teneriffa, erklärte eine DDR-Schönheit dem Fernsehreporter…
Das Hin und Her dieser Wanderungsbewegungen entspricht der materialistischen Logik, die Europa von den Kanaren bis in den Ural regiert; aber sie muss notwendigerweise immer wieder zu Rivalitäten der ihr unterworfenen Menschen führen.
Ausländerhass, Fremdenfeindlichkeit, Chauvinismus werden epidemisch, solange soziale Ungleichheit herrscht. Der ausgeraubte Tourist und der verprügelte Asylbewerber sind Opfer des selben Prinzips. Schon haben Zuwanderer aus der DDR in West-Berlin verlangt, zuerst müssten mal die Polen und Türken „raus“.
Proletarier aller Länder, steinigt euch? Die ganz grosse Mehrheit aller Europäer ist lohnabhängig. Und sogar in der Bundesrepublik sinkt die Lohnquote seit der „Wende“ stetig und wird 1989 eine neuen Tiefstand erreichen. Europa braucht eine „Sozialcharta“ um seiner Kultur willen.
Europa kommt nicht durchs Brandenburger Tor. Es ist ein europäisches Kulturdenkmal, aber politisch ein Tor der Torheiten gewesen. Mag sein nobler Klassizismus mahnen für Europa eine bessere Politik zu machen. Diese aber muss aus den regionen kommen, „von unten“, vom Volk. Denn aus den prestigesüchtigen Metropolen kann sie nicht kommen; auch nicht aus dem daraufgesetztem Kulturbetrieb.
Kultur beweist sich im täglichen Umgang, und nie hatten so viele Europäer soviel Gelegenheit, ihre Kultur zu beweisen, wie in dieser Zeit fallender Grenzen und unvermuteter Begegnungen.