„Du möchtest gern über unsere Arbeit in Süddeutschland etwas wissen. Du bist Dir hoffentlich dabei bewußt, daß Du von einem Schaffenden darüber nie restlos Auskunft erhalten kannst, denn ich bin von Deiner These des ‚Dämonischen’ so überzeugt, daß alle Erklärungsversuche post festum nur ein notdürftiges Gerippe darstellt, dem Blut und Leben fehlen. Die Begeisterung, mit der hier von einzelnen und ganzen Gruppen in den letzten Jahren gearbeitet worden ist, ist schwer rational zu erklären. Genug: sie ist dagewesen, die Jahre über und hat Leben entzündet. Und wenn nicht alles trügt, glüht sie weiter, mögen auch die Menschen wechseln.“
So beginnt der Abdruck, Süddeutscher Arbeitsbericht, aus der Zeitschrift Der Kronacher Bund vom Mai 1929, in dem vorliegenden Band. Der Verfasser, Gustav Mittelstraß, schließt: „So sehe ich unser Tun in den letzten Jahren. Konkreteres zu sagen verbietet der Raum. Nur eins noch: unser Süddeutschland ist uns in einem Sinne lebendig geworden in den Menschen, die wir allenthalben wissen in den großen und kleinen Städten, in den Dörfern, auf dem Lande,
an deren Schicksal wir Anteil nehmen, als ob es uns Nächstverwandte wären. So ist unser Leben reich geworden an sachlichem Inhalt und menschlichen Werten. Und wir bejahen den den Bund als eine Kraft, die wir uns nicht mehr aus unserem Dasein wegdenken können.“
Nichts wäre leichter, als sich über solchen Schwulst lustig zu machen, den sprachliche und gedankliche Ungenauigkeit hervorgebracht haben. Auszuzählen, wie oft „schaffen“, „arbeiten“, „leben“, wie oft die „menschlichen Werte“, „die Menschen, die wir allenthalben wissen“, „Feuer“, „Glut“, „Blut“, „Sinn“ in diesem und anderen Texten des Bandes vorkommen, ergäbe ein „notdürftiges Gerippe“ der geistigen Verfassung; aber ihm würden, wie Mittelstraß schon 1929 wußte, „Blut und Leben“ fehlen, es wäre ein Computerprodukt.
In dieser Beziehung zitiere ich den Text, weil er die Schwierigkeit verdeutlicht, die für die Herausgeber im Material liegt: allenthalben füllt der Schwulst den Raum und verbietet, „Konkreteres zu sagen“. Am Abklatsch der Philosophien und Antiphilosophismen des ausgehenden 19. Jahrhunderts haben sie das Leben „dankbar empfunden als Bestätigung unseres Seins“, wie der zitierte Autor formuliert. Die Herausgeber, dem Milieu entstammend, haben sich große
Mühe gegeben, die Selbstdarstellung der Jugendbünde nach Qualität und Quantität gerecht wiederzugeben. Kommentare, in die weitere Lebenserfahrungen eingegangen sind, geben „Erklärungsversuche post festum“ und deuten das „Gerippe“ aus heutiger Sicht. Das beginnt mit der Darstellung der Bünde in den ersten Weimarer Jahren, umfasst neben den Wandervogelbünden und ihren Weiterentwicklungen die Pfadfinder, Jungenschaften, Partei- und Kirchenjugenden, einschließlich der Jüdischen Jugendbewegung bis zum Bund Neuland in Österreich und die „Sudetendeutsche Jugendbewegung“. Der zweite Hauptteil, „Sacharbeitsgebiete“, beschreibt die Beziehungen der Bünde zu Universität, Volksbildung, Schulreform, Sozialarbeit, Arbeitslager, Auslandsbeziehungen, Herbergswesen, Siedlungsversuche, Reichsausschuß der dt. JV., Jugendertüchtigung, Jugendmusik-bewegung, Laienspielbewegung, Tanz, Kunst und Künstler in der Jugendbewegung.
Professor Hans Raupach warnt in seinem Schlusswort davor, „die Jugendbewegung als eine nach gemeinsamen Lehren oder taktischen Grundsätzen handelnde Einheit anzusehen, sie als Ganzes für Getanes oder Unterlassenes verantwortlich zu erklären. Persönliche
Gegensätze und politische Spannungen zwischen den Gruppen setzten manchmal und gerade in kritischen Lagen das ‚Unbedingt-füreinander-Einstehen’ der Bekenntnisformel vom Hohen Meißner (1913) leicht außer Kraft. Gemeinsames ‚Lebensgefühl’ oder ‚Haltung’ vermehrten zwar in ruhiger Zeit den für das nationale Ganze wesentlichen Bestand an grenzüberwindender Verständigungsbereitschaft, sie bieten aber keinen Ersatz für fehlende Programme.“
Bekenntnisse sind nicht beweisbar noch widerlegbar, und es scheint, daß Raupach recht hat, wenn er das „Gemeinsame“, das ja schließlich zum Vorhaben auch dieses Bandes, „Deutsche Jugendbewegung“, gehört, im „Lebensgefühl“ und in der „Haltung“ sucht. Haltungen korrespondieren zwar mit sprachlichen Äußerungen, aber sie zählen zu den nichtsprachlichen Mitteilungsformen und sind durch Sprache nicht ohne weiteres ersetzbar – freilich auch Programme nicht durch noch so stramme Haltung.
Es ist letzthin gelegentlich über den „romantischen Rückfall“ (Richard Löwenthal) der Studenten geschrieben worden, und die „neue Linke“ hat empört darauf reagiert, sie habe mit dem Wandervogel nichts zu schaffen. Das in der Dokumentation über „die
bündische Zeit“ vorgelegte Material regt in seiner verbalen und programmatischen, seiner denkerischen Hilflosigkeit dazu an, den Faktor „Haltung“, wie er sich in den Zeremonien und Gebräuchen gebildet hat, zu einem Vergleich der zwanziger mit den siebziger Jahren heranzuziehen. Vielleicht ließe sich auf diese Weise auch der Widerspruch zwischen „Zersplitterung“ und „Breitenwirkung“ der Jugendbünde, der die Herausgeber beunruhigt, als scheinbar erkennen.
Die „Dokumentation der Jugendbewegung“ bietet eine Fülle von Material zum Studium der deutschen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts weit über den Selbstdarstellungsimpuls hinaus, der das dicke Buch zustande gebracht hat.
Die deutsche Jugendbewegung 1920 bis 1933. Die bündische Zeit, Dokumentation der Jugendbewegung Bd. III. Herausgegeben, von Werner Kindt im Auftrag des Gemeinschaftswerkes Archiv und Dokumentation der Jugendbewegung in Verbindung mit der Wissenschaftlichen Kommission für die Geschichte der Jugendbewegung. Diederichs Verlaq. 1840 Seiten, 155 Mark.