Ab 1. Januar 1993 sollen 320 Millionen Europäer ihre Haut zu einem gemeinsamen Markte tragen. Jeder vierte von ihnen wird ein deutscher Staatsbürger sein und somit der ersten Wirtschaftsmacht auf dem Kontinent angehören. Ihr Reichtum beruht auf ihrem Export. Deshalb hängt er von den Konjunkturschwankungen der Weltmärkte ab. Andere Prognosen rechnen schon mit einer halben Milliarde von und einem Wirtschaftsraum von den Kanarischen Inseln bis in den Ural. Die sozialen und politischen Bewegungen in Osteuropa nähren diese Erwartung, Gegen die Mangelverwaltung der staatlichen Kommandowirtschaft setzt sich dort der am Massenkonsum orientierte Plankapitalismus durch, der immer neue Bedürfnisse schafft. Er bringt auch den Gemeinsamen Markt von 1993 hervor.
»Die Schranken gehen hoch!« ist die offizielle Parole. Nationalstaatliche Grenzen verschwinden für den Kapital- und Gütertransport. Freizügigkeit der Bürger ist verkündet: eine übernationale Bü-
rokratie soll Niederlassungs- und Gewerbefreiheit garantieren. Nach dem Modell der Sozialen Marktwirtschaft wird sie als Marktpolizei wirken: die Konkurrenz sichern und zugleich deren Wunden salben. Jeder Markt muß seine Ordnung haben. In einem Marktflecken wie in unserem Weiler weiß man das seit 200 Jahren genauso wie in den Städten, deren Märkte weit ins Mittelalter zurückreichen. Das wird beim europäischen Binnenmarkt nicht anders sein, und es ist nicht anders auf den Weltmärkten.
Der »freie Markt« ist ein Traum und nicht einmal ein schöner: erstens ist er nicht frei sondern reguliert, und zweitens wird noch lange nicht jeder zugelassen. Darüber entscheidet die Polizei, eine marktfremde Instanz. Sie trennt »Innen« und »Außen«, den Wanderhandeln vom Ansässigen.
Wir können das im Großen bei den Debatten über »die Öffnung des japanischen Marktes« verfolgen oder an der »Drogen-Mafia«. Im Kleinen wird die Zugänglichkeit der Märkte problematisch, wenn polnische Grenzgänger auf einer Wiese mitten in Berlin billigen Schnaps verkaufen, oder an den Afrikanern, die nun den Europäern die Glasperlen aufschwatzen wollen, mit denen diese ihren Urgroßvätern Gold und Elfenbein entlockt hatten, und das
nicht nur an den Touristenstränden des Mittelmeers. Sie sind tatsächlich »fliegende Händler«, denn sie kommen per Flugzeug, das auch die turkmenischen Teppichhändler aus 1001 Nacht vor die Haustüren im Allgäu befördert — wo gerade der Tiefkühlwagen vorgefahren ist, der den einheimischen Lebensmittelhändlern Konkurrenz macht. Der Handel zieht von Haus zu Haus, den »Traum vom Fliegen« hinter sich — den Helmut Lamprecht neuerdings kommentiert hat.
Nomadisieren wird in der Umgangssprache für Herumziehen, Umherschweifen, Vagabundieren, häufig den Wohnsitz wechseln, gebraucht. Es hat den abschätzigen Unterton des Ansässigen gegen den Nichtseßhaften, zum Beispiel die Zigeuner, die jetzt Sinti und Roma heißen, überhaupt gegen die »Heimatlosen« (Kornhaus 1985). Im Griechischen war der nomados jemand, der mit weidendem Vieh umherzog, damit die Tiere zu fressen hatten, die ihn und seine Familie ernähren sollten. Dementsprechend verstand man unter Nomadismus das mit der Suche nach neuem Weideland verbundene Wandern.
Der Nomadismus — etwa der skandinavischen Lappen mit ihren Rentieren, der arabischen Beduinen, der Khirgisen in Turkestan oder der Masai in Ostafrika — erschien aus der europäischen bürgerlichen Perspektive lange Zeit als primitiv und überholt. Kein Wunder, denn Bürger kommt von Burg und bergen — in unserer Zeit finden wir es noch in »borgen », also leihen: wem die Banken nicht borgen, der ist kein rechter Bürger.
Überdies setzt unser Teilzeit-Nomadismus der alpinen Almwirtschaft und der Wanderschäferei auf der schwäbischen Alb die feste Siedlung voraus. In diese Kategorie gehören auch die Saisonarbeiter, die heimkehren.
Der Begriff Siedlung ist in Fortsetzung der alldeutschen Volkstumspolitik unlängst durch die Neubildungen von »Aus-« und »Übersiedlern« aufgewertet worden. Sie suggerieren neue, geborgene Seßhaftigkeit; aber es wird wohl nur eine geborgte Seßhaftigkeit daraus werden, weil die europäische Gesellschaft insgesamt in Bewegung ist und auf dem Großmarkt ab 1993 sich noch schneller wird bewegen müssen. Wirtschaftliche Dynamik erfordert Beweglichkeit. Das Kapital und die Arbeitskraft nomadisieren.
Die europäische Kultur ist von den Städten bestimmt; aber die Städter kamen von außen. Da war immer Zuzug, der die Geschäfte in Zug brachte und Neues erbaute. Die historische Architektur Deutschlands ist weithin italienischen Handwerkern zu verdanken, die rasche Verbreitung des Druckgewerbes über Europa den deutschen Jüngern Gutenbergs. Gorbatschows Nachfrage nach westlichem Know-how wiederholt die des russischen Zaren Peter, den sie dann den Großen nannten. Europa ist als Mischkultur Wandernder und Seßhafter entstanden. Es kann sich nur als solche fortsetzen. Daran ist nichts Neues.
Das Neue ergibt sich aus den veränderten Verkehrsbedingungen. Vor fünfhundert Jahren die Post, im letzten Jahrhundert die Dampfmaschinen und Eisenbahnen, dann Automobil und Flugzeug haben den Transport von Mitteilungen, Menschen und Gütern um ein Vielfaches beschleunigt und die Beweglichkeit erleichtert. Sie ermöglichen den Industriestaaten zu wachsen und den Armen,
außer Landes zu gehen. Die europäische Völkerwanderung des 19. Jahrhunderts ging in die Industriezentren, überwiegend aber in die Neue Welt, nach Amerika. Wo die Einwanderer in der Weite des »neuen Kontinents« ein »neues Jerusalem« erbauen wollten; aber nur die Enge des alten Jerusalem reproduzierten — die sie freilich nicht kannten. Denken Sie an den Fassler aus Weiler im Allgäu, der in New York die U-Bahn baute!
Marx und Engels, über die dieser Tage so viel haarsträubender Unsinn geredet und geschrieben wird, haben in ihrem Kommunistischen Manifest 1849 eben diese nomadisierenden Arbeitskräfte vor Augen gehabt, die sich an den Standorten von Kohle und Eisen zusammenballten. Wenn heute eine Untersuchung der Universität York belegt, daß im England unserer Tage sich monatlich 20 000 Personen und Familien als obdachlos melden, nimmt offenbar die Seßhaftigkeit der Lohnabhängigen ab und die Suche nach neuem »Weideland«, sprich Arbeit und Obdach, zu. Die Soziologen sprechen in diesem Fall von »Migration« und bezeichnen damit individuelle wie kollektive Ortswechsel, nah und fern, gewünschte von einem System in ein anderes, geduldete, geförderte, organisierte und unfreiwillige Bewegungen.
Für die Anpassung der Wanderer hat die Wissenschaft Begriffe wie Akkulturation, Assimilation und Integration bereit: Die soziale Schwäche, die Ungeborgenheit des Wanderers zwingt ihn dazu, bisherige Verhaltensweisen zu ändern und die der neuen Umwelt zu erlernen. Das beginnt mit den Grußformen, umfaßt Gestik, Mimik, Sprache. Erst wenn der Migrant alle äußeren Merkmale der neuen Mitmenschen eingeübt hat, gewöhnen diese sich an den Neuling. Erst dann erscheint der Neuling gewohnt und nicht mehr befremdlich. Erst dann ist er angekommen und kommt im täglichen Umgang an. Dann wird es wohnlich für ihn. Das dauert lange und gelingt fast nie vollständig. Auch ist die Eingewöhnung widerrufbar — den in West-Berlin geborenen türkischen Kindern zum Beispiel, die »Icke, Icke«, das Berliner Hauptwort, in Haltung und Dialekt genauso verkörpern wie andere Westberliner auch, droht jetzt die Ausgrenzung durch andere »Icke, Icke«s aus dem Ostsektor der Stadt, die ihrer familiären Herkunft nach noch ein paar Merkmale mehr verdanken und die entsprechenden Rang-Vorstellungen herantragen. (Das Wort »Vorstellung« wird hier verstanden als Denkbild von der eigenen Bedeutung in der Welt, wie auch als dessen theaterähnlicher Aufführung vor den anderen Leuten.) Die
Türkenkinder reagieren folgerichtig, indem sie sich zu Banden formieren, um ihrerseits bei anderen Geltung zu demonstrieren.
So entstehen immer wieder Klein-Kriege um Prestige und Verfolgungen. In diesem Fall auf der Grundlage der überlieferten Vor-Urteile seit den Kreuzzügen im Mittelalter und den Türkenkriegen, die ja im christlichen Mythos ihren festen Platz haben. »Sie sollen doch hingehen, wo sie hergekommen sind« ist dann der hilflose Ausdruck gegenüber realen Veränderungen der europäischen Wirtschaftsstruktur, denen wir alle unterliegen. Ihnen mit Wunsch-Vorstellungen begegnen zu wollen, gleich dem Versuch, den Euro-City mit einer Beschwörungsformel anhalten zu wollen. Aber in Zeiten erschwerter Orientierung gibt es immer Rückfälle ins magische Denken. Das unterscheidet nicht Bild und Sache, Wahrnehmung und Vorstellung, Wunsch und Erfüllung. Deshalb ist es rationalen Argumenten unzugänglich und wird schnell gewalttätig.
In der Mitte des 17. Jahrhunderts, als die moderne Physik heraufkam, fand einer ihrer Vor-Denker, Blaise Pascal, »daß alles Unglück der Menschen einem entstammt, nämlich, daß sie unfähig
sind, in Ruhe in ihrem Zimmer zu bleiben.« Er schrieb das in einem Fragment über die Zerstreuung (Pensees 139). Heute können die Leute nicht in Ruhe in ihrem Zuhause bleiben, weil ihnen die Zerstreuung ins Haus gefunkt wird.
«Unsere Natur ist in der Bewegung, völlige Ruhe ist der Tod.« Das wußte derselbe Pascal. Man kann daraus schließen, daß ein großer Teil der körperlichen Bewegung, der seelischen Unrast, des Wechsels zwischen den Einheiten sozialer Systeme und der Wanderung von einer geographischen Region in die andere nicht-mitteilbare Ängste vor der Ruhe und vor dem Tod bannen sollen. Die »Wahnsinnige Liebe zum Auto«, von den Ärzten Till Bastian und Harald Theml beschrieben, hat etwas mit der Kompensation seelischer Mängel zu tun.
Ebenso der Freizeit-Nomadismus, der sich in den rituellen Sommerferien selber stranguliert, weil die realen Verkehrswege mit der irrealen Gleichsetzung von Wunsch und Erfüllung durch ihre Benutzer überlastet sind. Innerhalb von hundert Jahren hat sich aus dem Kampf um den arbeitsfreien Sonntag dank technischer Fortschritte die komplette Vermarktung des Wanderbetriebs entwickelt. Sie stellt ihm schichtenspezifische Statusvehikel zur Verfügung, die für die Urlaubszeit auch individuellen Aufstieg in eine andere soziale
Klasse ermöglichen, wie den vorübergehenden Ausstieg aus der sozialen Hierarchie — in jedem Fall aber das »Bad in der Menge«.
Der Freizeit-Nomadismus ist rituell und Pflicht für den Unternehmer, den Minister wie den Arbeitslosen. Die vorzuzeigende Bräune bescheinigt Leistungsfähigkeit. Dieser Tage ließ das ZDF den bedrängten Bundesfinanzminister vor dem Interview mehrfach durch alpines Hochmoor hüpfen. Eine neckische Art, die Hofberichterstattung über die Jagdveranstaltungen der Potentaten fortzusetzen. Personen in leitenden Positionen müssen ihre Beweglichkeit unter Beweis stellen, früher hoch zu Roß, heute wenigstens im Bild. Das amerikanische Fernsehen präsentiert die kriegerischen Entscheidungen des US-Präsidenten in der Golf-Krise demonstrativ beim Jogging und auf dem Golfplatz, wo er mit wichtiger Miene einen lächerlichen Elektrokarren ins Bild chauffiert. Puer aeternus…
Zar Karriere (=Laufbahn) gehört schon lange, nicht nur in der Diplomatie sondern mach in der übrigen Beamtenschaft und bei Wirtschaftsmanagern, der Orts- und Positionswechsel über die
Landesgrenzen hinweg. Im Europa der Regionen wird er zur Selbstverständlichkeit werden. Eine neue Generation internationalisierten Sachwuchses wird heranwachsen. Dabei bleibt die Frage zunächst offen, ob sich in Europa nach der gegenwärtigen Süd-Nord-Wanderung der Industriearbeiter eine Nord-Süd-Wanderung ergeben wird, wie sie in den USA seit Mitte der 60ger Jahre sich anstellte, als die alten Industrieanlagen des Nordens unbrauchbar geworden waren -abgegrasten Weideflächen gleich — und das Kapital im Süden neu investierte. Ob nomadisierendes Kapital im europäischen Osten sich niederläßt, entscheidet über dessen politische Zukunft.
Nachdem die Elektrizität Kohle und Stahl als Industrieenergie überholt hat, verteilt sich die Arbeitsmobilität, die im letzten Jahrhundert etwa im Ruhrgebiet, in Sachsen, Oberschlesien oder an der Saar strandete, über das ganze Land. Die Fabrik kommt aufs Dorf, nicht mehr nur der Dörfler zur Fabrik — wie Max Solms vor sechzig Jahren untersucht hat.
Unter dem Gesichtspunkt Verkehr betrachtet, bringt diese Neuheit städtische Schwierigkeiten auch dorthin, wo bisher »Stoßzeiten« unbekannt waren. Sie werden psychologisch zu »Anstoßzeiten« mit den Folgen, die Hertha Sturm aus der Einschränkung des individuellen »Aktionsradius« ableitet.
Die Mobilität der Nordamerikaner ist sprichwörtlich. Alle drei bis fünf Jahre ziehen sie um in einen anderen Ort oder einen anderen Staat. Die europäische Industriegesellschaft wird ihnen darin nicht nachstehen, wenn der »Binnenmarkt« in Gang kommt. Die wirtschaftlichen Bedingungen erzwingen dieses moderne Nomadentum. Es entspricht, wie das historische der Wanderhirten, den Zwängen, neue »Weidegründe« finden zu müssen. Aber im Unterschied zu Amerika hat Europa keine gemeinsame missionarische Ideologie. Es ist nicht als »Jehovas eigenes Land« geplant, sondern ein Kontinent vieler Götter und unsichtbarer Grenzen, Sprachgrenzen vor allem! Sie sind Barrieren der Mündigkeit und das allgemeine Englisch ist ein schwacher Ersatz (Wulf Wülfing, Kornhaus 1988). Europas Einheit liegt in seiner Vielfalt, von Dorf zu Dorf, von Region zu Region, von Mundart zu Mundart. Wo die staatlichen Schranken hochgezogen werden, gehen zunächst die Schranken herunter, die zwischen Menschen und Menschengruppen bestehen.
Das gegenwärtige deutsch-deutsche Beispiel ist da anschaulich genug. Dabei entstehen, wie der Migrationsforscher Klaus Bade jüngst festgestellt hat, »Hackordnungen« nicht nur zwischen »aus-
ländischen Inländern« und fremden »Aussiedlern« mit deutschem Personalausweis, sondern auch zwischen den Einheimischen und den »Übersiedlern«: »Schnauzbart und Kopftuch wecken am Arbeitsmarkt, im Arbeitsund Sozialamt weniger Angst um Verteilungsgerechtigkeit, als der sächsische Akzent.« (Universitas, 8/1990)
Für die jahrzehntelange Propaganda von den »Schwestern und Brüdern im anderen Teil unseres Vaterlandes« schlägt nun die Stunde der Wahrheit. Bei einem geschätzten Fehlbedarf von 900 000 Wohnungen zum Jahresende 1990 wird manche Vor-an-kündigung von »diesem unserem Lande« korrigiert werden müssen.
Der heutige »Drang nach Westen« ist die ökonomisch motivierte Antwort auf den militärischen »Drang nach Osten« von vorgestern. Es wird immer »Unverbesserliche« geben, die solche Bewegungsabläufe nicht erkennen wollen; aber für die Mehrheit gilt wohl die Prognose der Witwe des am 23. Januar 1945 hingerichteten schlesischen Grafen Helmuth von Moltke. Freya Moltke sagte unlängst voraus: »Die Deutschen werden erkennen, daß es das rein deutsche, das Ausländerfreie, in einer so eng gewordenen Welt nie mehr geben wird, nicht mehr geben kann. Wer solches heute noch
oder wieder fordert, verkennt jedliche europäische Realität, verkennt aber auch, wie befruchtend doch gerade diese Völkermischung besonders für die Deutschen ist.« (FAZ, 18.8.1990)
Die Deutschen waren immer eine Durchmischung. Man sieht es ihnen an; aber der verspätete Nationalstaat wollte es nicht wahrhaben. Er ist im Zeitalter der Dampfmaschine zurückgeblieben. Neues hat begonnen. Aber was immer Menschen beginnen, stützt sich auf ihre Vorstellungen, die sie auf Grund von Vor-Wissen und Vor-fallen sich bilden. Es gab weder in Deutschland 1945 noch in Ost-Europa 1989 eine »Stunde Null«.
Auch das Europa von 1993 hebt seine Zollschranken auf Vorausplanungen einer in Wahrheit ungewissen Zukunft. Alles geschieht auf Grund von Vor-Ahnungen, Vor-Gefühlen, Vor-stellungen, Vor-sichten, Vor-Rechten, Vor-Berechnungen, Vor-Kenntnissen, Vor-Meldungen, Vor-Wissen, Vor-Planungen, Vor-Absprachen, Vorverträgen, Vor-Bildern, Vor-Führungen in TV/Theater/Kirche/Politik, aus Vorschriften, Vor-Studien — kurz: auf
Grund von verschiedenen Arten von Vor-Urteilen, die in entscheidenden Momenten sich als richtig oder falsch erweisen können, bestätigt oder überholt sind in der Begegnung mit anderen Menschen in anderer Umwelt, die ihrerseits sich nach ihren Vor-Urteilen richten.
Der Zirkel vom Vor-Urteil zum Verstehen (Gadamer) und wieder zum Vor-Urteil ist unauflösbar, weil jede Antwort in der Kommunikation neue Fragen aufwirft. Erkennen erhellt die Vor-Kenntnis als Un-Kenntnis. Vor-Wissen wird als Un-Wissen »entsorgt«. Berge von Sorgen türmen sich auf wie die Schutthalden am Rande der Städte.
Überall dort, wo soziale Kontrolle nachläßt, kommen überdies lange unterdrückte Vor-Urteile wieder hoch und führen zu magischen Ausbrüchen, die längst erledigt schienen. Sie protestieren gegen die Rationalität und die gebotene Vernunft. Der Prozeß der Zivilisation muß immer von vorne beginnen, schrieb der jüngst verstorbene Soziologe Norbert Elias. Das ist auch die Botschaft, die unser Freund Kopelew nach seinem jüngsten Moskau-Aufenthalt über die »Widersprüche der »Perestrojka« mitbringt.
Gute Gründe, um über die Zusammenhänge von Freizügigkeit und Vor-Urteil zu sprechen. Jeder schleppt mit seinen Vorurteilen seine Grenzen mit sich herum. Nicht umsonst spricht man von »beschränkten« und »offenen« Zeitgenossen; aber Offenheit allein genügt nicht.
Wenn die Chance von 1993 nicht nur in ökonomischen Planungen vertan werden soll, dann ist ein aufklärerischer Prozeß in Gang zu setzen, eine Kulturoffensive, die auf breiter Basis die Vielfalt der Überlieferungen und der Neuerungen kritisch überprüft, das Erhaltenswerte verteidigt und das Wünschenswerte fördert: Das kritische Maß ist die Verwirklichung der Menschenrechte. Sie sind das Wichtigste, was der »alte Kontinent« in den letzten zweihundert Jahren der Weltzivilisation vorgegeben hat.
Europa hat mit der neuen Freizügigkeit jenseits der Nationalstaaten die Chance, durch alle Völker und Klassen hindurch und bis in den letzten Winkel, sich seiner Vielheit bewußt zu werden und die Einheit der Menschenrechte daran zu beweisen.
(Diese Fassung folgt dem im Kornhaus, Ende August 1990, gehaltenen Version.)