In der Berliner Wochenschrift »Das Tage-Buch« erschien 1924 eine heftige Kritik an der deutschen Friedensbewegung. Ihr Autor bemängelte das »robuste Deklamatorentum« und die »haßerfüllten Expektorationen wilder Männer«, die der »freundlichen Predigt der Suttner« gefolgt seien.
Wörtlich: »Dazu sind gestoßen Fanatiker und Sektierer aller Art. Projektemacher mit dem Kardinalrezept für alle Weltübel, Allerweltsreformer, die das Fleisch verabscheuen, infolgedessen auch Muskelkraft und alles Masculine überhaupt, sie zeugen ihre Kinder, wenn es schon mal nicht anders geht, dann wenigstens mit ausgesprochener Unlust, und möchten die ganze Menschheit am liebsten auf Kohlrabi-Diät festlegen. Die Politiker sind zwischen Querulanten und wunderlichen Heiligen in der Minderzahl. Sie haben das ihrige getan, aber es ist ihnen bisher nicht gelungen, die Bewegung als solche an den Realitäten zu orientieren. Und da gerade liegt das Entscheidende: der Pazifismus muß politisch werden und nur politisch …«
Der Autor dieser Kritik hieß Carl von Ossietzky. Er war 35 Jahre alt, er hatte im Januar 1924 die »Liga Junge Republik« mitbegründet, kandidierte zu den Reichstagswahlen 1924 für die »Republikanische Partei« in Potsdam und wurde im Juni desselben Jahres Redakteur am »Tage-Buch«, das Stefan Grossmann und Leopold Schwarzschild herausgaben in Konkurrenz zur »Weltbühne« Siegfried Jacobsohns, als deren leitender Kopf Ossietzky ab 1926 Pressegeschichte machte.
Ossietzkys frühe Kritik an der Friedensbewegung gab den Zustand des Pazifismus nach dem Ersten Weltkrieg ziemlich genau wieder. Sie war ein Sammelbecken ganz unterschiedlich motivierter Einzelner und Gruppen, die sich nur partiell auf eine gemeinsame Linie einigen konnten, wie das bei allen sozialen Bewegungen und politischen Parteien zu sein pflegt. Dem heutigen Leser des Zitats von 1924 kommen »Die Grünen« in den Sinn mit ihren Widersprüchen zwischen »Realos« und »Fundis«; aber auch die älteren Parteien, einschließlich der hundertjährigen Sozialdemokratie, stellen immer wieder unter Beweis, daß ein gemeinsamer Name noch lange keine Gemeinsamkeit garantiert.
Was heißt es also, wenn Ossietzky 1924 proklamiert, der deutsche Pazifismus müsse politisch werden, »und nur politisch«? Die Absicht seines Appells war klar:
»Die notwendigste Idee unserer Zeit darf nicht zum Steckenpferd kleiner Prinzipien-Jockeys werden. Der Weg zum Volk muß gefunden werden, damit das deutsche Volk endlich wieder den Weg zu den Völkern findet.«
Fast mit den gleichen Worten beschließt der polnische Historiker Karol Fiedor eine Abhandlung über Ossietzky und die Friedensbewegung. Er zitiert die polnische Zeitschrift »Wiadamosci Literackie« Nr. 24/1938 zu Ossietzkys Tod wie folgt: »Verlieren wir nicht die Hoffnung. Vielleicht kommt wieder eine Zeit, wo sich in Deutschland nicht nur für Stahl und Eisen, sondern auch für Menschen guten Willens Platz findet, für Menschen, denen der verstorbene Ossietzky Wegweiser und Panier wird. Vielleicht wird das Opfer des großen und stillen Kämpfers, das Brandopfer eines edlen Menschen zum Beispiel für eine neue Generation guter Menschen.« Das war 1938 eine kühne Hoffnung, denn als Ossietzky starb, hatte sein Jahrgangskamerad Hitler soeben »vor der Geschichte« den »Anschluß« seiner Heimat Österreich an das Deutsche Reich vollzogen und schwamm auf einer Woge großdeutschen Nationalismus von Flensburg bis Graz neuen »Stahl-und Eisentaten« entgegen. Der »Anschluß« Österreichs, ein Traum des Revolutionsjahres 1848, der Republik 1919 von den Siegern im Ersten Weltkrieg verboten,
1931 mit einer wiederum verbotenen Zollunion präpariert, setzte Hitler in die Position, das gemeinsame Interesse der drei polnischen Teilungsmächte, Preußen, Österreich und Rußland, erneut zur Geltung zu bringen.
Dazu war viel »Stahl und Eisen« nötig und jener menschliche Stoff, den Bismarck gerühmt hatte, als er das Reich eine Gründung von »Blut und Eisen« nannte, in dem folgerichtig das Militär »die Schule der Nation« werden sollte. Diese »Blut und Eisen«-Nation schien 1938 auf ihrem Höhepunkt. Der »kleindeutsche« Geburtsfehler von 1870/71 war korrigiert. »Das Reich« war die stärkste Militär- und Wirtschaftsmacht in Europa, die zweitstärkste Industrienation der Welt.
Vom nationalistischen Standpunkt aus war das wichtigste zur »Weltgeltung« geschafft. Es blieb übrig, die »Volksdeutschen heim ins Reich« zu holen und gewisse Gebietsverluste aus der Niederlage im Ersten Weltkrieg rückgängig zu machen. So kalkulierten auch die »Realpolitiker« in Ost und West, wohlbewandert im Kräftespiel der europäischen Staaten, dessen Regeln sie selber zu beherrschen glaubten, aber ignorant dem deutschen Wahn gegenüber,
der die Fesseln der Vernunft längst gesprengt hatte. Die Erfahrung der Jahrhunderte lehrte, daß die Mächte ihre Gewinne erst einmal verzinsten, nicht aber, daß sie das Gewonnene leichthin wieder aufs Spiel setzten, die Geschäftsleute nicht ihre Investitionen, die Generale nicht das Drohpotential ihrer Truppen, die Staatslenker nicht ihren Nimbus. So beeilten sich denn die Großmächte England/Frankreich/Italien, mit dem siegreichen Hitler einen »Frieden in dieser Zeit« zu verhandeln, ehe er und Stalin, der »Stahlmann« von Moskau, Osteuropa unter sich aufteilten.
Das »Abkommen von München« im Herbst 1938 hat Carl von Ossietzky nicht mehr erlebt. Er starb am 4. Mai, wenige Wochen nach dem »Anschluß«. Seine Lebensspanne umfaßte fünf Jahrzehnte, in denen der von Bismarck politisch organisierte militärisch-industrielle Komplex »Deutsches Reich« im »Wilhelminismus« sich in die militärische Niederlage hineinsteigerte, sich rasch erholte und im Bündnis der alten Oberschicht mit dem »Gefreiten des Ersten Weltkrieges«, Adolf Hitler, straffer organisiert als je, auf eine neue Niederlage zusteuerte. Der Kaiser Wilhelm II, der 1888 an die Regierung gelangt war und bis 1918 an ihr hängen blieb, lebte noch, als Ossietzky starb.
Monarchistische Gefühle waren den älteren Jahrgängen nicht durchweg abhanden gekommen. Restauration, nicht Revolution war die politische Grundtendenz der Jahre 1888-1938 bei aggressiver Wirtschaftsentwicklung. Das alte, vielfach gegliederte, im Werten und Fühlen pluralistische Deutschland war im 19. Jahrhundert durch die preußische Militärmacht auf den Weg der Konzentration getrieben worden. Deutschland hat die Politik gewählt, schrieb 1870 der Baseler Beobachter Jacob Burckhardt, man muß zusehen, wohin sein Weg führt. Carl von Ossietzky hat ihn als Irrweg beschrieben.
Als Sohn eines ehemaligen preußischen Unteroffiziers, Carl Ignatius von Ossietzky, und der 18 Jahre jüngeren Rosalie Marie Pratzka wurde Carl von Ossietzky am 3. Oktober 1889 in Hamburg geboren und katholisch getauft. Der Vater arbeitete seit 1879 als Stenograph im Rechtsanwaltsbüro Predöhl & Behn und betrieb nebenher ein Milchgeschäft. Er starb an einer Lungenentzündung, als das Kind erst zwei Jahre alt war.
Die Mutter führte den Milchladen mit Speisewirtschaft in der Michaelisstraße weiter und gab Carl der Schwester des Vaters in Pflege, einer strengen Katholikin. Er überlebte die Cholera-Epidemie von 1892,
der in Hamburg 7500 Menschen zum Opfer fielen, auch und gerade im verslumten Hafen-Gängeviertel der Neustadt-Süd, wo die Ossietzkys zu Hause waren. Auch Carls einziger Onkel war unter den Toten. Das Gängeviertel wurde 1901 abgerissen.
Rosalie von Ossietzky heiratete nach langer Witwenschaft 1898 den Holzbildhauer und -schnitzer Gustav Robert Walther und holte den Sohn zu sich zurück. Die Tante hatte im Sinn gehabt, den vaterlosen Knaben Priester werden zu lassen, die Mutter, aus einer evangelisch-polnischen Familie, ließ ihn 1904 lutherisch konfirmieren. Evangelisch auch der neue Papa. Er war aus Zeulenroda im Vogtland nach Hamburg gekommen, einer von Millionen Deutscher, die im Zuge der Industrialisierung in den großen Städten eine Zukunft suchten. Die Biographen sagen Walther sozialdemokratische Grundsätze, Weltoffenheit und hohes Verantwortungsbewußtsein nach.
Der langjährige Sekretär der deutschen Liga für Menschenrechte, Kurt R. Grossmann, Kampfgefährte und Freund Ossietzkys in den 20er Jahren, berichtete 1963 in seinem Ossietzky-Buch, Stiefvater Walther habe den jungen Carl sowohl August Bebel sowie Bertha von Suttner zugeführt. Fiedor hingegen legt den Nachdruck auf Ossietzkys Lektüre des Romans »Jean Christof« von Romain Rolland und schreibt:
»Die Helden des Johann Christof — so scheint uns — beseelten den jungen Ossietzky zur Bekämpfung jeglichen Chauvinismus und Nationalismus in allen ihren Abarten… Gerade als deutscher Patriot warnte er die Menschheit von Seiten eroberungssüchtiger Kreise des preußischen Militarismus drohender Gefahr.«
Ehe es dahin kommen konnte, mußte der Junge zur »Höheren Schule« gehen. Diese Chance bot ihm der langjährige Arbeitgeber des Vaters, der Rechtsanwalt und Senator Dr. Max Predöhl. Er verschaffte ihm einen Freiplatz an der privaten Rumbaumschen Realschule, den Carl von Os-sietzky acht Jahre lang innehatte. In seinem Lebenslauf von 1907 bezeichnete er »immer Geschichte und Geographie« als seine Lieblingsfächer. Er lernte fünf Jahre Englisch und drei Jahre lang Französisch. Besonderen Nachdruck legte die Schule auf den Deutschunterricht. Die Realschule war in jenen Jahren ein Aufstiegsinstitut vom Kleinbürgertum in den Mittelstand.
Es dauerte eine ganze Weile, bis der Heranwachsende, stolz auf seinen Vatersnamen und bedrückt von seiner schwachen sozialen Stellung, seine Träume politisierte. Biographin Elke Suhr weist dem Luther-Denkmal an der Hamburger Michaelis-Kirche wegweisende Bedeutung zu. Als Kind mag er oft zu ihm aufgeblickt haben, er sah es täglich unweit der elterlichen Haustür.
»In späteren Artikeln hat er sich wieder und wieder mit Luther auseinandergesetzt. Zeitlebens hat er vorgehabt, ein Luther-Buch zu schreiben.« Aber er war kein Kirchenmann, sondern einer, der »das Heil« außerhalb der Ecclesia, der Kirche, suchte.
Die normale Opposition Heranwachsender gegen die Institutionen Familie, Schule, Kirche hatte sich in seiner Generation zur »Jugendbewegung« geweitet. Sie war verursacht durch die ständig sich wandelnden Lebensweisen in den Großstädten mit ihren häufigen Wohnungswechseln und Statusveränderungen. Das verlangte von den Betroffenen ein hohes Maß von Mobilität, und diese wiederum brauchte zur Orientierung im Verlust von Werten und Bezügen einheitliche Weltsichten.
Der junge, eher schmächtig gebaute Carl von Ossietzky, von stämmigen Schulkameraden häufig geplagt, konnte dem forschen Ton der Jugendbewegung nichts abgewinnen. Er verkroch sich in die Welt der Literatur. Elke Suhr berichtet in ihrem 1988 erschienenen Buch, er habe einmal fünf Tage hintereinander das Haus pünktlich zur Schulzeit verlassen und sei zur gewohnten Zeit zurückgekommen, habe aber in der Zwischenzeit sich mit einem Band Hölderlin an die Alster gesetzt, »bis ein Polizist der Träumerei ein Ende machte. Er schreibt Gedichte über Liebe, Erotik, Frühling und Freiheit.
Doch sein Sehnsuchtsland bleibt unerreichbar, bei den Sternen, die er immer wieder andichtet.«
Ossietzky hoffte, Beamter des Hamburger Staates zu werden. Predöhl unterstützte ihn in seinem Bestreben, indem er ihm ermöglichte, das Privatinstitut Dr. Gustav Goldmann zur Vorbereitung auf die »Mittlere Reife« zu besuchen. Der gewünschte Erfolg blieb aus; aber bei Goldmann lernte Ossietzky einen gleichfalls zur Melancholie neigenden Jüngling kennen und schätzen, den späteren Schriftsteller Ludwig Tügel. Bei ihm ging es nicht um den Aufstieg. Das Institut sollte den Sohn eines Generaldirektors vor dem Abstieg bewahren. Die Mittlere Reife berechtigte zur Verkürzung der Wehrpflicht auf ein Jahr, das sogenannte »Einjährige«, und eröffnete in der »Schule der Nation« die Möglichkeit, Reserveoffizier zu werden und so der tonangebenden Adelsklasse sich zu nähern.
Damit war es also nichts. Das Beste, was Dr. Goldmann dem Absolventen Ossietzky auf den Weg geben konnte, war der Ausdruck seiner Überzeugung, daß sein Schüler »sich stets durch Pünktlichkeit und Gewissenhaftigkeit auszeichnen wird.« Darin behielt er recht. Wenn Ossietzky auch die spezifische »deutsche Pünktlichkeit«, dem Volk durch jahrzehntelangen Militärdienst von Generation zu Generation immer aufs Neue eingedrillt,
anders übte, als sie im Betrieb des militärisch-industriellen Komplexes erwünscht war, so zählte sie doch zu seinen lebenslangen Tugenden, und an Gewissenhaftigkeit im Großen wie im Kleinen sollte er sich von niemandem übertreffen lassen.
Wiederum half Predöhl — seit 1910 Bürgermeister und 1914 Erster Bürgermeister der Hansestadt — dem Schützling weiter. Als »nicht fest angestellter Hilfsschreiber« begann Ossietzky 1907 mit einem Jahresgehalt von 360 Mark seine Laufbahn, schon fest entschlossen, Schriftsteller zu werden: »Sie schickten mir ein Gedicht. Das ist höchst minderwertig. Gequassel«, beschied ihn Freund Tügel. Am 18. Geburtstag bedachte er sich mit Selbstkritik:
» … Dreimal selig die da leben
in dem Jugendideal.
Immer von sich selbst entzückt,
viel geredet nichts getan –
Gott, die Leute sind verrückt
aber glücklich in dem Wahn.
Selig wer in seinem Sparren
nie das Eine klar erkennt;
wie vor einem Schinderkarren
keuchend er als Zugochs rennt.«
Aber die lineare Zucht der Schrift sollte bald seine kreisenden Gedanken in Reih und Glied zwingen und sie zu politischen Sätzen formieren.
Das Vergraben in Bücher ist bei Heranwachsenden nicht nur Absonderung von der störenden Umwelt und nicht nur Flucht in die Erkenntnis anderer Welten. Lektüre vermittelt zugleich das Gefühl, von der Umwelt frei zu sein, und sie erlaubt, die künftige Rolle im Verhalten der literarischen Figuren zu antizipieren. Ossietzky machte so extensiven Gebrauch von dieser Möglichkeit, Welt einzuüben, daß er die Umwelt darüber vergaß und korrigiert werden mußte.
Was wunder, daß die Schaubühne ihn anzog. Das Theater gab nicht nur beispielhafte Rollen, Auftritte und Abgänge, sondern auch und vor allem Wortstreit und habituellen Protest gegen die gültigen Konventionen. »Lulu«, »Jugend«, »Die Weber« waren noch neu, Hauptmann, Strindberg, Halbe, Wedekind aktuelle Theaterdichter. Nach langer Unterdrückung einzelner Stücke boten sie genug Stoff, um Sätze und Gegensätze aufzunehmen, Haltungen zu bewundern und das eigene Rollenverhalten zu probieren.
Der 1878 geborene Rechtsphilosoph Gustav Radbruch aus Lübeck schrieb in seinen Erinnerungen »Der innere Weg«: »Aber es gehörte zu den Freuden mittelstädtischer Theaterbesucher, ihre Schauspieler nicht nur als Künstler zu kennen, sondern auch in ihrem Privatleben, um ihre Spannungen und Liebschaften, ihre Eifersüchte und Streitigkeiten, kurz um den ganzen Kleinkram der Theaterwelt zu wissen. Philine und ihre Nachfolgerinnen, die Vertreterinnen des naiven Rollenfachs, scheinen vom Schöpfer eigens den Primanern zuliebe geschaffen zu sein. Gegenüber der Darstellerin von Hauptmanns Hannele und Rautendelein konnte mein Herz unmöglich unberührt bleiben. Man schickte einmal und mehrfach Blumen auf die Bühne, man wagte schließlich einen Besuch …«
So auch der junge Ossietzky. Er verliebte sich sterblich in eine Schauspielerin, die eine »Maria Stuart« kokett und unwahrscheinlich jung spielte, schrieb sogleich ein Drama für sie, widmete ihr Gedichte, durfte sie aber nicht umarmen. 1925 raisonierte er darüber im »Tage-Buch«, es fehle den deutschen Männern nicht nur an den äußeren Manieren,» mehr noch an der Artigkeit der Seele«.
Wie im Rückblick diese erste Amour geriet dem jungen Schreiber im Justizdienst und dann beim Grundbuchamt
auch seine Theaterleidenschaft ins Politische. 1911 richtete er einen Leserbrief an die linksliberale Wochenschrift »Das Freie Volk«, in dem er das Publikum, genauer: »das zahlungsfähige Hamburger Bourgeoispublikum«, beschimpfte, weil dem die Komödie »Alles um Liebe« von Herbert Eulenberg mißfallen hatte.
Ossietzkys Kritik war nicht originell. Lion Feuchtwanger nannte 1910 die Münchner »ein unsäglich stumpfes, kritiklos launisches Publikum«, und Hermann Bahr schrieb im selben Jahr über das Publikum des Wiener Burgtheaters: »Das ewige Widerstreben, ewige Raunzen, ewige Nörgeln des Wieners kommt doch immer nur aus seiner Sehnsucht her, sich durch einen festen Willen gezwungen zu fühlen, der es ihm abnimmt, selbst etwas zu wollen. Diese willenskranke Stadt gehört jedem, der irgend etwas will. Was es auch immer sei…«
Ähnlich andere wichtige Kritiker um 1910, Karl Kraus, Alfred Kerr, Egon Friedell, Alfred Polgar, Felix Saiten, Stefan Grossmann. Ossietzky dürfte sie gelesen haben, denn sie waren alle in Siegfried Jacobsohns Wochenschrift »Die Schaubühne« versammelt, die sich seit 1918 »Die Weltbühne« nannte. Aber auch wenn er, was schlecht vorstellbar ist, nie ein abfälliges Wort über ein Theaterpublikum gelesen haben sollte, so ist doch seinen späteren Texten die Distanz des kritischen Zuschauers geblieben,
der Vorder- und Hinterbühne, Kostüme, Souffleure, Kulissen, Regie und Publikum in seinen Blick einbezieht und dabei sieht, was die politische Wissenschaft heute mit einem Ausdruck der Theaterwissenschaft »Szenarien« nennt.
Ossietzky wurde kein Theaterkritiker, nicht die »Schaubühne« oder die »Freie Bühne« sein Organ. Er begann beim »Freien Volk« zu schreiben, einem linksliberalen Blatt. In einer Bebel-Kundgebung hatte er »Volk« erlebt und die Distanziertheit darüber verloren. Die Massenregie war ihm seitdem gegenwärtig. Sie blieb ihm als Thema über die 22 Jahre parat, die er Zeit hatte, frei zu publizieren.
Vielleicht sollte man hinzufügen, daß das politische Theater jener Jahre das Theater als »moralische Anstalt« mit entsprechenden Inszenierungen begleitet hat; immer größer wurden die Chöre, immer massenhafter die Auftritte, bis schließlich die inszenierten Demonstrationen der Macht des »Staatstheaters« jede Bühne zur Lächerlichkeit verurteilten, zu »bloßem Theater«. Als Ossietzky jung war, galten die Militärparaden und die Arbeiterdemonstrationen noch als unvereinbar mit der Wagner- oder Reinhardt-Bühne. Heute erkennt man letztere als sublimen Ausdruck desselben Komplexes.
Wenn wir ein Psychogramm des jungen Ossietzky aufzustellen hätten, wären also die liberal-soziale Weite des Stiefvaters, der strenge Katholizismus der Tante, die ihn erzog, bis er zehn war, und die Protektion des Senators Predöhl zu erwägen. Mit seinem Schulversagen mußte der junge Carl allesamt enttäuschen.
Katholisch getauft, lutherisch konfirmiert, suchte der Jüngling seine transzendentalen Bedürfnisse bei Ernst Haeckels »Deutschem Monistenbund« zu kompensieren. Der Naturphilosoph Haeckel wollte Religion und Wissenschaft durch eine Lehre von der Einheit in einer »Substanz« verbinden, die materielle und psychische Erscheinungen komplementär vereinigt.
Der Begriff des »Monismus« entstammt der theologischen Tradition. Er wurde um 1900 für vielerlei Reformbewegungen in Anspruch genommen, um offenkundige Widersprüche zu versöhnen, wie die zwischen Religion und Wissenschaft, Natur und Technik undsofort. Dahinter steckte das Bedürfnis nach einem einheitlichen Prinzip in der immer komplizierter werdenden Welt mit ihren zunehmenden Orientierungsschwierigkeiten.
Die Monisten glaubten, daß in einer wissenschaftlich begründeten Kultur alle Widersprüche lösbar sein müßten,
und der junge Ossietzky wünschte sich, dazu beizutragen. Die Forderung des Monisten Wilhelm Ostwald leuchtete ihm ein, Grundsätze des exakten Denkens auf die persönliche wie die soziale Existenz zu übertragen. Er konnte damit hoffen, aus den Kalamitäten seines privaten wie seines öffentlichen Lebens herauszufinden. Beide verlangten nach einer Ordnung, nach einem geordneten Anfang. Er war auf der Suche nach einem Zauberwort, nach einem höchsten Wert, von dem die anderen abgeleitet werden konnten, ein immer wiederkehrendes Problem aller Heranwachsenden, wenn sie aus dem familiären Dogma heraustreten, weil sich ihr Umkreis erweitert.
Im Deutschen Reich der Jahrhundertwende standen die jungen Leute vor der zusätzlichen Schwierigkeit, daß ihnen die Lebensbereiche, in die sie hineinwuchsen, quasi-autonome Wertsetzungen oktroyierten: »Dienst ist Dienst«, »Geschäft ist Geschäft«, »Zeit ist Geld« bis hin zur »Kunst für die Kunst« nahmen sie in ihre jeweilige Pflicht, die doch, aufs Funktionieren als höchstem Wert ausgerichtet, bloß positivistische Karikatur der menschlichen Würde sein konnte.
Der militärisch-industrielle Komplex verselbständigte sich zusehends. Nicht zufällig beschrieb 1906 der Irrenarzt Willy Hellpach in Hardens Berliner Zeitschrift »Die Zukunft«
den Caesarenwahn und den Apothekerklaps gemeinsam in einem Aufsatz über Berufspsychosen, und ein anderer Beobachter, Eduard Goldbeck, kritisierte den Mangel an politischer Psychologie bei den Regierenden, besonders gegenüber der Sozialdemokratie und in der »Polenfrage«.
Beides ging den jungen Ossietzky persönlich an, seiner polnischen Herkunft (von der noch zu reden sein wird) und seiner sozialen Lage wegen. Jedoch sah er keine Möglichkeit, daraufhin zu arbeiten, daß die eines Tages vom Marxismus enttäuschten Massen, »die Notwendigkeit fühlten, sich zu Dem zurückzufinden, was die Schwalbe sang, was die Glocken der Dorfkirche geläutet hatte, zu dem einfältigen Pflichtenkatechismus, über den auch die Größten unter uns nie hinwegkommen und den gerade sie üben und am willigsten üben«, wie Goldbeck riet. Zwanzig Jahre später würde das Dilemma zwischen der Imitation einer heilen Wertewelt auf der politischen Rechten und einer dogmatisch erstarrten Linken sein permanentes Tagesthema sein. Neu war es ihm nicht.
Die monistische Weltanschauung wollte aus wissenschaftlich begründbaren Sätzen Orientierung als Lebenshilfe gewinnen und das exakte Denken zur Lebensform einsetzen. Andere Bestrebungen zur einheitlichen Weltanschauung suchten politische Dogmen zu versöhnen, so der Pfarrer Friedrich Naumann
mit seinem National-sozialen Verein, oder sie erledigten den Dualismus, indem sie einer bestimmten Doktrin universale Geltung zusprachen und den Widerspruch als solchen verwarfen, wie der »Alldeutsche Verband« mit seinem Postulat vom deutschen »Übermenschen«.
Die ideologischen Fronten waren also ziemlich klar, als Ossietzky mit ihnen konfrontiert wurde: dogmatischer Absolutheitsanspruch hier — Reformvernunft dort. Er setzte um so mehr auf die Reformvernunft, als die Dogmatiker beider Seiten eben durch die Beschränktheit ihrer autonomen Werte nur zu schwankenden Urteilen und widersprüchlichen Handlungen führen konnten, Anzeichen des kommenden »Krieges an sich«. Der Deutsche Monistenbund (gegründet 1906, nach dem Zweiten Weltkrieg »Freigeistige Aktion-DMB«) war weithin personalgleich mit der Friedensbewegung.
1908, als Reichstag und Bundesrat den Kaiser Wilhelm II. wegen seiner außenpolitischen Kraftmeierei tadelten und das Flottengesetz des Admiral Tirpitz das Reich zur zweitstärksten Seemacht hinter Großbritannien machte,
trat Ossietzky der pazifistisch orientierten »Demokratischen Vereinigung« bei. Ihr bedeutendster Mann war Hellmut von Gerlach (1866-1935). Gerlach entstammte wie Bertha von Suttner, eine Tochter des österreichischen Feldmarschalls Graf Kinsky, wie Fritz von Unruh, Hans Paasche, der Fürst Lichnowsky und andere deutsche Pazifisten eben jener militaristisch gesonnenen Oberklasse, die den Imperialismus stützte, sich aber aufgrund ihrer sozialen Privilegien den Mund nicht verbieten ließ.
Wenn Kurt Grossman recht hat, zählte Carl von Ossietzky zu der Familie eines Ritters »Osiecki«, der als polnischer Nationalist 1862 in Wien zu schwerem Kerker verurteilt wurde. Ossietzky liebte diese Überlieferung, und seine Tochter berichtet, er habe stets den Siegelring der Familie getragen. Jedenfalls teilte Carl von Ossietzky mit Suttner und Gerlach den scharfen Blick für politische Schikanen und Unterdrückung von Meinungen. Er begriff die Psyche des deutschen Untertanen ebenso rasch wie die Arroganz seiner »Obertanen«. Als 20jähriger sprach er in der »Demokratischen Vereinigung« über »Militärdiktatur oder Bürgerrecht«. Die Fragestellung sollte ihn überleben, ebenso wie die eines seiner zwei Dutzend Artikel im »Freien Volk«, 1911, mit dem Titel »Wehe den Kleinen!«
Es war die Zeit der allgemeinen Verunsicherung durch die Wirtschaftskrise von 1907 und den vom Balkan her drohenden Krieg. Die Angst vor der Zukunft förderte Reformbestrebungen quer durch die Klassen: pietistische »Zungenredner« traten auf. Die Mädchenschulen wurden reformiert, das Frauenstudium erlaubt. Lebensreformer wie Rudolf Steiner und Gustav Wyneken kamen hervor. Die Expressionisten revolutionierten die Anschauungsweisen. Anarchisten um Gustav Landauer vertraten eine neue, mystisch gestimmte Humanität: »Aufruf zum Sozialismus«.
Der junge Ossietzky lebte ganz in diesem Trend; aber er war wohl von Beginn an, was man heute einen »Realo« nennt. Er kannte den Justizapparat von innen, die Existenzangst der sogenannten »kleinen Leute« aus eigener Erfahrung. Fiedor berichtet, daß er als Schulkind einige Male in der Provinz Posen die Unterdrückung der polnischen Sprache durch die preußischen Behörden erlebt und später dagegen protestiert habe. Ossietzky sah, daß es im Zeitalter des Nationalismus bei der Aufteilung Polens zwischen den Kaiserreichen Rußland, Deutschland und Österreich nicht würde bleiben können, und auch nicht bei der national-politischen Praxis im österreichisch-ungarischen Vielvölkerstaat. Damit stand er nicht allein.
Ein Jahr, nachdem der preußische Historiker Friedrich Meinecke sein idealistisches Konzept von »Weltbürgertum und Nationalstaat« (1908) veröffentlicht hatte, brachte der junge Ossietzky die Sache in dem genannten Vortrag zu ihrem Kern: »Militärdiktatur oder Bürgerrecht«. Zwar hat er, soweit ich sehen kann, keinen seiner vielen kämpferischen Aufsätze gegen den Militarismus und für das Bürgerrecht so direkt mit dem alternativen »Oder« überschrieben; aber er hatte mit dieser Gegenüberstellung seinen Imperativ gefunden und ihn oft genug mit Ausrufezeichen versehen!
Schon eine Kritik der Militärjustiz in der Wochenschrift »Das Freie Volk« der »Demokratischen Vereinigung« brachte ihm 1913 eine Geldstrafe wegen Beleidigung ein, und als »Beleidigung des neuen Deutschland« wurde dann ja auch 1936 die Verleihung des Friedens-Nobelpreises an Ossietzky bezeichnet. Die zweiundzwanzig Jahre zwischen Ossietzkys Erstveröffentlichung, dem Leserbrief vom Februar 1911, und dem letzten Beitrag zur »Weltbühne« vom 28. Februar 1933, war der Zusammenhang von Bürgerrecht und Frieden Ossietzkys Thema in Mitteilung und Antwort.
Man kann darin seine Interpretation der monistischen Philosophie sehen: Das Recht des Menschen und der Frieden ergänzen sich. Sie sind komplementär, wie Kant sie verstanden hat; aber es wäre wahrscheinlich eine Überinterpretation der Ossietzkyschen Publizistik, wenn man sie bewußt darauf angelegt sähe. Er urteilte von Fall zu Fall, zuerst in der Wochenschrift »Das Freie Volk«, dann in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften, dann wieder in den Berliner Wochenschriften »Montag-Morgen«, »Das Tage-Buch« und »Die Weltbühne« von 1924-1933. Die Äußerungsmöglichkeiten des Journalisten werden vom Erscheinungsrhythmus seines Mediums bestimmt. Die Form wirkt auf den Inhalt ein. Das Gebot, unabgeschlossene, »aktuelle« Ereignisse aufgreifen zu müssen, um ihre möglichen Konsequenzen denkerisch vorwegnehmen zu können, gibt schließlich den Ausschlag. Die monistische Reformvernunft wendet sich vorzüglich gegen Überlieferungen, Verhärtungen und, wie Hannah Arendt das formuliert hat, »fragwürdige Traditionsbestände«.
Für Ossietzky waren nicht nur die kirchlichen Institutionen fragwürdig, denen der Monismus seine Absage erteilte.
Er fand allenthalben und von Tag zu Tag Beispiele einer Unvernunft, die sich weigert, die Verhältnisse so zu ordnen, wie es »die Wissenschaft« erlaubte und das christliche Friedensgebot forderte. Von 1924 — 26 prangerte er im »Montag-Morgen« regelmäßig »Die Sünden der Woche an«.
Ossietzkys Beharren auf der Einheit von Menschenrecht und Frieden auch unter den schwierigsten Lebensbedingungen bestimmte diesen stillen und akkuraten Schriftsteller zum Martyrium. Seine Überzeugungskraft war aus dem Holz, aus dem Religionsgeschichte die Propheten schnitzt und die Kirche ihre Heiligen; aber Carl von Ossietzkys Lehre war ganz diesseitig und damit ein Ärgernis für alle, deren Praxis ihren theologischen und theoretischen Verkündigungen widersprach. Das waren die meisten. Es sind noch heute die meisten, und die große Vorurteilsmache soll helfen, daß es die meisten bleiben.
Ossietzkys Werk will ändern von Grund auf: »Da haben wir das wahre Gesicht des konservativen ›Deutschtums‹; überall grinst uns die Lüge an; überall lesen wir die Einschränkung: ›…wenn es nicht gegen unseren Profit geht!‹« schrieb er im April 1914, und weiter in der Publikumsbeschimpfung: »Der gute deutsche Bürger aber läßt sich weiter irreführen, und wenn er einmal zum Selbstdenken erwacht,
flugs wird ins nationalistische Hörn geblasen, und Michel ist wieder eingeschüchtert. Die Aufklärungsarbeit ist schwer. Es gilt, Berge von Mißtrauen und Verhetzung abzutragen, die die Reaktion in Jahrzehnten zusammengeschleppt hat, um dem betrogenen Volke den freien Ausblick zu rauben. Die Liberalen haben überall versagt. Demokraten an die Front!«
Vier Monate später sollten auch die deutschen Demokraten an die Front gehen, aber an eine andere als die der »Aufklärungsarbeit« und in einem anderen Sinne, als der 25jährige Autor gemeint hatte. Gerlach, nach dem Überfall der Deutschen aus dem neutralen Belgien zurückgereist, stellte erschüttert fest, daß in Berlin »die Demokraten genau so wenig immun gegen die Kriegspsychose waren wie irgend ein anderer Teil des Volkes. Auch sie glaubten an die als Nonnen verkleideten Spione, an das Attentat gegen den Kronprinzen, an die Massenerschießung von Spionen in der Alexanderkaserne, an das vergiftete Mehl, an die Autos, die Goldmassen von Frankreich nach Rußland transportierten. Sie glaubten an alles, was die Regierung durch W.T.B. verbreiten ließ, um Kriegsstimmung zu erzeugen. Immer hatten sie mit mir zusammen gepredigt: Mißtrauen ist die beste Tugend der Demokratie. Jetzt glaubten sie der bis vor wenigen Wochen so scharf befehdeten kaiserlichen Regierung
und ihren Generalen jedes Wort, auch das unsinnigste. Die beiden monistischen Leuchten Haeckel und Ostwald konkurrierten miteinander in Imperialismus. Haeckel forderte die Aufteilung Belgiens, die Annektion Nordfrankreichs und die Besetzung Londons. Professor Wilhelm Ostwald proklamierte die Vereinigten Staaten von Europa mit dem deutschen Kaiser an der Spitze (…) Ich wurde ganz einsam. Erst allmählich entdeckte ich, daß doch wenigstens Vereinzelte gegen den Kriegswahnsinn gefeit geblieben waren: Kapitän Persius, Theodor Wolff, Konsul Schlieben, Rudolf Breitscheid, Hugo Haase und noch ein paar andere. Voces clamantes in deserto (= Rufer in der Wüste), soweit wir unter dem Belagerungszustand überhaupt unsere Stimme erheben durften…«
Der kränkliche Ossietzky wurde erst 1916 Bausoldat. Als solcher hatte er Gräben auszuheben und die Erdlöcher zu befestigen, in denen sich die Fronten versteiften. Der unverrückbare Standpunkt des Kritikers zwischen den theatralischen deutschen Ansprüchen und ihren schäbigen Verwirklichungen — einmal eingenommen und durch wiederholte Bekundung verstärkt — disqualifizierte den Autor für die großen Zeitungen. Hohe Auflagen nähren sich aus gängigen Meinungen. Das Mittelmaß aus dem zahlenden Querschnitt ist das Rezept, nach dem gemeint wird. Hierfür taugte Ossietzky nicht.
Aus dem verträumten, abseitigen Jüngling wurde ein prinzipieller Außenseiter, als er 1913 seine Frau gefunden hatte, eine Außenseiterin auch sie.
Maud Hester Lichfield-Woods, die Ossietzky 1913 heiratete, war die in Haiderabad geborene Tochter eines englischen Kolonialoffiziers und einer Inderin. Früh verwaist, wuchs sie im wohlhabenden Milieu ihrer englischen Familie auf. Elke Suhr berichtet, daß die junge Frau im Londoner Hyde Park auf Seifenkisten kletterte, um Reden für das Frauenwahlrecht zu halten; aber nicht hierüber, sondern über die Garderobe aus schwerer Seide, die sie bei ihrer Hochzeit trug, berichtete die Presse.
Mauds Familie mißbilligte die Mesalliance mit dem kleinen Angestellten aus Hamburg. Ossietzkys Mutter warf das junge Paar hinaus, als es nach der Hochzeit bei ihr aufkreuzte. Der Sohn Carl hatte nicht gewagt, ihr zu sagen, daß er heiraten wolle, geschweige denn sie zur Hochzeit eingeladen. So wohnten die Eheleute zuerst möbliert, dann doch bei seinen Eltern, dann getrennt, sie in der Pension.
Sie ergänzten ihr geringes Haushaltsgeld durch literarische Nachhilfestunden und Bridge-Kurse für wohlhabende Hamburger Bürger. Maud trieb auch Honorare für Carl ein, »denn Geld interessiert ihn am allerwenigsten, wenn er arbeitet.«
Das scheint ein verbreiteter Zug der von Heine so genannten »Gedankenmänner« zu sein. Toni Cassirer, Frau des Philosophen Ernst Cassirer, mußte mittellos in der Emigration gleicherweise verfahren, und aus der Lebensgeschichte von Thomas Mann weiß man, daß Frau Katja die Finanzen der großbürgerlichen Familie besorgte. Nach drei Jahren, 1916, schrieb Ossietzky nach einer ersten Ehekrise seiner Frau: »Du bist eine Anregerin gewesen und bis zu einem gewissen Punkte auch die Triebkraft gewesen. Ich wuchs gleichsam in die Tat hinein, zuerst mußte ich geschoben werden, gestützt werden, bis ich plötzlich auf eigenen Füßen stand. Und da fand ich plötzlich den Genuß, die Freude an der Tat … Da löste sich los, was in mir festgelegen hatte, und an die Stelle des Träumens trat die Leistung. Und Du bist der Magnet, der zuerst an das starre Eisen gerührt hatte.« So im handgeschriebenen »Erinnerungsbuch«, das auch ein »Bittbuch« war: »Das Gefühl, das uns wie eine dunkle Macht zusammentrieb und uns aneinander kettete, das lebt noch.«
Für eine Weile hat auch den Monisten Carl von Ossietzky 1914 der Kriegstaumel erfaßt. Er entzog sich nicht dem Kriegsdienst, wie seine Altersgefährten Oskar Maria Graf, Karl Otten, Georg v. Lukacs und andere Schriftsteller. Ossietzky hoffte zunächst auf die Gelegenheit, Deutschland zu einem freiheitlichen Staat zu machen. Das freie Deutschland habe keinen Grund, vor dem slawischen Ansturm zu zittern. »Die Demokratie wirkt auf den Zarismus wie das Kruzifix auf den Teufel«, verstieg er sich zu schreiben. Antizarismus war der Vorläufer des späteren Antikommunismus, dem Entwicklungsabstand zwischen Deutschland und Rußland entsprechend.
Das ersatzreligiöse Moment des Monismus ging in der Ersatzreligion des Nationalismus auf; aber Ossietzky, noch 1914 für seinen Aufsatz »Das Erfurter Urteil« gegen die Militärjustiz zu 200 Mark Geldstrafe verurteilt, ließ sich nicht lange darüber täuschen, wohin die Reise ging. Die Hamburger Ortsgruppe der »Deutschen Friedensgesellschaft« wählte ihn 1915 in den Vorstand. Er hielt Vorträge und Friedensreden. 1917 kam er als Soldat in den Mitteilungen des Hamburger Monistenbundes wieder zum Druck. Er polemisierte gegen Durchhalteparolen des prominenten Monisten Heinrich Peus; aber seine Distanzierung zu Haeckel und Ostwald blieb ungedruckt.
Darin berief er sich auf den heute vergessenen Psychiater und Soziologen Franz Müller-Lyer (1857-1916). Dessen »Grundlinien einer Volksphilosophie: Der Sinn des Lebens und die Wissenschaft« von 1910 stellten dem »Kriegsstaat« den »Arbeitsstaat« gegenüber und Darwins »Kampf der Arten« Peter Kropotkins »Gegenseitige Hilfe«. Wie für Alfred H. Fried war für ihn »der Frieden die Funktion der Kultur«: Die Phasen der kulturellen Entwicklung führen über den Krieg hinaus. Ossietzky begriff mit Müller-Lyer den Krieg als einen Rückfall vom erreichten Kulturniveau in »das Vertierte«. Er erkannte mit dessen »Soziologie der Leiden« aus dem Jahr 1914, daß die »unzähligen Leiden« der Menschen immer dieselben Übel sind, aber in vielfältigen Variationen.
»Der Krieg hat nicht nur blühende Fluren zerstampft, betriebsame Städte verwüstet, sondern auch Gehirne zerstört, Provinzen der Seele verarmen lassen. (…) Wenn die Kanonen aufgehört haben, ihre furchtbare Sprache zu sprechen, und unsere Krieger zurückkommen, dann werden ihrer viele sein, die werden diese Sprache nicht vergessen können. Und wenn man ihnen sagen wird, daß es nun ihre Pflicht sei, mitzuarbeiten am Neuaufbau, an der Neugestaltung, dann werden sie bitter fragen: Wozu? Damit in ein paar Jahren von neuem eine solche Katastrophe
das Geschaffene niedertritt? Und wenn man ihnen sagen wird, es gelte, den Staat neu zu formen, dann werden sie sich die Ohren zuhalten und bitten, vom Staate zu schweigen, der ein grausames Ungeheuer sei, ein Oger, der Glück und Leben des Individuums ohne zu fragen hinunterschlinge. Nein, wir wollen davon nichts mehr hören! (…) Wir wollen Ruhe, nur Ruhe! Oh, was haben unsere Augen sehen müssen, was hat unser Hirn nicht unter gräßlichen Eindrücken gelitten, und nun sind unsere Nerven stumpf, und krank ist unser Herz! Wir wollen nichts hören und nichts sehen! Wir wollen Ruhe, um uns selbst zu finden, man verschone uns mit der trügerisch gaukelnden Hoffnung auf eine besser gestaltete Welt! Diese Stimmung wird mächtig sein«, prophezeite Ossietzky in den »Monatlichen Mitteilungen des deutschen Monistenbundes« vom Dezember 1917.
Seine scheinbare Resignation enthielt die Aufforderung, für den Frieden als politischen Zentralwert zu kämpfen. Die Fragestellung könne nicht lauten »Wollen wir politisch sein?«. Man könne nicht verhindern, politisch zu sein. Der Frieden ist nicht nur als die Funktion der Kultur, sondern Politik als die Funktion des Friedens zu begreifen,
weil dieser die Funktion der Kultur ist. »Es wäre verhängnisvoll für unsere künftige Entwicklung, sollten wir das übersehen. Denn einmal im Wirbel der Ereignisse, ist es zu spät zu grundsätzlichen Klärungen. Es geht nicht an, sich die Augen zu reiben und in sich zu gehen in dem Augenblick, wo Handeln alles ist. Ich wage es offen auszusprechen: Angesichts der letzten innerpolitischen Auseinandersetzungen scheint mir der Zeitpunkt nicht mehr fern, wo es zu einem großen Entscheidungskampfe zwischen Fortschritt und Reaktion kommen muß.«
»Der Revolutionär ringt mit seinem Popanz«, schrieb Ossietzky 1918 in einem »Wort an alle Schwachmütigen«. Er gehörte nicht zu den dummen Dichtern, von denen Siegfried Kracauer geschrieben hat, daß sie der Gesellschaft auf der einen Seite absagen, um ihr auf der anderen um so gründlicher auf den Leim zu gehen.
Solchem Irrtum konnte Ossietzky nicht erliegen. Es ging ihm nicht um Selbstdarstellung, sondern um Wirksamkeit, um Aktiv-Sein. Müller-Lyer hatte Wirksamkeit im Anschluß an Friedrich Engels‘ Hoffnung auf die Menschen als »Herren ihrer eigenen Vergesellschaftung« als »Kulturbeherrschung« und »Aktivismus« bezeichnet. »Aktivismus« war das Stichwort des »Fortschritts« in Literatur und Kunst — für eine Weile.
Ossietzky überschrieb seinen Programmaufsatz in den »Monatsblättern des Deutschen Monistenbundes, Ortsgruppe Hamburg«: »Ein Wort über Aktivismus«. Im selben Jahr verwarf er den Mißbrauch der Wissenschaft im Kriege: »Wir müssen die Wissenschaft wieder menschlich machen… Wir könnten sehr viel Wärme in die Welt bringen.«
Fortan durchzog die Idee der »Kulturbeherrschung« Carl von Ossietzkys Schriften. Er begriff die Publizistik als einen Wegweiser zur Fortführung der Kultur und verstand die Politik als Mittel, diese menschheitliche Aufgabe zu lösen. Die Einheit der civitas humana, der wohlgeordnete Status aller Menschen, war das Ziel, in dem sich die Widersprüche der Nationalstaaten lösen sollten. Für dieses Ziel galt es, das ganze Leben einzusetzen. Ein Schuß Freiheitsemphase — »und setzet ihr nicht das ganze Leben ein, nie wird euch das Leben gewonnen sein« — war auch im »Wort über Aktivismus«:
»Wenn wir mehr sein wollen als ein Symposion sehr kluger, aber auch sehr wenig fruchtbarer Menschen, dann müssen wir eine ganze Persönlichkeit einzusetzen haben, und dazu gehört untrennbar Kopf, Herz und Temperament. Und diese Dinge bilden sich nicht im weisheitsvollen Dämmerlicht der unsichtbaren Loge, sondern im Freilicht des geistigen Kampfes.
Nun werden mir die mehr objektiv veranlagten Freunde entgegenhalten, sie dächten beileibe nicht daran, die praktische Betätigung auszuschalten, sie wollten sich im höchsten Ernste der Erforschung der Wahrheit widmen, der philosophischen und der soziologischen, und wollten den Politikern alsdann die Resultate darbieten und damit unser ganzes öffentliches Leben befruchten. Sehr schön! Aber was würde dabei herauskommen? Dicke Bücher! Literatur! — Makulatur! Es ist übrigens nicht zu zweifeln, daß die Politiker dem alle Ehre erweisen würden, was ihnen die absolute Ungefährlichkeit der schönen Vorschläge, das Fehlen einer Macht dahinter sehr erleichtern würde. (…) Nichts wirkt verstimmender als die Spielkram gewordene Wissenschaft und die Katzbalgerei gewisser Männer des Geistes, die sich ihre Folianten gegenseitig an die vertrockneten Schädel werfen.«
Ossietzky spielte auf die unrühmliche Rolle der deutschen Künstler und Gelehrten in der Kriegspropaganda an. In einem Aufruf »An die Kulturwelt« hatten 1914 am 3. Oktober 93 der Prominentesten unterschrieben, daß die deutsche Kultur ohne den deutschen Militarismus »längst vom Erdboden getilgt« worden wäre. Darunter die Naturforscher Fritz Haber, Max Planck, der Biologe Adolf v. Harnack, der Poet Richard Dehmel, die Juristen
und Staatswissenschaftler Lujo Brentano, Franz von Liszt, Gustav v. Schmoller, die Mediziner Emil v. Behring, Paul Ehrlich, die Philosophen Eucken, Riehl, Windelband und Wundt, der Musiker Humperdinck, die Maler Liebermann und Klinger und der Regisseur Max Reinhardt.
Der Aufruf hatte geantwortet auf die einhellige Empörung im Ausland über die Zerstörung der belgischen Stadt Löwen mit ihrer historischen Bibliothek durch die deutschen Eroberer. Er gab die Integration der Intellektuellen in den militärisch-industriellen Komplex recht gut wieder. Das Bekenntnis zum Militarismus suspendierte die allgemeinen Kulturwerte mit dem leichtfertigen Satz, den Gerhart Hauptmann in einem öffentlichen Brief an Romain Rolland schrieb: »Krieg ist Krieg; Sie mögen sich über den Krieg beklagen, aber nicht über Dinge wundern, die von diesem Elementarereignis unzertrennlich sind.«
Solches Denken füllte das Vacuum mit abstrusen Selbstbeweihräucherungen, wie sie der jüdische Literaturhistoriker Friedrich Gundolf seinem Kollegen Gustav Roethe anvertraute, daß »die Goethische Bildung und die Bismarcksche Kraft« Deutschland zum »heiligen Leib« machen: »Es gibt wohl jetzt kein anderes Volk mehr,
von dem man eine neue Weltwerdung er warten darf, wenn es nicht die Deutschen leisten. Nur hier ist noch bildsame Glut, Wahrheit und Zucht als Volksbedürfnis und Gesamtforderung« (27.8.1914). Ein Jahr später griff der Nationalökonom Werner Sombart, einer der besten Kenner der deutschen Wirtschaftspotentiale, Bismarcks Aphorismus von den »baumwollenen Seelen« der Engländer auf. Sombart erklärte sie allesamt zu »Händlern« und die Deutschen samt und sonders zu »Helden«: »Wir sind ein Volk von Kriegern… Alle anderen Zweige des Volkslebens dienen dem Militärinteresse. Insbesondere auch ist das Wirtschaftsinteresse ihm untergeordnet… Nichts wird uns so sehr von allen Händlern verdacht, als daß wir den Krieg für heilig halten…«
Der Widerspruch war unüberbrückbar. Rolland hatte 1914 die Dummheit der Völker und ihrer Regierungen für den Krieg verantwortlich gemacht. Eine Eingabe 1347 deutscher Prominenter an den Reichskanzler wollte am 8. Juni 1915 keine »Kulturpolitik ohne Machtpolitik«, aber »unserer kulturellen, wirtschaftlichen und kriegerischen Kraft entsprechende Weltgeltung.« Das Festhalten Belgiens sei der »Volksmeinung« »die allerzweifelloseste Ehrensache.« Tatsächlich glaubten viele, der Krieg müsse mit Annektionen enden.
In der Sozialdemokratie, die 1914 die »für die Verteidigung des Landes erforderlichen Mittel« im Reichstag bewilligt hatte, erhob sich jetzt offizieller Widerspruch; aber noch am Ende 1916 schrieb der Gewerkschaftler Wilhelm Jansson an den deutschfreundlichen Neutralen Björn Björnson: »Eine Niederlage Deutschlands müßte die Arbeiterklasse am schwersten treffen. Während die besitzenden Klassen immer noch tausend Möglichkeiten finden würden, ihr Kapital gewinnbringend anzulegen, bliebe der Arbeiterschaft in einem zerschmetterten Deutschland die Auswanderung in fremde Länder der einzige trübselige Ausweg. Das ist es, was die Gewerkschaften als Arbeiterorgane des deutschen Wirtschaftslebens zu verhüten suchen, indem sie unter Betonung ihres Friedenswillens mit allen anderen Volkskreisen sich zu den Maßnahmen zusammenfinden, die zur Abwehr des feindlichen Ansturms notwendig sind … daß die große Pyramide deutscher Volksorganisation bis in die untersten Fundamente fest gefügt ist. Wer sich draußen bei den Gegnern Deutschlands in den Traum wiegt, diese Pyramide umzurennen, dem wird das Erwachen die schmerzlichsten Stunden bereiten.«
Björnsons Broschüre erschien 1917 mit einem Geleitwort von Gerhart Hauptmann, im selben Jahr, in dem die Deutsche Oberste Heeresleitung Lenin im Salonwagen nach Rußland zurückbeförderte. Lenin nahm das Modell der deutschen Kriegsverwaltungswirtschaft für das »neue Rußland« mit. »Arbeit, Disziplin und Ordnung werden die Sozialistische Sowjet-Republik retten«, verkündete schon am 28. März 1918 Trotzki der Russischen Kommunistischen Partei. Wie der preußische Drill die Armee des Zaren reformiert hatte, sollte jetzt deutsche Arbeitsdisziplin die Leistung des russischen Proletariats steigern. Das verlangte, wie in den deutschen Großbetrieben auch, die Arbeitskraft bis auf die Minute zu funktionalisieren und lakonische Kommandostrukturen durchzusetzen, also ungefähr das Gegenteil von ewig diskutierenden Arbeiterräten. Diese wurden folgerichtig das erste Opfer der neuen Ordnung, dem die anderen folgten.
Wie hätte die »deutsche Revolution« 1918 anders ausgehen können? Marx und Engels hatten den Krieg von 1870/71 bejaht. Sie waren keine Anarchisten und Pazifisten, was meist zusammengeht, Engels ein erklärter Nachfolger des preußischen Strategen Clausewitz im Sozialbereich. Bismarck hatte das aufrührerische Restpotential
von 1848 durch die Sozialistengesetze diszipliniert und durch die Sozialgesetze integriert. Die SPD schloß in den 1890er Jahren revolutionäre »Junge« aus. Sie verbot ihrem Theoretiker Karl Kautsky, seinen »Weg zur Macht« als den ihren zu erklären.
»Arbeit, Disziplin und Ordnung« hieß in Deutschland, daß nicht zuletzt die allgemeine Wehrpflicht als Elementarerfahrung von Millionen dem Militärstaat eine Arbeiterschaft zur Verfügung stellte, deren Bewegung funktionalisiert war. Dies nicht weniger als die in den Dienst des Staates genommenen und direkt von ihm beamteten und seiner Industrialisierung dienenden Wissenschaftler. Es wäre unrichtig, sie nur als politisch Verblendete verstehen zu wollen. Ihre Stimmen kamen aus dem Bauch des Systems.
Die »Spielkram gewordene Wissenschaft«, die den jungen Ossietzky verstimmte, und die »Katzbalgerei gewisser ›Männer des Geistes‹, die sich ihre Folianten gegenseitig an die vertrockneten Schädel warfen« waren Symptome der militärisch-industriellen Integration. Deren strukturelle Zusammenhänge sah der junge Kritiker weniger deutlich als der Physiologe an der Berliner Universität, Professor Dr.med. Georg Friedrich Nicolai, der vor dem Krieg die Kaiserin behandeln durfte und während des Krieges seines unverhohlenen Pazifismus wegen zum Krankenwärter degradiert wurde.
Seine in Zürich gedruckten Betrachtungen »Biologie des Krieges« fragten, wie Wissenschaft und Technik den Krieg überwinden können. Nicolai setzte die »verstehende Gerechtigkeit« als höchsten Wert, »trotz Technik, Militär und Handel«. Der deutsche Weg möge Essen (Schwerindustrie), Potsdam (Militär) und Hamburg (Welthandel) berühren, aber »er darf Weimar nicht abseits liegen lassen«.
In diesem Sinne hatte Nicolai mit seinem Freund Albert Einstein, mit Friedrich Wilhelm Foerster und Otto Buek 1914 ohne Erfolg in einem »Aufruf an die Europäer« gefordert, die technisch-wissenschaftlich begründete Zusammenarbeit wieder aufzunehmen, statt einander zu bekriegen. Aber fast niemand wollte unterschreiben, was heute, da big business Europa macht, schon in den Grundschulen als Bekenntnis gefordert wird, ein »guter Europäer« zu sein. Für diesen raren deutschen Wissenschaftler war der Krieg »eine Katzbalgerei mit Kanonen« — das verziehen ihm seine Kollegen nicht, ihr Wertsystem war nationalistisch grundiert. Niemals, bekundete schon im Oktober 1917 die Zeitschrift »Die Tat«, habe eine weltgeschichtliche Katastrophe »geringere Veränderungen im hergebrachten Denken der Führenden hinterlassen.«
Nicolai ging 1918 nach Dänemark, als er nach dem Waffenstillstand zurückkam, trat er der Deutschen Friedensgesellschaft bei. Dort traf er auf Carl von Ossietzky, der auf einen neuen Geist hoffte, wie er über »Das werdende Deutschland« im Dezember 1918 in den Monatlichen Mitteilungen des deutschen Monistenbundes verlauten ließ:
»Neben diesem großen Kessel, in dem es brodelt und nach Form ringt, da wandelt immer noch einer, den man nicht übersehen darf, so nichtig er ist — Herr Durchschnittsmensch. Er geht mit süßsaurem Lächeln einher und wundert sich im Grunde seines Herzens, daß er noch nicht umgebracht ist; aber er läßt es sich nicht merken. Das Ganze ist für ihn ein bedauerliches Intermezzo, das hoffentlich bald zu Ende sein wird, denn stille Ahnung sagt ihm, daß er der wahre Sieger ist. Denn sein Typ ist in der Tat unsterblich. Er hat alle Erschütterung der Weltgeschichte überlebt, ist immer Gaffender gewesen, niemals Erlebender, immer Zeuge, niemals Blutzeuge. (…)
Zusammengebrochen ist nicht nur ein Staat, der sich unbesiegbar wähnte, zusammengebrochen ist nicht nur eine Wirtschaftsordnung, die von ihren Nutznießern für bombensicher gehalten wurde,
zusammengebrochen ist vor allem der bürgerlichkapitalistische Geist, der seit hundert Jahren die Köpfe beherrschte und auch große Teile der sozialistischen Arbeiterschaft weit mehr im Banne hatte, als sie es gern wahrhaben möchte. Nun aber gilt es, den neuen Geist zu schaffen, den Geist, der vielleicht für lange, lange Zeit der herrschende sein wird. (…)
Es muß ausgesprochen werden gegenüber den allzu Besorgten, den Behutsamen, den wohlmeinend Gemütvollen, daß uns nichts mehr an die Tradition bindet, daß es zwecklos ist, Halbheiten durchzumogeln, daß endlich jene geistige Erneuerung durchgeführt werden muß, die der deutsche Michel jahrhundertelang versäumt hat. In der Gegenwart leben und ihren Problemen fest in die Augen sehen, das ist die einzige Tugend, die einzige revolutionäre Tugend, die wir brauchen können.«
Woher sollte er kommen, der »neue Geist«, wenn man als richtig unterstellte, daß Staat und Wirtschaftsordnung zerbrochen seien, was doch keineswegs ausgemacht war? Karl Kraus hatte 1899 unter dem Eindruck der Haager Friedenskonferenz gespottet, die Bemühungen der
»höchst ehrenwerten Amateurpolitikerin Bertha von Suttner und all der anderen Friedensdilettanten« vermöchten gegen den zur Notwendigkeit auswachsenden Militarismus »etwa soviel wie die freiwilligen Wohlfahrtseinrichtungen einzelner Unternehmer zur Beseitigung sozialer Gegensätze.« War der höchst ehrenwerte Carl von Ossietzky zwanzig Jahre später in einer anderen Lage?
Krausens Vergleich der Friedensbewegung mit den Wohlfahrtsverbänden war nicht so weit hergeholt, und tatsächlich spielte sich die Friedenspropaganda nach dem Waffenstillstand wieder auf dem organisatorischen Niveau ein, das sie vor 1914 erreicht hatte. Der Heimkehrer Ossietzky kündigte seine Stelle im Hamburger Justizdienst und arbeitet hauptberuflich, fast ohne Geld, für die Deutsche Friedensgesellschaft und den Monistenbund. Mit Gesinnungsgenossen aus diesem Umkreis, Carl Thinius und Wilhelm Lamszus (»Das Menschenschlachthaus«), arbeitete er im »Pfadweiser Verlag«, der die »geistige Erneuerung« fördern sollte. Ossietzky wollte hierzu mit einer eigenen Zeitschrift »Die Laterne« beitragen; aber die Gründung fand nicht statt. Der »Pfadweiser Verlag« vertrieb u.a. den »Ziegelbrenner« von Ret Marut (= B. Traven); aber man muß wohl sagen, daß seine Sprache nicht den rechten Pfad fand zu einem großen Publikum.
Ossietzky entwickelte zwar den später vielgerühmten Blick des bühnengewohnten Kritikers, der Aufführung und Partitur wohl zu unterscheiden versteht: »Das arme Deutschland! Diesmal ist es nicht wie in versunkenen Jahrhunderten an seiner Bescheidenheit verkümmert, es ist zugrunde gegangen wie ein Parvenü, der zu hoch spekuliert und über Nacht Bettler wird. Es ist zugrunde gegangen an der Überspannung des Machtgedankens, an dem blinden Vertrauen, daß Gewalt und blankes Eisen allein maßgeblich seien und Recht und Wahrheit läppische Phrasen, bestenfalls gut genug, Dumme damit einzuseifen. Wir müssen den plumpen Glauben an die Macht niederringen. Wir müssen der Macht vertrauen lernen, die im Geiste wurzelt, der die Tochter der Gerechtigkeit ist. Was zusammengebrochen ist, war schlecht fundiert, war nicht Wahrheit, sondern Kulisse.«
So im Dezember 1918. Aber ein halbes Jahr später stolperte er im Bemühen, den Menschen zu schaffen, der über keine Tradition mehr stolpert, selber über das herkömmliche Pathos:
»Wir müssen den Menschen schaffen, der über keine Tradition mehr stolpert.
Wir müssen den Menschen schaffen, dem kein Staat, keine Partei mehr befehlen darf: Du sollst töten! oder: Du sollst Dich töten lassen!
Wir müssen den Menschen schaffen, der nicht mehr die Geißel des Hungers kennt.
Wir müssen den Menschen schaffen, frei in seinem Gewissen, von keiner Instanz beeinträchtigt.
Wir müssen den autonomen Menschen schaffen, durch nichts gebunden als durch das Bewußtsein, daß Millionen sein Schicksal teilen.
Wir wollen nicht mehr die Zwangsorganisation, die die alte Welt in den Abgrund getrieben hat, sondern nur die Bindung aus Erkenntnis, aus Wissen, aus freier Wahl.
Ist es nun vermessen, einem geschlagenen Volk solche Ideale zuzusprechen? Mögen die dagegen wettern, die heute noch ›Revanche‹ brüllen und nichts sehnlicher wünschen, als alte Dummheiten nochmals zu begehen.
Soll aber die Niederlage historischen Sinn haben, so muß sie Abschluß, Abkehr bedeuten.«
Das war keine neue Sprache, sondern die Umwertung der alten. Der Aufsatz war überschrieben »Der Anmarsch der neuen Reformation«, und daß der »neue Mensch« nicht »stolpern« dürfe, eine entsprechende geradlinige Aussage. Das Marschieren an sich schien unverdächtig.
Noch lange blieb die deutsche Metapher vom »inneren Marschrhythmus« auch für Carl von Ossietzky ein höchstes Lob für Tätigkeit. Es dauerte auch bei ihm eine Weile, bis er das Fatale dieser Fortbewegungsart ansprach, doch sah er klar in der Bilanz, die er im »Anmarsch« zog:
»Die Bilanz der Revolution ist so, daß einem die Augen übergehen können. Man kann die deutsche Revolution als eine Prämie für jahrelang bewiesene Geduld auffassen. Mit einem Schlage war das deutsche Volk seine Bedrücker los. Alles, was seit Jahrzehnten bald zum Zorn, bald zum Lächeln aufreizte, war verschwunden. Die Dynastien, der Militarismus, der Amtsschimmel. Über den Portalen der Regierungsgebäude verdeckten Plakate mit der Aufschrift ›A.- und S.-Rat‹ die traditionellen lateinischen Sprüchlein. Mit tressenlosen Führern wälzte die Armee sich zurück. In belgischen und polnischen Chausseegräben war der Kadavergehorsam verschwunden.
Das ist nun länger als ein halbes Jahr her, und wir stellen fest, daß alle die schönen Dinge, die wir im November im Feindesland gelassen zu haben glaubten, uns nachgehumpelt sind. Es fehlt nur noch die Dynastie. Aber die Geldsackrepublik ist auch kein übler Ersatz. Revolution hat bisher Bruch mit der Vergangenheit bedeutet.
Die deutsche hat den bedenklichen Vorzug, diese Vorstellung gründlich revidiert zu haben.«
Heinrich Mann hatte in seinem »Zola-Essay« in den »Weißen Blättern« (1915) die Demokratie ein Geschenk der Niederlage genannt und hinzugefügt »Niederlage ist eine Bestätigung, daß ihr in Lüge lebtet«. Ossietzkys Argument folgte ihm fast wörtlich; aber schon im Juni 1919 zweifelte er, ob die Demokratie den Glauben habe, der zu ihrem Sieg nötig wäre. Es war, um mit Karl Kraus zu reden, der Zweifel des Wohltäters an der Werthierarchie der geschenkten Republik. Die »Geldsackrepublik« wollte möglichst viel, wenn nicht alles beim alten lassen, schon gar in der Presse. Als ihr Reichsverband einen siebenköpfigen Journalistenrat wählte, waren die Redakteure der Konzernpresse weit in der Überzahl, die vom Hurrapatriotismus über den unbeschränkten U-Boot-Krieg — der Amerika in die offene Konfrontation mit dem Deutschen Reich brachte — und über die Durchhalteparolen bis zum bitteren Ende brav den Richtlinien der Kriegspropaganda gefolgt waren. Von daher war kein »neuer Geist« zu erwarten.
Der »Berliner Lokalanzeiger« erschien seit dem 9. November
1918 unter dem Titel »Die Rote Fahne«, in der ersten Nummer noch mit dem Feuilleton der alten Redaktion, dann unter der folgerichtigen Redaktion von Karl Liebknecht und Dr. Rosa Luxemburg, beide konsequente Pazifisten. Aber die »Presse-Revolution«, die der Linksaußen im Journalistenrat, Alfons Goldschmidt, am 28. November 1918 in Siegfried Jacobsohns »Weltbühne« forderte, hatte keine Chancen. Der »Reichsverband« wurde keine Gewerkschaft, und die Kontrolle der Verlagsgeschäfte durch die »geistigen Arbeiter« blieb ein Traum: »Wir wollen keinen Druck der Banken auf den Geist, keinen Druck der Warenhäuser, gewisser Konfektionsjungens, keinen Druck der Kinozentralen, der Theaterdirektoren — wir wollen überhaupt keinen Druck mehr auf unseren Geist… Es darf nicht mehr sein, daß ein Verleger Millionendutzende aufstapelt, während sein Redakteur für 350 Mark im Monat oder weniger öffentliche Meinung machen darf…«
Die »Presse-Revolution« fand nicht statt. Daran änderten auch Ethiker wie der Chefredakteur des »Berliner Tageblatt« seit 1907, Theodor Wolff, nichts. Ihrer Struktur nach war die deutsche Presse mit ihren viertausend Titeln der »Transmissionsriemen« (Lenin) des militärisch-industriellen Komplexes. Vielleicht, so hatte die Schriftstellerin Annette Kolb 1916 in einem Dresdener
Vortrag gemutmaßt, wäre der Krieg zu verhindern gewesen, wenn man vorher in allen Ländern ein paar Tausend Journalisten umgebracht hätte? Nach 1918 wurden dann die Pazifisten und publizistischen Außenseiter umgebracht, wie Kurt Eisner, Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und Gustav Landauer. Vielleicht, muß man 70 Jahre später fragen, hätte die Republik von Weimar den Frieden gewinnen können, wenn sie die lautesten und aufrechtesten, die Wahrheitsfanatiker unter ihren 10000 Journalisten nicht zu Beginn ermordet oder an den Rand des publizistischen Spektrums gedrängt hätte, in die kleinen Zeitschriften? Es ist eine der vielen Infamien der deutschen Geschichtsschreibung, ihnen danach die Verantwortung für das Scheitern der Republik und die Einflüsse und Einflüsterungen aufzuhalsen, die den Revanchismus in den dreißiger Jahren an die Macht brachten.
Richard von Soldenhoff hat in seiner vorzüglichen Bildbiographie Ossietzkys (Quadriga Verlag, 1988) ganzseitig ein Frontalfoto Ossietzkys vom März 1919 veröffentlicht, auf dem er im Büro des »Pfadweiser Verlages« mit der Titelseite der Wiener Zeitung »Revolution!« posiert. Es symbolisiert die ganze Hilflosigkeit des Mannes mit der hohen Stirn, den weißen Kragen hochgeschlossen, die Weltkugel im Hintergrund,
Papier auf dem Schreibtisch mit gedrechselten Beinen, und eine Zigarette zwischen den Fingern. So sieht ein Analytiker aus, ein immer zweifelnder Scharfsinn, aber kein Revolutionär. Ein paar Monate später zog Ossietzky nach Berlin, um dort angestellter Sekretär der Deutschen Friedensgesellschaft zu werden. Er blieb es nicht lange.
Im Juni 1919, als Ossietzky nach Berlin kam, notierte der Diplomat, Schriftsteller und Pazifist Harry Graf Kessler in seinem Tagebuch: »Es ist wie 1914. Und ebenso schwül und sonnig wie damals Ende Juli.« Außenpolitisch war die neueste Konsequenz jener katastrophalen Tage zu verkraften. Die Entente hatte Deutschlands alleinige Kriegsschuld, »das größte Verbrauchen gegen die Menschheit, das jemals begangen worden ist«, in den Mittelpunkt ihrer Friedensbedingungen gestellt. Die deutsche Delegation war in Paris auf dem Weg zum Bahnhof mit Steinen beworfen worden. Die in Scapa Flow internierte deutsche Kriegsflotte hatte sich selbst versenkt. Die bestialisch ermordete Rosa Luxemburg wurde beigesetzt. Vor dem Denkmal Friedrichs des Großen verbrannten Studenten französische Fahnen, die, in früheren Kriegen erbeutet,
Frankreich zurückgegeben werden sollten: »Gegenrevolution, Krieg, Aufstand drohen wie nahe Gewitterwolken.«
Die Revolution war verfehlt, die Ratlosigkeit allgemein. Am Sonntag, 15. Juni, vermerkte Kessler: »Pazifisten-Bankett. Ein Herr Meyer-Bremen reichte eine Resolution herum, nach der man sich durch Unterschrift verpflichten sollte, keinen Kriegsdienst zu tun oder irgendeine Beihilfe zum Kriege durch eigene Handlungen oder Unterlassungen zu leisten. Natürlich wäre das das einzig Radikale, wenn es allgemein würde. Abends Vortrag von Wyneken über Schulreform im Beethoven-Saal. Viele Kinder, zur Hälfte bebrillt, was bei einer Jugendbewegung einen traurigen Eindruck macht.«
Die bebrillten Kinder können als Symbol der Friedensbewegung überhaupt gelten. Weitsichtige und Kurzsichtige in großer Zahl; aber wenige imstande, das Nächstliegende ohne Brille zu sehen und gar zu ergreifen.
Im März 1915 hatte der »Völker-Friede« die Maxime der »Deutschen Friedensgesellschaft« beschrieben: »1.Aufklärung über das kulturwidrige Wesen des Krieges.« Wir haben Zeugnisse für diesen Punkt in Schriften von Müller-Lyer, Hermann Hesse, Georg Friedrich Nicolai, Annette Kolb, Carl von Ossietzky und vielen anderen.
Gustav Landauers »Shakespeare« gehört ebenso in diese Aufklärungskampagne wie Friedrich Wilhelm Foersters Warnung vor der Verabsolutierung des Staates vom August 1918: »Wird der Staat als oberster sittlicher Zweck verehrt, über den hinaus es kein höheres normatives Gut gibt, so muß auch das Gut der unbedingten Wahrhaftigkeit seinen Wert verlieren, sobald es sich um die wissenschaftliche Erforschung und Darstellung staatlicher Aktionen handelt…« Die strikte Opposition zur Gleichsetzung von Kultur und Militarismus blieb auch nach dem Kriege eine Forderung der Friedensbewegung.
Als Punkt 2 hatte die Deutsche Friedensgesellschaft 1915 genannt: »Bekämpfung nationaler Vorurteile und Betonung der Zusammengehörigkeit der Völker, ihrer materiellen und ideellen Interessen«. Internationalismus und Kosmopolitismus also. Nach der Revolution in Rußland, dem Waffenstillstand im Westen und der Aufspaltung der Sozialdemokratie wurde dieser Punkt zu einem heißen Zankapfel zwischen den Friedensfreunden. Die Skala reichte von der Übernahme des sowjetischen Internationalismus über unterschiedliche Einschätzung der Friedensqualität der Westmächte und verschiedene Völkerbundsideen bis hin zu anarchistischen Vorstellungen, daß die Völker statt in Territorialstaaten in
quasi-religiösen Glaubensgemeinschaften über die Nationen hinweg sich organisieren sollten. Die Vielfalt stärkte schließlich das überlieferte Modell der Nation als realistische Voraussetzung.
Punkt 3 hatte 1915 gelautet: »Unterstützung aller Bestrebungen für Aufrichtung eines dauernden Rechtszustandes unter den Staaten durch die Weiterbildung des in Haag gegründeten Rechtssystems, insonderheit durch Fortbildung der internationalen Organisation.« Das war die seit Humanismus und Reformation immer wieder erörterte Idee einer Gewalt oberhalb der staatlichen Gewalten, wie sie Kant in seinem »Ewigen Frieden« fortgedacht, Bluntschli im 19. Jahrhundert formuliert, der Zar Nikolaus I. den europäischen Regierungen nahegebracht und der amerikanische Präsident Wilson 1916 in der »League of Nations« zur Stärkung der Rechtsauffassungen der Haager Konferenzen proklamiert hatte. 1919 wurde deren Satzung in den Friedenskonferenzen ausgearbeitet und in die Pariser Vorortverträge aufgenommen.
Da die Verliererstaaten — Deutschland, Österreich, Rußland — nicht unter die 32 Mitglieder aufgenommen wurden, war der »Völkerbund« auch bei den deutschen Pazifisten strittig. Viele betrachteten ihn als ein diplomatisches Werkzeug der Sieger. Graf Kessler legte ein abweichendes Friedenskonzept vor.
Nicht ein Staatenbund, sondern eine Organisation derjenigen Organisationen, die aus ihren gewerblichen oder sonstigen Selbstinteressen für den Frieden und international seien, solle die höchste Gewalt des Völkerrechts über Krieg und Frieden haben. Alfred H. Fried nannte Wilsons »League« auf dem Achten deutschen Friedenskongreß am 13.-15. Juni in Berlin, bei dem Ossietzky Schriftführer war, die »heuchlerische Ausnutzung einer fortschrittlichen Idee zur Erreichung reaktionärer Zwecke«.
Carl von Ossietzkys Position im Sommer 1919 läßt sich nicht eindeutig belegen. Er trat dafür ein, Deutschland müsse offen seine »Schuld an dem großen Weltmorden« zugeben und wieder »Menschlichkeit und Brüderlichkeit auf sein Panier schreiben«; das war auch die Meinung von Fried; aber sie schloß Differenzen in Sachen Völkerbund nicht aus. Eine »Manifestation der Gesinnungen« nannte Schriftführer Ossietzky den Berliner Pazifistenkongreß.
Der 4. Programmpunkt von 1915 war nach der Niederlage ebenso kontrovers wie die Völkerbundidee: »Unterstützung aller Bestrebungen, die auf das Ziel gerichtet sind, eine gleichzeitige und gleichmäßige Beschränkung der Rüstungen herbeizuführen.« Nachdem die Sieger die einseitige Entwaffnung der Deutschen beschlossen hatten, um sich vor künftigen
Ausbrüchen des deutschen Militarismus zu sichern, gerieten die deutschen Pazifisten mit diesem Ziel in eine prekäre Lage. Im Inland erschienen sie als Erfüllungsgehilfen des »Feindes«, im Ausland mit ihrer Forderung nach gleichmäßiger und gleichzeitiger Rüstungsbeschränkung als Revisionisten.
Der Berliner Kongreß war gespalten: die bürgerlichen Pazifisten um den Präsidenten Ludwig Quidde wollten auf Selbstverteidigung nicht verzichten und deshalb auch nicht waffenlos sein. Die Mehrheit wandte sich gegen die allgemeine Wehrpflicht in Deutschland, die Versailles sowieso verbot, und gegen jeglichen Krieg. Tatsächlich war ja und ist bis heute die völkerrechtliche Zulässigkeit von Verteidigungskriegen immer wieder zu Aggressionen mißbraucht worden. Andererseits würde ein grundsätzliches Verteidigungsverbot Aggressoren herausfordern, solange es keine »Weltpolizei« in einer »Weltinnenpolitik« gäbe. Die Vertreter dieser Auffassung können auf die recht mangelhafte Fähigkeit der bestehenden Staaten verweisen, ihre Bürger gegen Verbrecher zu schützen.
Carl von Ossietzky glaubte in der Tradition der Aufklärung an
die »Erziehung des Menschengeschlechts«, genauer gesagt, an die innere Vervollkommnung des Menschen als Voraussetzung, die äußeren Verhältnisse zu bessern, und deshalb auch an die Notwendigkeit, die äußeren Bedingungen so zu verändern, daß die Menschen sich innerlich vervollkommnen können. Mit Journalisten der »Berliner Volkszeitung«, mit Emil Gumbel, Georg Friedrich Nicolai, Kurt Tucholsky u.a. gründete er im Oktober 1919 den »Friedensbund der Kriegsteilnehmer«. Er sollte das menschliche Potential jener Zeitgenossen organisieren, die durch die Erfahrung des Krieges zu dessen Gegnern geworden waren.
Ein schwieriges Unterfangen, denn es fällt den Menschen leichter, im Irrtum zu verharren, als in der Umkehr frühere Fehler einzugestehen. »Es herrscht noch immer der große Irrtum, der nicht als Irrtum genannt wird: daß der menschliche Körper dafür geschaffen sei, von Geschossen getroffen zu werden«, bekannte der ehemalige Marineoffizier Hans Paasche in einer Flugschrift des »Bundes neues Vaterland« 1919: »Meine Mitschuld am Weltkriege besteht darin, daß ich den Irrsinn des Krieges schon vor dem Kriege erlebt hatte« (1905/06 in Afrika) »und mich bestimmen Heß, mein Gewissen zu beruhigen, zu schweigen oder gar im üblichen Stil über solche Dinge zu sprechen«.
Nun sprach Paasche deutlich über den »unbegreiflichen Gehirnzustand General Hindenburg und Ludendorff: Das sind keine Menschen, keine großen und keine verbrecherischen. Ob es Männer dieses Namens gibt, oder ob zwei andere Namen an ihre Stelle treten, ist höchst unerheblich. Sie sind ein Geisteszustand von Sklaven, ein Symbol der Unfreiheit eines Volkes, das Buße tun muß.«
Hans Paasche spielte auf die »Freiwillige Knechtschaft des Menschen« an, die im 16. Jahrhundert Etienne de la Boetie aufgeklärt hatte. Carl von Ossietzky wollte Pazifisten, die »im Innersten glühen, und so stark glühen, daß alles Unedle in ihnen zergeht«. Der »Friedensbund der Kriegsteilnehmer« sollte sie anfeuern. Zu jedem Jahrestag des Kriegsausbruchs sollte »durchaus undoktrinär und überparteilich ein ganz schlichter unmißverständlicher Satz an die tiefsten menschlichen Wünsche« rühren. Der Satz des »Friedensbundes der Kriegsteilnehmer« lautete: »Nie wieder Krieg!«
Die »Nie wieder Krieg!«-Bewegung brachte — ähnlich wie die Ostermärsche gegen den Atomkrieg in unseren Tagen — Hunderttausende zur rituellen Friedensfeier. Sie war wohl der größte publizistische Erfolg der Journalisten, die sie organisiert hatten. Käthe Kollwitz zeichnete das Plakat. Freilich:
die Weimarer Republik erkannte die Chance für die Selbstdarstellung ihres Staates nicht, die ihr damit geboten wurde. Die Deutschen könnten »nur á la Feldwebel organisieren« höhnte der politisierende Elegant, Walther Rathenau, 1919. Wenn der Kommunismus zu uns komme, werde man ihn im Schmierenstil aufführen, sagte Rathenau voraus.
Dem Grafen Kessler machte die Nationalversammlung in Weimar den Eindruck »einer Sonntagsnachmittagsvorstellung in einer kleinen Residenz«. Fast gleichzeitig erkannte er unter dem Stahlhelm der Regierungstruppen auf Berlins unruhigen Straßen den »Geist des alten preußischen Staates« wieder: »Es ist nicht ausgeschlossen, daß einmal die alte preußische Disziplin und die neue sozialistische zusammenschießen und eine proletarische Herrenkaste bilden… Bolschewismus oder wie man es nennen will! Der arme preußische Junker ist immer eine Art Proletarier gewesen. Wenn in diese zur Disziplin vorgebildeten Massen ein Glaube hineinschießt, Liebknecht oder ein anderer, dann wehe allen Gegnern; wenn nicht heute, so nach einer Generation.«
Ein dritter Hinweis auf die strukturellen Tendenzen kam vom Wieland Herzfelde, damals Herausgeber der spartakistischen Zeitschrift »Die Pleite«.
Er berichtete nach einer Woche in den Gefängnissen Moabit und Plötzensee vom »einstudierten Lynchen« der Gefangenen, vom Ins-Gesicht-Spucken bis An-die-Wand-Stellen und Totschlagen durch eine entmenschte Soldateska der Republik.
Der 30jährige Ossietzky war 1919 weit von seinem humanitären Ziel entfernt. Im Dezember desselben Jahres kam seine Tochter Rosalinde zur Welt. »Rosalinde« war die einzige Theaterrolle der Mutter gewesen, Rosalie der Vorname von Carls Mutter. Der junge Familienvater, unauffällig gekleidet, von höflicher Aufmerksamkeit im Umgang, nahm seine Familienrolle ein — wie man sich überhaupt unter einem Außenseiter um 1920 etwas anderes vorzustellen hat als die Wildbehaarten von heute in ihren modischen Dropsverpackungen. Selbst Lenin trennte sich von seiner geliebten Melone erst auf der Rückreise nach Rußland.
Daß ein Kind in einer so ungesicherten Existenz hart belasten und auch behindern könnte, war ihm »ganz klar«. »Und dennoch«, hatte er 1916 an Maud geschrieben, »möchte ich gern alle materiellen Sorgen auf mich nehmen, möchte gesteigert arbeiten, Tag und Nacht arbeitend verbringen, wenn es sein muß, wenn Du ein Kind willst.«
Eine bürgerliche Rollenverteilung also? Obschon Ossietzky seinen depressiven Phasen eine ungeheuere Arbeitsleistung abtrotzte, gelang es ihm nicht, der kleinen Familie auch nur den bescheidenen Wohlstand zu erschreiben, der die Unsicherheit bannt, ganz zu schweigen von den behaglichen Einkünften literarischer Freunde, wie Kurt Tucholsky, Lion Feuchtwanger oder Theaterleute um ihn sie hatten. Ossietzky blieb bis ans Ende seiner Tage ein armer Schlucker. »…wir müssen für unser Kind leben! Das ist viel, ist alles«, schrieb er seiner Frau, als Rosalinde sieben Jahre alt war. Nach 1933 war das Kind im Ausland in Sicherheit zu bringen: »Die Hauptsache ist nur«, so der Vater 1937 an die in Schweden aufgehobene Tochter, eine Schönheit wie die Mutter in jungen Jahren, »den Erdboden nicht unter den Füßen zu verlieren und möglichst realistisch zu bleiben. Ich weiß, daß das nicht leicht ist und ich bin ja auch gerade kein Pedant…«
Der Sekretär der Friedensgesellschaft von 1920 nahm angesichts der zerstrittenen, ewig diskutierenden Klasse der Pazifisten Abschied vom Pathos. Er begann, die Regression nicht mehr nur als Rückfall ins »Vertierte« zu bekämpfen, sondern sie als eine
Konstante der Politik in Betracht zu ziehen. Es gelang ihm nicht, das Gemeinsame, »die uns alle bindende pazifistische Gesinnung«, gegen die emotionalen Motive der Gruppen und Einzelkämpfer durchzusetzen.
Wie sollte »das Rechtsempfinden der Völker« sich bessern, das er als Voraussetzung für den »Völkerbund der Zukunft« verstand, wenn die Verbandskongresse »ausgeprägt den turbulierenden Instinkten dienen«, wie er 1924 seine Erfahrungen zusammenfaßte: »Es ist halt schwierig, ein ganzes Jahr hindurch ununterbrochen Friedensmensch zu sein. Schließlich müssen doch wenigstens einmal jährlich die bellikosen Staubecken entleert werden. Einmal im Jahr muß auch der prinzipienfesteste Antimilitarist die leider Gottes immer fortwuchernde militaristische Darmflora fortspülen… ein ungeheures Blutbad, eine massenweise Absäbelung von Führerköpfen. Ein Sperrfeuer von Anklagen, Bezichtigungen, Mißtrauensvoten. Der in Paris geschätzte Herr von Gerlach wird in Berlin als Verräter behandelt, als schwachköpfiger Opportunist, wird demoliert. Herr Hiller schwingt den tintentriefenden Tomahawk; er ruft zum heiligen Krieg gegen die Zweifler an seiner Autorität, ein Pobjedonozeff der Friedensbewegung. Er sagt Menschheit und meint Stuhlbein…
und wenn man sich genug ertüchtigt hat, geht man wieder nach Hause und ist ein ganzes Jahr friedlich… Der Philosoph der Langweiligkeit versinkt im gewohnten Tran…«
Zum ersten Juli 1920 schied Carl von Ossietzky als Sekretär der Friedensgesellschaft aus, im September gab er die Redaktion der »Mitteilungen der Deutschen Friedensgesellschaft« ab, wie der »Völker-Friede« seit Jahresbeginn hieß. Er war in die Redaktion der »Berliner Volks-Zeitung« eingetreten, schrieb weiter im Organ der »Nie wieder Krieg!«-Bewegung, in den Blättern des Monistenbundes. Seine bemerkenswertesten Aufsätze der Jahre 1920/21 erschienen in der abgelegenen »Neuen Schweizer Zeitung« vom 20. Juli 1920 und am 14. und 21. Mai 1921.
Der erste handelte von der deutschen Psyche, der zweite von der »Genesis der deutschen Reaktion«, der inneren und geistigen Unsicherheit der Republik: »Rücksichtslos werden Staatsform und Verfassung verächtlich gemacht, Reichspräsident und Minister ihrer früheren bürgerlichen Berufe wegen in der Presse maßlos verunglimpft, führende Republikaner Hochverräter genannt, pazifistische Professoren im Hörsaal von blutjungen hakenkreuzgeschmückten Studenten in Wort und Tat attackiert, bekannte Vorkämpfer von Republik und Friedensidee als ›Spartakisten‹ verhaftet und
›auf der Flucht‹ erschossen. Und immer verläuft die Untersuchung ergebnislos; und ist wirklich einmal ein Gerichtshof vorhanden, der den Übeltäter am Kragen nimmt, so findet sich unverzüglich ein Passus in einem Amnestieerlaß, der den Schuldigen der Strafe entzieht.«
Die Sicherheit für politisch Mißliebige sei in Deutschland geringer als in der verrufensten südamerikanischen Republik oder im Rom der Borgia, notierte Kessler, als Hans Paasche Pfingsten 1920 auf seinem eigenen Gut »auf der Flucht erschossen« worden war. Der von Studenten und Kollegen drangsalierte Professor Georg Friedrich Nicolai brachte sich vor den Mordbuben in Sicherheit — in Südamerika…
Das Ehepaar Ossietzky, inzwischen mißliebig genug, blieb in Berlin, ständig in Angst vor Anschlägen, obwohl Maud am liebsten nach Uruguay ausgewandert wäre. Ossietzky, zwar ein Mann der großen Themen, war noch ein Autor kleiner Öffentlichkeit. Das wurde anders.
Am Vertragswerk von Versailles 1919 bemängelte Ossietzky,
daß die Deutschen die Unterzeichnung des Waffenstillstands nicht den Militärs mit Goldbordüren überlassen haben, die sie in die Niederlage geführt hatten, sondern daß sie dafür einen Beamten der Republik gerade stehen ließen, den Zentrumsabgeordneten Erzberger, der dann ermordet wurde. »Zwölf Schüsse für einen Mann, den der erste bereits gefällt hatte. Es war keine gewöhnliche Mordarbeit… Und als das Opfer am Boden lag, da, im Bluttaumel, drückten sie immer wieder ab, als gelte es, den Vater aller Lüge für ewig zu erledigen. Sie haben einen Menschen getötet, sterblich wie wir alle. Aber sie haben auch ein Phantom getötet, eine Chimäre der nationalistischen Presse, eine Legendenfigur, die fast gar keine menschlichen Umrisse mehr hatte. Sie haben auf ihn geschossen, wie auf eine rot angestrichene Plakatfigur mit Teufelsfratze.« So in der »Berliner Volks-Zeitung« vom 28. August 1921.
Seine Beschreibung weitete sich zur Kritik der staatlichen Öffentlichkeitsarbeit: »Wäre die deutsche Republik nicht so unendlich tapsig in allem, was Propaganda angeht, sie hätte die Dokumente, die diesen Waffenstillstand belegen, Woche für Woche, Tag für Tag durch Maueranschlag verbreiten lassen und damit längst einer Geschichtslüge den Garaus gemacht,
deren Folgen wir noch nach Jahrzehnten spüren werden… Die Klischees der Wulle- und Reventlow-Presse beherrschen alle Köpfe. Und am schlimmsten steht es leider mit den bürgerlichen Oberschichten. Hier haben die albernsten und kurzbeinigsten Lügen unumschränkt Besitz ergriffen. Und wenn die Regierung heute eine Pflicht hat, so ist es die unerschrockene Offensive gegen die alles vergiftenden Legenden. Geschieht das nicht, so kommen wir nach vereinzelten Bürgerkriegsepisoden in eine Periode individuellen Terrors, der schließlich durch den Krieg aller gegen alle abgelöst wird.«
Klar sah Ossietzky schon 1921 voraus, wohin die Republik sich treiben ließ: »Die ›Deutsche Tageszeitung‹ hat mit zynischer Frechheit den Männern der Republik ›Zurückhaltung‹ anempfohlen, da sie sich sonst die Folgen zuschreiben könnten. Das ist das offene Bekenntnis zur Methode des Faschismus.«
Dem Erzberger-Mord folgte der Rathenau-Mord und viele andere. Emil Gumbel hat am Ende eine Statistik daraus abgeleitet, die nachwies, daß die Justiz der Republik parteiisch war. Sie hat auch den Österreicher Adolf Hitler nicht ausgewiesen, als es Zeit dafür gewesen wäre. Der Richter, der diesen Antrag ablehnte, verurteilte später Ossietzky und wurde Minister im »Dritten Reich«.
In dem vom Helmut Donat und Adolf Wild in Bremen 1986 edierten Bändchen »Carl von Ossietzky — Republikaner ohne Republik«, findet sich Ossietzkys umfassende Beurteilung des Versailles-Komplexes anläßlich der Reparations- und Demilitarisierungsverhandlungen von Spa (Juli 1920) in der »Neuen Schweizer Zeitung«:
»Man hat im Laufe der Zeit gelernt, mit Pauschalurteilen über ein ganzes Volk sehr vorsichtig zu sein. Und wenn man die Deutschen so oft als ›rettungslos militaristisch infiziert‹ bezeichnet, so ist daran unstreitbar sehr vieles richtig, aber man darf darunter nicht ohne weiteres das Schwärmen eines gesamten Volkes für die Freuden des Kasernenhofes und alle üblen Folgen eines mehr als selbstbewußten Militarismus verstehen. Im Gegenteil, die Kaserne ist von weiten Volksschichten immer als ein infames Zwangsinstrument aufgefaßt und dem Zuchthaus gleichgesetzt worden. Das eigentlich Vergiftende war die Institution des Reserveoffiziers, die es der lieben Jeunesse doree und strebsamen Sprößlingen des Kleinbürgertums in die Hand gab, das persönliche Nichts mit der schimmernden Aura feudaler, also unbürgerlicher Anschauungsformen zu umkleiden und durch die zu rechter Zeit ausgespielte Suprematie des ›vornehmsten Rockes‹ wenn auch nicht eine Persönlichkeit,
so doch den Vertreter einer privilegierten Klasse vorzustellen.«
Nicht der Militarismus allein, sondern das Großmachtgefühl, das »in jedem Deutschen« vor 1914 atmete und lebte, verursachte vor 1914 die psychischen Blockaden gegen die gebotene Vernunft: »Durch Jahrhunderte war das alte Reich ein Jammerbild von Schlamperei und Duodez-Despotismus gewesen. Nun war ein Zug straffer Zentriertheit hineingekommen. Der Aufschwung war endlich da! Der Aufschwung, ja das ist das Wort. Und keines-war beliebter in der wilhelminischen Ära. Großmacht und Aufschwung! Und auch die röteste Opposition war glücklich über ihr weites Paradefeld für den Aufmarsch der Arbeiterkolonnen.« Der militärisch-industrielle Komplex war nicht nur eine Frage der Arbeitsorganisation. Er war eine psychische Realität. Ossietzky sah in der Weigerung, diese Geistesart zu revidieren, den Grund des Unfriedens nach Versailles; statt zu verhandeln, wollen die Deutschen »ein paar Fetzen graues Tuch als Siegeszeichen mit nach Hause bringen«, Haubitzen und Flieger für die Reichswehr. Dabei hat der Friedensvertrag unleugbare Schwächen: »Die wirtschaftliche Seite des Friedensvertrages ist unhaltbar, die territoriale fehlervoll, der Völkerbund nur ein Wechsel auf die Zukunft. Das alles schrie nach Korrekturen. Nur eines stand fest, unumstürzbar: — die Abrüstung…«
Mit Recht schreibt Ossietzkys Tochter, Rosalinde von Ossietzky-Palm, in ihrem Geleitwort zu Donat/Wild, daß ihr Vater in den Beiträgen zur »Neuen Schweizer Zeitung« (1920/1921) einen zeitlos schönen Stil geschrieben hat und aktuell ist: »Die Genesis der deutschen Reaktion« bietet tatsächlich ein Lehrstück für den Deutschunterricht; aber es steht zu befürchten, daß die Schule das auch im hundertsten Geburtsjahr des Autors nicht bemerkt.«
Ossietzkys Einschätzung der Pariser Verträge von 1919 deckte sich mit den Meinungen, die britische Teilnehmer der Verhandlungen, wie der Diplomat und Essayist Harold Nicolson und der Ökonom J. M. Keynes, seinerzeit geäußert haben. Wir dürfen annehmen, das Carl von Ossietzky sie gekannt hat. Er war ein fleißiger Leser. Mit dem Chefredakteur Louis Garvin vom Londoner »Observer« stimmte er fast vollständig überein: »Man muß mit den Völkern und nicht mit den Politikern rechnen«, hatte Garvin 1919 geschrieben: »Dieses Machwerk ist ohne Zukunft. Entweder wird es in wenigen Jahren durch die einmütige Zustimmung aller Beteiligten geändert, oder ein noch verheerenderes Schicksal
wird über uns hereinbrechen…« Eine nur auf militärischer Macht basierende Friedensordnung widersprach dem gesunden Menschenverstand. Den Deutschen bleibe keine andere Hoffnung als Revanche. Sie würden alles daran setzen, sich mit Rußland zu verbünden, »eine günstige Gelegenheit abpassen«, denn der Vertrag verknüpfe Deutschland und Rußland durch ein Band gemeinsamer Interessen »ganz besonders im Hinblick auf die zwischen ihnen gelegenen neugeschaffenen Staaten«. Man habe aus dem Krieg lernen müssen, wie »leicht ein wissenschaftlich und industriell hochstehendes Volk Waffen und Heere im Notfall aus dem Boden stampfen kann«.
»Viele Feinde hat das deutsche Volk in der Welt. Aber die schlimmsten trägt es in sich«, schrieb Ossietzky in der »Berliner Volks-Zeitung« vom 27. Juni 1920, und im selben Aufsatz: »Es geht um die Existenz der Demokratie. Keinen Augenblick darf sie sich von einer an sich verständlichen Massenstimmung hinreißen lassen. Mitten in der allgemeinen Entrüstung über die Ententepolitik muß sie mit unerbittlicher Schärfe auf jene hinweisen, die sie als wahre Urheber des Unglücks erkannt. Völkerpolitik wird nicht mit Temperamentsausbrüchen gemacht. Eine nationale Pflicht nur hat der Deutsche heute: jede pomphafte Gebärde zu vermeiden
und still zu arbeiten! Nationale Würde, das ist nicht vaterlandsparteiliche Schmierenpathetik, sondern Besinnung und Abrechnung mit sich selbst. Patriotismus, das sei Handlung und nicht Wort… Wir Deutschen sollten den Klärungsprozeß nicht mit Tiraden aufhalten. Wir, die von Mißtrauen Zernierten, können viel zum Abbau der Kriegsstimmung und damit zur Entwaffnung der Welt beitragen, wenn wir offen zum Ausdruck bringen, daß nach den blutigen Erfahrungen von vier Kriegsjahren eine Rückkehr zu politischen Grundsätzen unmöglich ist, die nicht wenig mitschuldig waren an der Entfesselung des Krieges.«
Aber schon ein paar Monate später, im März 1921, sah er die Chance zum Frieden gefährdet, wenn nicht gar vertan: »Daß auf eine Revolution eine Gegenrevolution folgt, ist, wie die Geschichte lehrt, nicht absonderlich, sondern normal. Aber daß der Revolution gleichsam vom ersten Tage an die Gegenrevolution auf den Fersen ist, das ist ein Vorgang von typischer Deutschheit und deshalb einzig dastehend… Gerettet ist zwar die neue Staatsform: die Republik — sie lebt, kein Zweifel, aber wie?… Die Republik hätte sich zu einem neuen Geist bekennen müssen. Sie hat es versäumt, als es Zeit war. Sie hätte einen Strich machen müssen unters Vergangene — und sie zog einen dicken, weithin sichtbaren Bindestrich.«
Ossietzky glaubte, der deutschen Republik stünden noch zwanzig bittere Jahre bevor, ehe ihr Begriff im Volk lebendig geworden sei. »Unsere Republik ist noch kein Gegenstand des Massenbewußtseins, sondern eine Verfassungsurkunde und ein Amtsbetrieb… Um diesen Staat ohne Idee und mit ewig schlechtem Gewissen gruppieren sich ein paar sogenannte Verfassungsparteien, gleichfalls ohne Idee und mit nicht besserem Gewissen, nicht geführt, »sondern verwaltet.« So im »Tage-Buch« vom 13. September 1924 zur Gründung des »Reichsbanner Schwarzrotgold«. Im selben Jahrgang der Wochenschrift hat Ernst Bloch zum Hitlerputsch vom November ’23 geschrieben, Hitler stelle »eine Truppe mit Mythos« auf. Das Dilemma der Republik war offensichtlich, der militärisch-industrielle Komplex stärker als der Staat.
Ossietzky kritisierte die Zeitschrift »Das Reichsbanner« als die schlechte Kopie einer Armeezeitung. Aus einer Sache des Geistes sei eine »Mützen- und Uniformangelegenheit«, eine »unverfälschte Kriegsvereinsangelegenheit« geworden. »Und der Effekt? Reichsbanner zelebriert Verfassungsfeiern, Reichsbanner macht Stechschritt, Reichsbanner drapiert Potsdam schwarzrotgold, Reichsbanner prügelt sich mit Kommunisten — und Fechenbach sitzt im Zuchthaus. Das ist der Humor davon.«
Felix Fechenbach war der Sekretär des 1919 ermordeten Ministerpräsidenten des Freistaates Bayern, Kurt Eisner, und wegen Landesverrat 1922 zu elf Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Er kam erst 1928 frei und wurde 1933 beim Transport ins KZ Dachau »auf der Flucht erschossen«. Ossietzky setzte sich 1924 dafür ein, ihn zu befreien: »Derweil aber werden weiter Einheitswindjacken vertrieben und Militärbrotbeutel und Satinschärpen, einfache Ausführung, dito bessere Ausführung, gefüttert, dito Seidenmoire, mit Goldfransen (siehe Bundesorgan). Frei Heil! Wer auf den ewigen Korporal im Deutschen spekuliert hat, der hat noch niemals falsch spekuliert.«
Wie vertrug sich Ossietzkys Vereinzelung mit der um sich greifenden Spekulation »auf den ewigen Korporal im Deutschen«? Konnte man den »ewigen Korporal« in so etwas wie eine »Heilsarmee der Demokratie« überführen? Ossietzky schrieb, vor allem die Kriegspropaganda habe geklappt, und die Republik leide unter deren Nachwirkungen. Gleichzeitig notierte sein Jahrgangsgefährte Adolf Hitler,
der Krieg hätte gewonnen werden können, wenn die Propaganda besser gewesen wäre. Ossietzky setzte auf die Vernunft, auf die Sprache, auf das Bewußtsein, der andere organisierte die Korporale, das Gebrüll und den unbewußten Marschrhythmus, von dem Ossietzky gesagt hat, er habe der Republik immer gefehlt. Als »Thomas Murner« schrieb er »Von deutscher Republik«, was sich heute wie eine Predigt gegen deren Sünden ausnimmt.
Während die russischen Kommunisten 1920 die »Befreite Arbeit« als »Militarisierung der Arbeit« bis hin zu Orden und Ehrenzeichen definierten und Arbeitsdisziplin zur staatsrettenden Aufgabe erklärten, fiel in Deutschland der militärische Komplex in Söldnertruppen auseinander, indes die Industriearbeiter um die Prinzipien ihrer Ordnung kämpften und die dünne Schicht der Kapitalisten, durch den Krieg bereichert, durch die Niederlage vom moralisierenden Anspruch des preußischen Militarismus befreit, orgiastische Bourgeoisie spielte.
Der stille, korrekte, eher »hanseatisch« sich gebende Ossietzky verachtete dieses Berlin. »Teuerung, Sittenlosigkeit, Schiebertum« bedrohten die Republik, von der er schrieb, sie müsse »sauber sein«.
Dieser Bourgeois sei nicht der Repräsentant einer bestimmten Klasse, sondern einer bestimmten Denkart, womit er wohl recht hatte: »Er sorgt dafür, daß wir nicht die Einheitsschule erhalten… Er jammert über die Sittenlosigkeit und ist von der Prostitution durchdrungen. Er stöhnt über den Verfall der Wirtschaft und macht Geschäfte, die die Valuta verhunzen. Er bleibt gleichgültig, wenn er an die Kriegsjahre zurückdenkt, und vergießt Tränen bei dem Gedanken, daß Hindenburg in Zivil wandeln und sich von einem Frankfurter Juden ausfragen lassen muß. Die Presse fügt sich seinem Geschmack — er gibt der Republik, die er verwünscht, sichtbarlich das Gepräge. Mit wenig Hirn und viel Ellbogen ist er dabei, auch die letzten Hindernisse aus dem Weg zu räumen.« Alle Deutschen aber tragen unsichtbar den »Adlerknopf« des Sergeanten am Kragen.
Im Nachhinein besteht kein Zweifel, wie das ungleiche Rennen um die Macht ausgehen mußte; aber es ist auch kein Zweifel erlaubt, daß Carl von Ossietzky in der deutschen Sache recht behielt. Eine Sünde, die nach einem Wort Maximilian Hardens nie verziehen wird. Auch heute nicht, mehr als fünfzig Jahre nach dem Tod dieses Märtyrers der Republik von Weimar.
Die »Adlerknöpfe«, die Hitler aus dem Hut gezaubert, die Uniformen, die er den Deutschen verpaßt, die Trümmer, die sein Regiment hinterlassen hat, sind beseitigt. Übrig bleiben die Leichenfelder, Scham und Schande. Aber vom Schriftsteller Ossietzky, der »kein Mann der Barrikaden« sein wollte, blieb die Schrift. Sie widersteht Raum und Zeit und bleibt lebendig in ihrem Widerspruch zur erfolgreichen Spekulation »auf den ewigen Korporal im Deutschen«.
Allgemein ist Carl von Ossietzky bei Freund und Feind als Herausgeber der »Welt-bühne« in ihrem roten Umschlag in Erinnerung. Rot gilt als die Farbe der Liebe, der Fruchtbarkeit, der Stärke, in der Politik als die Farbe der Revolution. Auch die erdfarbenen Braunhemden und Dunkelmänner der Gegenrevolution wollten auf die rote Fahne nicht verzichten. Ossietzky gilt als ein »Roter«, seine »Weltbühne« als eine rote Zeitschrift. Aber sie erschien schon im roten Umschlag, als Siegfried Jacobsohn, der unermüdliche Analytiker, sie als »Schaubühne« zum 7. September 1905 gründete.
Ossietzky hatte, ehe er im April 1926 in die »Weltbühne« eintrat, seine publizistische Meisterschaft in zwei Wochenschriften voll ausgebildet, die Stefan Großmann und Leopold Schwarzschild herausgaben. Das schon erwähnte »Tage-Buch« hatte einen grünen Umschlag. Grün gilt als die Farbe der Hoffnung. Die Herausgeber und ihr junger Verleger, Ernst Rowohlt aus Bremen, setzten ihre Hoffnung auf den Neubeginn nach dem verlorenen Weltkrieg.
Die andere Publikation, deren verantwortlicher Redakteur Ossietzky 1924 bis 1926 war, hieß »Montag-Morgen«. Sie erschien als Wochenzeitung und galt als verschollen, bis im Heft 1/1988 des niederrheinischen Kulturmagazins »Juni« der 1951 geborene Bibliothekar und Exilforscher Gregor Ackermann siebzig Beiträge Ossietzkys zum »Montag-Morgen« bibliographierte. Er vermutet, daß fünfzig weitere, mit dem Kürzel »-y« gezeichnet, ebenfalls von Ossietzky stammen. Wir haben sie nicht gelesen, aber Ossietzky wurde 1927, als er schon die »Weltbühne« machte, als Verantwortlicher Redakteur für einen Aufsatz Erich Weinerts im »Montag-Morgen« auf eine Klage des Reichsmarineamtes wiederum wegen »Beleidigung« zu 500 Mark Geldstrafe verurteilt. Das erhöhte das Strafmaß im folgenden »Femeprozeß«.
Georg Friedrich Nicolai hat in seinem Antikriegsbuch die Sozialdemokratie »das treueste Spiegelbild des deutschen Volkes« genannt, »eine Mischung von doktrinärem Idealismus und praktischem Militarismus«. Ossietzky schätzte sie ähnlich ein: »Mißvergnügte Sozialdemokraten alten Schlages« bildeten für ihn den Kern der KPD, unter der »Bärenmütze« der Moskowiter »August Bebels ehrliche Kämpferaugen«. Aber als politischer Journalist, der die Entwicklung von Tag zu Tag — noch ohne die Informationsflut von Pressestellen, Agenturen, Radio, Fernsehen, Fernmeldeanschlüssen — aus anderen Journalen, aus Gesprächen und Telefonaten zu rekonstruieren suchte, mußte er sie an ihren Taten erkennen und an den Repräsentanten dieser stärksten Partei:
»Jene Partei, die einst so stolz darauf war, auch von jedem Ansatz einer Kamarilla frei zu sein, läßt sich heute in seltsamen ›Funktionärsversammlungen‹ von Krügern und Heilmännern gängeln« (1920). Auch in ihr hatte es den Trennungsstrich von der Vergangenheit nicht gegeben, in ihr am allerwenigsten, was ja dann zu den Abtrennungen jener Gruppen führte, die mit der Bindestrichpolitik der Koalitionen mit den Nationalen nicht einverstanden waren. Die KPD verdanke gut die Hälfte ihrer Anhänger der »fürsorglichen ›Ordnungspolitik‹« des Volksbeauftragten und Reichswehrminister Gustav Noske (SPD).
»Wer aus der Geschichte von fünf Jahren gelernt hat, weiß es, daß nicht die Völkischen, die Monarchisten die eigentliche Gefahr sind, sondern die Inhaltlosigkeit und Ideenlosigkeit des Begriffes deutsche Republik, und daß es niemandem gelingen will, diesen Begriff lebendig zu machen.« Den »Allzuvielen«, die am 9. November 1918 »ihr sozialistisches Herz entdeckten«, fehlte »jegliche politische Schulung«, der »gediegene wissenschaftliche Unterbau der älteren Marxisten«. Der Deutschen Volkspartei mangelt der ideelle Untergrund, und die »fabelhafte politische Unbildung des deutschen Bürgertums« gibt Anlaß zur Warnung, sich nicht zu einer »Massenstimmung« hinreißen zu lassen, »jede pomphafte Gebärde zu vermeiden und still zu arbeiten.«
Ossietzky überträgt damit Vernunftansprüche auf die Republik, wie sein Vorgänger als Redakteur des »Völker-Friedens«, der schwäbische Pfarrer Otto Umfrid (1857-1920), im Kaiserreich gepredigt hat, daß mangelnder Friedenswille den Staat gefährde. Im Religiösen hegt darunter die biblische Weisheit, daß man nicht zwei Herren dienen kann, Gott und dem Mammon; aber politische Parteien sind nicht Gottesparteien, sondern wollen ihren Teil an der Welt, und so beeindruckte es sie auch nicht,
daß Ossietzky in »Nie wieder Krieg!« (März 1921) zur »Sünde der Republik« erklärte, daß »man nicht dem neuen Geist vertraute«. Das Blatt, in dem seine Anklage erschien, war marginal, die Vokabeln »Sünde« und »Geist«, gar »neuer Geist«, waren im »alten Geist« der moralisierenden Publizistik abgegriffene Münze.
Ossietzkys Abschied vom Pathos zog sich über Jahre hin. Sie gingen nicht ohne Erschütterungen ab. Die Ehe drohte in die Brüche zu gehen. Das »Erinnerungsbuch« spricht 1923 von »schlimmsten Verirrungen«, und im Februar 1923 beschwört er seine Frau: »Für die Arbeit, die ich zu tun habe, muß ich wachsen, Neues aufnehmen, Neues erleben.«
Wie stark die Belastung gewesen sein muß, zeigt der Vergleich der harten analytischen Warnung vor den Münchner Hakenkreuzlern im September 1921 mit den Reisegrüßen an die in Berlin gebliebene Maud: In der »Berliner Volks-Zeitung« warnte er, in dem »obskuren Parteigebilde« nur Krakeeler zu sehen. Es handle sich um einen Geheimbund und eine »Stoßtruppe der
Gegenrevolution«, um ein Sammelsurium von »jedenfalls desperaten und zu allem fähigen Burschen«. An die Frau: »Ich bin durch herrliche Landschaften gefahren und sehr, sehr dankbar für diese Gnade…« Und am 25. September aus München: »Sonntag, Oktoberfest! Kannst Du Dir vorstellen, daß eine ganze große Stadt besoffen sein kann?! Nein? Es ist aber so. Das Bild ist ein fabelhaftes, aber der Aufenthalt mittenmang nicht immer angenehm…«
Carl von Ossietzky, alias »Thomas Murner«, alias »Lucius Schierling« wollte die »wahre Republik«, die wahrhaftige Demokratie mit einer »Politik der Eindeutigkeit«. Darum forderte er auf, das »Stigma der Wehrlosigkeit« zu tragen, »in dem Bewußtsein, daß wir höhere Werte in uns bergen und schaffen können, und daß andere Völker schließlich folgen werden (sic!) das Arsenal des Todes zu schließen… Wer die Ablieferung von Waffen hintertreibt, ist ein Verbrecher an seinem Volk, ein Verbrecher an der Menschheit!« Richtig sieht der Publizist Raimund Koplin (1964) in dieser ethischen Position, das Völkerrecht über das Nationalrecht zu stellen, den Ursprung der Verfolgungen Ossietzkys durch die Weimarer Justiz.
Ossietzky glaubte, wie der Rechtsphilosoph Gustav Radbruch, Reichsjustizminister im Kabinett Wirth, daß sich neues, menschlicheres Recht aus revolutionärer Lava bilde, und wie jener sah er sich durch die Rechtsprechung getäuscht. Er hätte sich auch in der Justiz einen Trennungsstrich zum vorigen System gewünscht statt dem Bindestrich, der die Weimarer Republik mit dem Kaiserreich verband. Ein Wunsch, den wir nach den Erfahrungen von 1945 sehr wohl verstehen.
Aber nicht nur in der Justiz walteten die alten Richter und Staatsanwälte, nicht nur im Militär die alten Generale und Feldwebel, auch in der Wirtschaft grassierte der alte Geist der Aggression. Um die Alliierten davon zu überzeugen, daß Deutschland die Reparationen nicht zahlen könne, ließ die Regierung die Mark unter ständigen Hinweisen auf die Folgen von Versailles von sechs Mark für einen US-Dollar bei Kriegsende auf 4 Billionen, zweihundert Milliarden Mark abrutschen. Sie pauperisierte auf diese Weise den Mittelstand und ermöglichte gewaltige Gewinne derjenigen, die reich genug waren, Schulden zu machen und diese mit entwertetem Geld zurückzuzahlen.
Konzentration der Macht also und Radikalisierung der Enterbten gegen den »Erbfeind« Frankreich, der schließlich in der Schlußphase die industriellen Zentren an Rhein und Ruhr besetzte, um dem Spuk ein Ende zu machen. Dort trafen Franzosen, Belgier und Mussolinis Italiener auf den »passiven Widerstand« der Bevölkerung, dirigiert vom deutschnationalen Reichskanzler Cuno, »spontan« ausgeführt insbesondere von der Arbeiterschaft.
Das Ziel war, mit industriellen Mitteln den Besatzern eine militärische Niederlage beizubringen. Auf die Dauer kam die wachsende Verzweiflung der »kleinen Leute« den Kommunisten und Rechtsradikalen zugute; in Landtagen, Stadträten, Gewerkschafts- und Betriebsräten den Kommunisten, die den Kapitalismus insgesamt verantwortlich machten, bei den Bürgerlichen der äußersten Rechten, die den Siegern, den Juden und der »November-Republik« die Schuld gab. Hungermärsche, Ladenplünderungen durch Arbeitslose und die latente Drohung mit Gewalt waren die Folge.
Der sowjetische Agitator Karl Radek reiste umher, um einen revolutionären Krieg gegen die »Ausbeutung durch das Ententekapital« vorzubereiten und hoffte dabei auf »Völkische« um den Grafen Ernst Reventlow — eine Liaison zwischen Links und Rechts,
die auch zum Ende der Republik in anderer Besetzung noch einmal versuchte, eine Rolle zu spielen. Die rheinische Bourgeoisie überlegte sich inzwischen, ob es ihr in einem französischen Satellitenstaat »Rheinische Republik« nicht besser ergehen werde. Noch war die historische Animosität gegen Preußen und Berlin lebendig, nicht unähnlich wie im ebenfalls katholischen Freistaat Bayern. Die staatstragende Sozialdemokratie mußte unter diesen Umständen befürchten, daß die Preisgabe des »passiven Widerstandes« ihr als ein zweiter »Dolchstoß« in den Rücken der kämpfenden Front angelastet würde, und hielt sich zurück.
Carl von Ossietzky hatte von Anfang an das Sicherheitsbedürfnis der Franzosen anerkannt, zur Erfüllung der Pariser Verträge geraten, Gewalt abgelehnt und darüberhinaus mit Kessler eine europäische Föderation durch Vereinigung der wirtschaftlichen Potentiale gefordert. Er konnte also weder dem ökonomischen Gegeneinander, noch den Gewaltparolen, noch dem Taktieren der Sozialdemokratie etwas abgewinnen. Seine Formel, daß die deutschen Arbeiter nicht ewig für die Profite der Kapitalisten schuften sollten, blieb auch gültig, als sich die Haniel, Thyssen, Klöckner, Krupp und Stinnes, »gute Christen urdeutschen Abkommens«, scheinbar mit ihren Arbeitern auf denselben Barrikaden fanden.
Ossietzky war kein Barrikadenkämpfer und wollte niemanden auf die Barrikaden treiben. Seine Kollegen in der »Berliner Volks-Zeitung« dachten ähnlich. Sie sahen die Republik bedroht durch die rechtsradikalen Verbände, die 1923 zusammen mit unzuverlässigen Reichswehr- und Landespolizeieinheiten auf über 100 000 Mann geschätzt wurden, und durch die Schwächen der Parlamentsparteien. Das mochte unabänderlich erscheinen, solange die Inflation anhielt. Aber als nach dem Rücktritt Cunos der neue Reichskanzler Dr. Gustav Stresemann (Friedens-Nobelpreis 1926, siehe Band 4) von der »Deutschen Volkspartei« die Kapitulation im »Ruhr-Kampf« einleiten mußte und am 26. September 1923 vollzog, war die Zeit zum Handeln gekommen. In kurzer Zeit wurde die Mark stabilisiert, indem man die Notenpresse stillegte und Steuern einzog.
Das »Wunder« festigte auch die Republik und deren Parteien. Karl Vetter von der »Berliner Volks-Zeitung« sah mit Kollegen die Chance, »die wahre Republik« in einer neuen Partei zu erreichen. Seine Initiative vereinigte sich mit derjenigen enttäuschter Mitglieder der Demokratischen und der Sozialdemokratischen Partei,
die sich um Professor Wilhelm Westphal gesammelt hatten. Sie stellten eine gemeinsame Liste auf. Ossietzky kandidierte für die »Republikanische Partei Deutschlands« in Potsdam und unterlag.
Die ganze Partei unterlag, obwohl Ossietzky als Sammelbecken für rebellierende Jugend eine »Liga junge Republik« bereit hielt und gleichzeitig der Parteivorstand seine Hoffnung auf die »Vereinigung aller Brüder deutscher Zunge« setzte und an einem Bismarck-Denkmal einen Kranz mit schwarz-weiß-roter Schleife niederlegte. Auch wollte die Partei eine Volksmiliz als allgemeine Wehrpflicht. Die »Liga Junge Republik« sollte dem »Kindsmißbrauch« durch die Völkischen entgegenwirken und Fairness in die Wahlkämpfe bringen, wie sie der »Weimarer Kulturrat« im April 1924 forderte.
Die Deutschnationalen, die Völkischen und die Kommunisten gingen dann gestärkt aus den Reichstagswahlen hervor. Die Neugründung hatte allenfalls erreicht, was ihr vorausgesagt worden war: Sie zersplitterte die ohnehin dünngesäten demokratischen Kräfte.
Die allgemeine Stabilisierung von 1924, der ein Jahr später mit der Hindenburgwahl schon die Wende nach rechts folgen sollte, bewog den Mosse-Konzern, dem die »Berliner Volks-Zeitung« gehörte, auch seine publizistischen Kräfte zu stabilisieren.
Das war von der Konzern-Spitze her gesehen konsequent. Zersplitterung mußte die Mitte schwächen, die zu beeinflussen, das Selbstinteresse der Pressekonzerne erforderte: Hohe Auflagen lassen sich im konventionellen Meinungsspektrum am ehesten erzielen. Es zu pflegen, ist das Bestreben der »Generalanzeiger«; sich ihm anzupassen, bringt Wählerstimmen.
Insofern saßen die Großverleger Mosse, v. Schwabach, Knorr & Hirth, Neven DuMont, Ullstein, Scherl mit den Bankiers und den Großindustriellen aller anderen Branchen im selben Boot der Massenproduktion und deren profitabler Verzinsung — ob im Glauben jüdisch, christlich oder nationalistisch, wie der bald auftretende Krupp-Direktor Alfred Hugenberg, (dann 1933 Minister im 1. Kabinett Hitler).
Es soll Theodor Wolff, pazifistischer Chefredakteur eines anderen Konzernblattes, des »Berliner Tageblatts«, Mitbegründer der »Demokratischen Partei«, ein Neffe des eben damals verstorbenen Chefs, Rudolf Mosse, gewesen sein, dem Ossietzky seinen Abschied verdankte.
Ossietzkys Ausflug in die Parteipolitik war kein Meisterstück gewesen. Der an den englischen Pamphletisten geschulte Stilist war in der Volksversammlung nicht angekommen, die Sammlung der Republikaner misslungen.
Der soziale Radikalismus der »Volks-Zeitung« blieb ohne Chance. Von Theodor Wolff hat einer seiner Bewunderer, der Journalist Helmut Cron, einmal gesagt, er habe nicht nur wissen wollen, wovon jemand »unabhängig« sei, sondern auch wozu.
Ossietzky war nun im Frühjahr 1925 unabhängig vom Konzern Mosse und damit zur redaktionellen Zusammenarbeit mit Stefan Grossmann und Leopold Schwarzschild frei, zwei finanziell unabhängigen publizistischen Kleinunternehmern, die »Das Tage-Buch« und den »Montag-Morgen« herausgaben, also mit zwei Titeln je einmal in der Woche ihre Leser erreichten. Von den wichtigen linksliberalen und demokratischen Journalisten der Reichshauptstadt hatte nur Stefan Grossmann die Republikanische Partei für wählbar erklärt, und dieser nur, weil er Personen statt Listen wollte und die Republikaner den jungen Hans Simons aufstellten. Grossmann war gebürtiger Österreicher und konnte nicht wählen, ebensowenig wie der junge Hitler, der mit dem alten General Ludendorff geputscht hatte und in komfortabler Festungshaft daran ging, »Mein Kampf« zu diktieren.
Die Zeitschrift »Das Tage-Buch« war vier Jahre alt, als Ossietzky dort in die Redaktion eintrat. Sie sollte einen »Geheimbund der Sachkenner« schaffen, »die urteilen, ohne nach rechts oder links zu schielen«.
Der Herausgeber versprach, über heikle wirtschaftliche und politische Situationen aus eigener Anschauung zu berichten. Passend in Ossietzkys Gedankenwelt war schon in Heft 1 am 10.1.1920 ein unveröffentlichter Brief des Journalisten und Schriftstellers Theodor Fontane über Wilhelm IL vom 5. April 1897 erschienen. Darin kritisierte der Autor den Rüstungswahn des Kaisers historisch. Er komme ihm vor, als ob man Anno 1400 alle Kraft darauf gerichtet hätte, die Ritterrüstung kugelsicher zu machen, statt sie fortzuwerfen: »Die Rüstung muß fort, und ganz andere Kräfte müssen an die Stelle treten: Geld, Klugheit, Begeisterung. Kann sich der Kaiser dieser Freiheit versichern, so kann er mit seinen fünfzig Millionen Deutschen jeden Kampf aufnehmen. Durch Grenadier-Blechmützen, Medaillen, Fahnenbänder und armen Landadel, der seinem ›Markgrafen durch Dick und Dünn folgt‹, wird er es aber nicht erreichen.«
Fontane verurteilte 1897 die Manipulation durch Symbolik, die Ossietzky 1920 anprangern sollte. Auch Fontanes Satz, daß der Kaiser eine Säule sehe, wo nur »thönerne Füße« sind, hat Carl von Ossietzky auf die Weimarer Republik angewandt.
Und wie das »Tage-Buch« seinen Lesern riet, erweiterte auch Ossietzky seine Perspektiven aus fleißiger Lektüre
der englischen Presse. Die Zahl der deutschen Auslandskorrespondenten hatte sich durch den Krieg und seine Folgen drastisch verringert, die amtliche Nachrichtenagentur, das Wolff sehe Telegraphenbüro, diente mehr der Selbstdarstellung als der Informationsbeschaffung. Die Kriegsmaxime, die eigene Bevölkerung von »feindlichen« Meinungen und Meldungen abzuschirmen, verhinderte noch ein halbes Jahrzehnt nach dem Waffenstillstand, daß die Investitionen für eine friedensmäßige Berichterstattung zusammen kamen.
Das Prinzip, die laufenden Kosten niedrig zu halten, ließ sich in der Presse am sichersten bei den Personalausgaben für Redakteure und »freien«, das heißt nach Zeilen im Stücklohn bezahlten Mitarbeitern, durchsetzen. Sie hatten, obschon das Verlagsgewerbe eine Industrie war wie eine andere, keine Gewerkschaft. Ein Tarifvertrag wurde erst angestrebt; aber er verhinderte auch nach seinem Inkrafttreten nicht, daß der Ehrgeiz der Autoren, in die Zeitung zu kommen und so, wenn auch nur in wenigen Zeilen, sich selbst darzustellen, den Eigentümern der Druckereien und Verlage immer neue Generationen handzahmer und materiell anspruchsloser Abhängiger bescherte.
Darwins Gesetz vom Überleben der Angepaßtesten läßt sich nirgends so gut belegen wie in der später so genannten Medien- bzw. Kulturindustrie.
Im »Tage-Buch« war Stefan Grossmann, als junger Theaterkritiker Mitbegründer der Freien Volksbühne, Wien, im Kriege Feuilletonchef der »Vossischen Zeitung«, für das Allgemeine, Leopold Schwarzschild, unerbittlicher Kritiker der deutschen Währungs- und Finanzpolitik, für den ausgedehnten Wirtschaftsbereich zuständig. Schwarzschild, zwei Jahre jünger als Ossietzky, war aus seiner Heimatstadt Frankfurt und deren »Generalanzeiger« nach Berlin gekommen, hatte vorübergehend im Finanzministerium gearbeitet und redigierte seit 1922 mit Grossmann »Das Tage-Buch«, zuerst im Verlag des gleichfalls jungen Ernst Rowohlt, dann im Selbstverlag.
Mit Grossmann gab Schwarzschild den »Montag-Morgen« (1923-1933) heraus, zeitweise auch ein Wirtschaftsmagazin. Nach Grossmanns Erkrankung setzte er 1927 »Das Tage-Buch« allein fort,
wie Ossietzky die »Weltbühne« nach Jacobsohns Tod und Tucholskys Rücktritt von der Redaktion. 1933 ging Schwarzschild in die Emigration. Sein »Neues Tage-Buch« (1933-1940 in Paris und Amsterdam) war wohl die sachlichste der deutschen Exil-Zeitschriften. Gleichwohl hatte Nachkriegsdeutschland für diesen großen Publizisten keine Verwendung. Er starb 1950 in der Schweiz.
Ossietzkys erster Beitrag zum »Tage-Buch« war eine Glosse im selben Heft vom 12. April 1924, in dem Ernst Bloch von »Hitlers Gewalt« schrieb, sie sei der »schiefe Statthalter der Revolution«. Ossietzky sollte zum Geburtstagstermin des 35jährigen Hakenkreuzlers im »Montag-Morgen« vom 28.4.1924 »Hitler als Erzieher« vorstellen: »Was die deutsche Republik von ihren Gegnern lernen kann«.
Im »Tage-Buch« reflektierte der ruhige Mann, den der humorige Berliner Tucholsky als eher »trocken« empfand, sein eigenes Verlangen nach Stille an zwei Anekdoten um Immanuel Kant und Gustav Mahler. Ersterer habe, vom Singen im benachbarten Gefängnis gestört, den Insassen das Singen verbieten lassen, und Mahlers Freunde hätten die Singvögel umgebracht, die den Komponisten an seiner Arbeit verzweifeln ließen.
»Die Gassenhauer der Sträflinge verhallen in der Nacht, aber das Lied des Immanuel Kant wird für ewige Zeiten Finsternisse durchdringen und die Nacht besiegen… Die vielen kleinen Lieder müssen dem einen großen weichen. Der Weg zum Werk gleicht immer dem Marsch einer Armee. Zurück bleiben Trümmerstätten und zertretene Freuden. Aber auch das Singen bleibt immer. Und darauf kommt es an.« So mag er seine Arbeit empfunden haben, und trotzdem sang er mit seiner kleinen Tochter, wie sie später erzählte.
Jede Woche für zwei verschiedene Organe, eine Intellektuellenzeitschrift und eine populäre Montagszeitung, zu schreiben, war um so schwieriger, als der »Montag-Morgen« mit der »Welt am Montag« des alten Gesinnungsfreundes, Hellmut von Gerlach, konkurrierte. Das war wiederum eine »Zersplitterung der Kräfte« der Linken, zumal die Autoren der Grossmann/Schwarzschild-Publikationen mit denen von Siegfried Jacobsohns »Weltbühne« weithin identisch waren: Blei, Bloch, Gumbel, Kantorowicz, Kalenter, Welter, Hausenstein, Pinthus, Theodor Lessing, die Brüder Olden, Polgar, Reimann, Ringelnatz, Wolfgang Götz, Vegesack und überdies mit den Feuilletons der Prestige-Zeitungen liiert.
Im Nachhinein erkennt man leicht, daß der Abstand dieser Intellektuellen westlichen Zuschnitts zu den eingedrillten Denk- und Verhaltensweisen der Arbeiterschaft und des Bürgertums unüberbrückbar war, zu schweigen von den Bauern und Agrariern, die in ihrer perfekten Reichsvertretung ihre eigenen Interessen zur Nostalgie der Nation machten. Akrobaten hier, Fußgänger dort, die einen völlig ungeeignet zum Marschieren, die anderen darin sich erfüllend: Die Deutschen als die »marschierenden Wälder« (Elias Canetti).
Mangels gemeinsamer Information mußten auch die gemeinsamen »Themen des Tages« nur zu widersprüchlichen Bewertungen führen. »Wir haben uns den Begriff Vaterland mit dickflüssigem Schwatz umkleistern lassen. Nichts schwingt in uns mehr mit, wenn einer das Land unserer Geburt feiert. Männerchöre gröhlen, Studenten trampeln, Frauenvereine kreischen, aber es zittert kein Herz mehr, wenn einer Deutschland sagt. Das Vaterland gehört zum Bereich des Mundwerks, ist untrennbar verbunden mit Eichenlaub und Schwertern und schlechtem Öldruck… Die Hand an der Gurgel, in der Tasche des andern, so hat das deutsche Volk in diesen bitterbösen Jahren — zusammengehalten…«
So Carl von Ossietzky am 17.1.1925 und drei Monate später am 11.4., in seinem Aufsatz »Florian Geyers Jahr«, in Erinnerung an den von der Geschichtsschreibung vernachlässigten Bauernkrieg: »Zu den schändlichsten Attentaten der Schule gegen den deutschen Geist gehört die völlige Konfiskation des großen Bauernkrieges von 1525.« Ossietzky bot Vergleichsdaten an, die dem Volk, das er meinte, auch nichts sagten: »1525, das ist das Jahr Thomas Münzers und Wendel Hiplers, Florian Geyers vor allem. 1525, das ist das Jahr Florian Geyers, wie 1789 das Jahr Mirabeaus, wie 1848 das Jahr Robert Blums, wie 1918 das Jahr Wilhelm Liebknechts.«
Das Jahr 1925, in dem der passionierte Deutsche Ossietzky diese Sätze schrieb, wurde zum Jahr des Generalfeldmarschalls Hindenburg. Das »Tage-Buch« verwies auf den Konstruktionsfehler des Listen-Wahlrechts der Weimarer Verfassung, dessen Koalitionen die Kandidatur ermöglicht hatten, nannte seine Wahl im voraus einen »Sieg der alten Weiber« und machte folgenden Vorschlag:
»Berlin, dritte Aprilwoche. Ein Vorschlag: Deutschlands republikanische Parteien berufen in dem kleinen Herrenhaussaal in Berlin eine auf geladene, wohlerzogene, verläßliche Gäste beschränkte Versammlung ein, an der Repräsentanten aller politischen Richtungen mit Ausnahme der Kommunisten teilnehmen.
Herr von Hindenburg hält in dieser kleinen gesitteten Versammlung das Hauptreferat, in welchem er sein Präsidentschaftsprogramm auseinandersetzt. Drei oder vier Diskussionsredner sprechen mit beschränkter Redezeit. Herr von Hindenburg erhält ein unbeschränktes Schlußwort. Der Vorschlag bietet Herrn von Hindenburg eine ganze Reihe von einleuchtenden Vorteilen.
Erstens kann so bewiesen werden, daß der greise Marschall körperlich und geistig rüstig genug ist, eine etwa halbstündige Programmrede zu halten.
Zweitens kann hierdurch bewiesen werden, daß Herr von Hindenburg imstande ist, einer schwierigen politischen Diskussion zu folgen.
Drittens kann auf diese Weise, durch das Schlußwort des Kandidaten, bewiesen werden, daß er noch geistige Schlagfertigkeit
genug besitzt, sich bei einer längeren Auseinandersetzung ein selbständiges Urteil zu bilden und es zu formulieren.
So könnten durch eine öffentliche Probe die Zweifler, die fürchten, daß der Herr Generalfeldmarschall den komplizierten Fragen der Außen-, Wirtschafts- und Kulturpolitik vollkommen fremd und hilflos gegenübersteht, durch das lebendige Erlebnis ad absurdum geführt werden. Im Ganzen könnte auf diese Weise vor dem In- und Auslande festgestellt werden, daß Herr von Hindenburg den geistigen Erfordernissen seines hohen Amtes, das ihn mit den Gesandten und Botschaftern aller Staaten, mit den Führern aller Parteien, mit den Fachreferenten aller Ministerien zusammenbringt, durchaus gewachsen ist. Ein solcher Nachweis würde in allen Kreisen des deutschen Volkes mit großer Beruhigung und Befriedigung aufgenommen werden.«
Schrieb das Ossietzky oder Grossmann? Man erkennt die Handschrift eines Theaterkritikers, der den Kandidaten in Szene setzt; aber der Hohn der Inszenierung könnte auch von Schwarzschild sein. Nach der Wahl, deren Stimmauszählung einen geringen Vorsprung der Hindenburgwähler ausgewiesen hatte,
druckte das »Tage-Buch« einen Hinweis von Marcel Proust auf »das Plagiat seiner selbst«, dem zu entgehen, Menschen wie Völkern am schwersten fiele. Walter Mehring gab Kommentare anderer bedeutender Franzosen wieder, und aus der konservativen Londoner Zeitschrift »Outlook« (2.5.1925) zitierte die Redaktion einen ganzen Aufsatz:
»…Der deutsche Monarchismus und Militarismus hat die Gewohnheit, zu befehlen und das Befohlene ausgeführt zu sehen; darum ist der Präsident Hindenburg in einer weit festeren Position als sein Vorgänger, der Präsident Ebert, es war. Hindenburg hat nicht eine absolute Stimmenmajorität erhalten: aber diese Stimmen repräsentieren eine Partei, die weiß, was sie will, während die Stimmen der Linken von einer Partei stammen, die nur darüber einig ist, was sie nicht will.
Diese Wahrheiten müssen zunächst erkannt werden, wenn wir uns über die Bedeutung der Wahl klar werden wollen. Der Charakter einer Nation ändert sich nie, und selbst ihre Gesetze ändern sich nur selten. Die Wahrheit ist: es gibt kein neues Deutschland, wohl aber ist das alte wieder auferstanden!
Dieses alte Deutschland lernte einst die Notwendigkeit der Einigkeit unter einer starken Monarchie, die es aus dem Wirrwarr von hundert kleinen Monarchien erlöste; es erkannte den Wert einer starken disziplinierten Armee, die es vor dem Ehrgeiz des unbestimmbaren Frankreich und dem Schrecken des unbekannten Rußland schützte (…) Die Wahl ist eine Warnung. Hindenburg ist ein Symbol, das den Deutschen im Innern die Sicherheit bringen soll, das aber nach außen und mit der Zeit den Angriff bringen kann (…) Worte verstecken meistens nur unsere Gedanken: es sind die Taten, die unser Innerstes enthüllen. Und die deutsche Tat vom letzten Sonntag hat es bewiesen, daß das neue Europa einfach das alte Europa in durchsichtiger Verkleidung ist.«
Die Wende von 1925 garantierte die innere Ordnung durch große Polizeiaufgebote. Wo immer Demonstrationen der Linken möglich schienen, schaffte die Republik Ordnungshüter in überlegener Zahl heran: »Wenn ein Teil des Volkes sich freut, so muß die Sicherheitswehr bis zu den letzten Reserven antreten, zum ersten, um die, die sich freuen, zu schützen gegen die anderen, die sich nicht freuen, zum zweiten, um die Jubelchöre zu hindern,
in der Hitze der Begeisterung etwa ein Massaker anzurichten unter denen, die Grund zum Ärger zu haben glauben.« Da half Romain Rollands tröstliche Erinnerung an den Marschall de Mac Mahon nichts, unter dessen Präsidentschaft nach 1871 die Französische Republik sich konsolidiert hatte.
Ossietzky sollte später Gelegenheit haben, darüber nachzudenken, ob »ein offener Gegner mehr taugt als ein schlafender Demokrat«, wie Romain Rolland die Hindenburg-Wahl kommentiert hatte. Die Überschriften seiner Beiträge im »Montag-Morgen« lassen nicht auf eine Stabilisierung der Republik, wohl aber auf eine der Rechten schließen: »Wahlkampfsonntag. Der ›Reichsblock‹ marschiert auf«, »Majestätsbeleidigung?«, »Erziehung durch Rotzneesen«, »›Friedens‹-Demonstration der Kommunisten«, »Film oder Zeughaus?«, »Völker ohne Signale«, »Die Jungfrau von Orleans«, »Die markierte Kanone«, »Müde Kämpfer«, »Auf den Heldentod!«, »Mussolinis Totentanz«, »Schutz vor der Justiz!«
Als Film-Kritiker hatte Ossietzky sich auch mit dem deutsch-nationalen Geschichtsfilm der Universum Film AG (Ufa) auseinanderzusetzen,
die — 1917 auf Veranlassung Ludendorffs gegründet — auch als größte europäische Filmfabrik ihren ursprünglichen Propagandaauftrag nicht los wurde. 1927 kehrte sie im Hugenberg-Konzern ganz zu ihm zurück. Sie pflegte die preußisch-deutschen Leitbilder, Bismarck, Friedericus Rex, die Frau als Magd, Gehorsam und immer wieder den Mann in Reih und Glied im Dienste der »großen Sache«.
»Alles durch die Industrie, alles für die Industrie« hatte der französische Sozialphilosoph Henri de Saint-Simon dem 19. Jahrhundert zur Leitlinie erklärt, und die »Industriellen der Theorie« mit denen der Produktion in einen Topf geworfen. Als Redakteur am »Tage-Buch« und am »Montag-Morgen« sah Carl von Ossietzky die Mythenfabrikation für den militärischindustriellen Komplex am Werke, von der 1945 rückblickend Ernst Cassirer geschrieben hat, Hitlers Aufrüstung sei nur ein Nachtrag zur geistigen Wiederaufrüstung in der Weimarer Republik gewesen. Tat sächlich kamen ja die französischen und deutschen Pazifisten mit ihrem Programm eines »desarmement moral« zum Abbau der Feindbilder nicht durch.
Carl von Ossietzky durchschaute deutlicher als andere, Leopold Schwarzschild vielleicht ausgenommen, wie diese Mythenfabrik aus sich selbst die nationale Neurose erzeugte: Indem sie nach jedem Zugeständnis an den deutschen Nationalismus neue, unerfüllbare Ziele aufstellte, hielt sie das Volk in der moralischen Depression zurück, die ihr als Treibstoff aggressiver Forderungen diente. Es war das perpetuum mobile der Volksverhetzung in der Außen- wie in der Innenpolitik, in der Justiz und im Kino, vor allem aber in der Grauzone der geistigen und materiellen Wiederaufrüstung.
Ossietzky hat das Monstrum besser beschrieben, als je ein Historiker es gekonnt hätte. Aber wie für die anderen Meister der kleinen Form, die Gerichtsreporter Sling und Inquit, die Morus, Siemsen, Polgar, Paquet, Fontana und andere, blieb er fast unbemerkt. »Das Stoffliche ist in der Zeitungsindustrie immer wieder das Entscheidende und Beherrschende«, vermerkte Stefan Grossmann resigniert, »wie törichthoffnungslos ist unsere kleine Skulpturkunst, die sich bemüht, den Leser durch das Wie, nicht bloß durch das Was zu bezwingen.« Unserem Autor war das »Was« wichtiger, seinem späteren Redaktionskollegen Kurt Tucholsky das »Wie«; insofern stand er im »Tage-Buch« dem Wirtschaftler Schwarzschild näher als dem Feuilletonisten Grossmann;
aber wenn Ossietzky alias Thomas Murner, alias Lucius Schierling, alias Celsus pointierte, war das »Wie« eine Metapher für eine ganze Soziologie, so, wenn er von einem bayerischen Richter namens Hass sagte, er habe immer einen Biertisch vor sich, auch im Gerichtssaal: »Und die strenge Justitia thront vor ihm auf einem Mathäser-Faß, dem Gerechten einen schäumenden Maßkrug kredenzend, den Schuldigen mit einem scharfgeschliffenen Radi niederschmetternd.«
Oder, von einem der journalistischen Urheber der Dolchstoß-Lüge, dem Herausgeber der »Süddeutschen Monatshefte«: »Herr Paul Nikolaus Coßmann gehört zu jenen fatalen Mitbürgern jüdischer Konfession, deren kokett getragenes teutonisches Bärenfell den Kaftan der Väter vergessen machen soll. Herrn Coßmanns Sehnsucht wurde erfüllt, er darf an der alldeutschen Tafelrunde aus dem Methorn nippen, wenngleich man es ihm manchmal zu verstehen gibt, daß er schließlich an der deutschen Eiche doch nur ein Pfropfreis vom Libanon ist.«
Mit dem letzten Aprilheft 1926 verschwand Ossietzkys Name aus dem Impressum des »Tage-Buchs«,
kurze Zeit zeichnete wieder Grossmann, dann Schwarzschild verantwortlich. Im »Montag-Morgen« erschien Ossietzky mit einer Zuschrift 1932 zum letzten Mal, seine redaktionelle Mitarbeit endete im Frühsommer 1926. Über die Zusammenarbeit des lohnabhängigen Redakteurs Ossietzky mit den finanziell unabhängigen, vermögenden Herausgebern, Stefan Grossmann und Leopold Schwarzschild, haben wir keine genauen Angaben.
Die Biographen Kurt Grossmann (1963) und Elke Suhr (1988) nehmen an, das Team habe unter der Zurückhaltung der Herausgeber gegenüber Ossietzkys scharf antimilitaristischer Position gelitten. Er stellte im »Tage-Buch« das »Heimliche Heer« der Wiederaufrüstung vor. Der polnische Historiker Karol Fiedor glaubt ebenfalls, dem Herausgeber Schwarzschild habe Ossietzkys Linie nicht gefallen; aber aus einem Tendenzvergleich beider Autoren ergibt sich dieser Schluß nicht. Wohl spricht die spätere Polemik Herbert Iherings im »Tage-Buch« gegen Kurt Tucholskys Antimilitarismus dafür. Man sollte deshalb den Ursachen der Trennung nachgehen, vielleicht sind sie in den bekannten Feindseligkeiten zwischen Jacobsohn (»Weltbühne«) und dessen früherem Schüler, Stefan Grossmann (»Tage-Buch«), zu suchen? Vielleicht auch waren nur, wie mir Kurt Grossmann 1963 sagte, »zwei Zeitschriften für drei solche Köpfe eine zu wenig«?
Ossietzkys erster politischer Kommentar in der »Weltbühne« erschien am 20. April 1926 zum Thema Lo-carno und den geheimen Ostverträgen.
Carl von Ossietzky war 1925, und wohl auch noch zu Anfang 1926, der Auffassung: »Die heimliche Armee, ob nun Schreckgespenst französischer oder Wunschbild deutscher National-Hysteriker, hat nicht mehr Realität als die Schatten der katalaunischen Kämpfer, die sich nachts in den Lüften würgen. Die Reichswehr ist eine Grenzschutztruppe, eine potenzierte Ordnungspolizei in einem noch längst nicht stabilisierten Lande. Alles andere ist Traum, ist passe. Passe defini.« Und am 2. Januar 1926 eröffnete die Zeitschrift ihr unsigniertes »Tagebuch der Zeit« mit einem Hinweis auf die sieben mageren Jahre Preußens zwischen der Niederlage von 1806 und der Befreiung von 1813. Die »Weltbühne« verwarf das damals zur Wiederbewaffnung eingeführte »Krümpersystem« mit kurzfristig ausgebildeten Rekruten: »Wir haben es, als ›Schwarze Reichswehr‹, ja ziemlich großzügig schon gehabt. Aber es war, wie man sieht, nicht gerade für napoleonische Kämpfe geeignet, hat zu nichts getaugt, als zu einigen Hunderten ganz bescheidener, inländischer Meuchelmorde und konnte infolgedessen selbst durch ›Reichswehrminister‹
Geßler-Gneisenaus liebevolle Fürsorge nicht davor bewahrt werden, mit pestilenzialischem Verwesungsgestank in sich zusammenzubrechen.«
Das ist, auch wenn er es nicht geschrieben haben sollte, die Position, die Ossietzky in dem Aufsatz »Das heimliche Heer« einnahm und die ihn bewog, in seinem Appell an den Reichspräsidenten von Hindenburg die Bestrafung der Verschwörer und Fememörder der »Schwarzen Reichswehr« zu verlangen, umsonst, wie man sich denken kann, da 1925 die heimliche Aufrüstung durch den »Berliner Vertrag« mit der Sowjetunion auf eine solide Basis gestellt worden war.
Die Idee, mit vielen Offizieren und Unteroffizieren und wenig Soldaten eine später aufzufüllende Kadertruppe optimal auszubilden, blieb Regierungspolitik, auch der sozialdemokratischen Regierungen. Carl von Ossietzky wurde nicht müde, diese Lebenslüge der Republik zu publizieren. So am 29.11.1927 aus Anlaß des 60. Geburtstages des Generals Wilhelm Groener, der 1918 im Auftrag der Obersten Heeresleitung den Kontakt mit dem Volksbeauftragten Friedrich Ebert gehalten hatte. »Das Reichsbanner«, schließt Ossietzky sarkastisch, »hat neulich ein Dreimännerdenkmal Ebert,
Erzberger, Rathenau vorgeschlagen. Die Zusammenstellung ist nicht ganz glücklich. Man sollte sich auf ein Ebert-Groener-Denkmal beschränken, das die beiden darstellt, so wie sie sich im Novemberpakt die Hände reichen. Das Schicksal der Republik von gestern und heute und für das ungewisse Morgen hegt in diesem Händedruck.«
Die Bemerkung über das Ebert-Groener-Denkmal kennzeichnet den Stil der Ossietzkyschen Kritik. Indem er aus der Schärfe des Gedankens den Vorgang ins Bild übersetzt, eröffnet er seinen Lesern neue Dimensionen zum Nachdenken. Zuvor war ein Ebert-Groener-Denkmal unvorstellbar. Jetzt nahm es in Gedanken Gestalt an. Es versinnbildlichte den Text aus dem Mund Groeners: »Er — Ebert — war jederzeit bereit und vorbehaltlos bereit, seine persönlichen und politischen Anschauungen und Wünsche zurückzustellen, wenn es galt, der Not des Vaterlandes gerecht zu werden. Auf diesem gemeinsamen Boden haben sich die damalige Oberste Heeresleitung und Friedrich Ebert zum festen Bunde die Hände gereicht, um der Revolution Herr zu werden und dem deutschen Volk Recht und Gesetz wiederzugeben.«
Glaubt Groener wirklich, fragte der Autor Ossietzky, »mit dem patriotischen Führungsattest für Ebert auch nur einen einzigen Konservativen zu überzeugen? Die Leute wollen alle Gewalt, und sie pfeifen darauf, ob Ebert ein guter oder schlechter Patriot gewesen ist. Wohl aber muß solche Eröffnung erschütternd auf die Arbeiterschaft wirken…« Ebert durch das Zeugnis Groeners für Millionen ein Verräter?
»›Wer wagt zu streiken, wenn Hindenburg befiehlt?‹ hatte Groener im Januar 1918 geschnauzt.« Diesen Satz zitierte Ossietzky nach dem ersten Jahr der Reichspräsidentschaft Hindenburg und gab den Inszenierenden dieser Wahl, »Reichsblock« gegen »Volksblock«, recht: »er wirkte aufs Volk nicht als Kandidat, sondern als Vorgesetzter. (…) Seine Wahl war dienstlicher Befehl. Die Polen haben in Paderewski die musikalischsten, die Tschechen in Masaryk den geistigsten, die Deutschen in Hindenburg den politikfernsten aller Außenseiter auf den Schild gehoben. Populär, vom Instinkt konservativ, unpolitisch und lenksam. Dieser Vierheit verdankt Hindenburg die Gunst der heimlichen Präsidentenmacher.« Die Charakterisierung sollte sich 1932/33 als richtig erweisen, als die Hindenburg-Macher von 1925 die Republik nicht mehr »in der Hand« hatten, wie 1926.
»Das ist, nach Stresemanns unbezahlbarem Wort, ›nationale Realpolitik‹ In den bildenden Künsten nennt man das Erwachen zur Wirklichkeit aus der Walpurgisnacht der Abstraktionen etwas verlegen: ›neue Sachlichkeit‹. Das ist ein ähnlicher Vorgang.
Wie gerührt waren die lieben Demokraten am vorigen Verfassungstag! Wirklich: Er erscheint zur hochoffiziellen Feier, mit ihm Schiele, der Deutschnationale. Er unter Schwarzrotgold. Welch eine Wendung durch Gottes Fügung!
Es ist richtig. Man respektiert die Republik. Man darf es, weil man sie in der Hand hat. Ohne Gefahr kann man ihren Farben und Formen die ›schuldige Achtung‹ erweisen. Denn man weiß, daß eben Alles nur noch Form und Farbe ist und kein Inhalt mehr. Deshalb kann man sich sogar den Luxus gestatten, die Republik zu schützen. Man läßt sich nicht mehr ins Geschäft hineinhitlern. Die Nebenregierung der völkischen Strolchokratie ist aus. Die Wehrverbände sind fest eingefügt in ein nationales Verteidigungssystem: Grundstock neuen Heeres. Aber indem man die offenen Gegner der Republik ins Hintertreffen treibt, tut man doch nichts, um sie für immer auseinanderzujagen. Man hält sie eben in Schach, um durch ihr bloßes Vorhandensein die Republikaner in Schach zu halten.
Der Monarchismus, wohl konserviert, bleibt als Drohung im Hintergrund. Er ist der Knüppel, der aus dem Sack fährt, falls sich die Republikaner einmal einbilden sollten, die Republik gehöre ihnen. Das ist die neue balance of power, das Hindenburg-Programm der innern Politik.«
Schon das »Tage-Buch« hatte 1925 bei der Analyse der Hindenburg-Wahl ausgezählt, daß mehr Frauen als Männer Hindenburg gewählt hatten und hinzugefügt, daß überall dort die Hindenburg-Wähler in der Überzahl waren, wo es keine demokratischen Zeitungen gab: »Die Frage der republikanischen Provinzpresse — das ist die eigentliche Zukunftsfrage der Republik.« Carl von Ossietzky notierte ein Jahr später den Angriff des deutschnationalen Pressemagnaten Hugenberg auf Stresemanns »Deutsche Volkspartei«, ihren Führer doch einfach sitzen zu lassen und mit den Deutschnationalen eine große Rechtspartei zu bilden. Die Gelegenheit schien dem Kommentator günstig, weil das katholisehe Zentrum unter Guerard und Kaas nach Kaltstellung seiner paar linken
Außenmänner wieder »der große politische Devotionalienladen« werde, »der es früher war«, und die Deutsche Volkspartei auch gegen ihre eigenen Rechten Locarno und die Völkerbundspolitik zu vertreten habe: »Der Rückzug der Deutschen Völkspartei nach Rechts ist in vollem Gange.«
Ein Jahr nach der Hindenburg-Wende sah Ossietzky das »juste milieu« erschüttert. Er schloß seinen Leitartikel mit der Überlegung, die letzten Möglichkeiten der Hindenburg-Wahl würden sich erst dann zeigen, wenn einer Reichskanzler sei, der »weniger interessiert erscheint, reaktionäres Wollen den Gesetzen der Vernunft einzuordnen«. »Ungelöste Fragen hängen über der Ehrenpforte des zweiten Hindenburgjahres wie graue Wolken, und an festlichen Girlanden zerrt ein mürrischer Wind.«
Das »Tage-Buch« wies zu Hindenburgs Jahrestag darauf hin, daß die Republik »unter seiner Amtsführung wider Erwarten keinen Schaden genommen hat«, fragte aber, wie sich sein Eid auf die Verfassung mit seiner Ehrenmitgliedschaft im monarchistischen »Nationalverband Deutscher Offiziere« vertrage, wo sie doch die Republik der Gefahr aussetze, daß viele tausend Offiziere »Hindenburgs Ehrenmitgliedschaft als Sanktionierung ihres Kampfes
gegen die Republik betrachten, zu dem sich ihre Organisation offen bekennt.« In München verbot der Polizeipräsident den Vortrag eines sozialdemokratischen Arztes, Dr. Marcuse, über »Geburtenrückgang und sexuelle Fragen« nach Aufforderung durch Hitlers »Völkischen Beobachter«. In Paris setzte man eine Militärfarce vom Spielplan der Comédie Française auf Druck der »Action Française« ab, und Kurt Tucholsky klagte in der »Weltbühne«:
»In meinem Leben habe ich noch nicht gehört, daß Pazifisten ein Stück mit allen Mitteln boykottiert haben, wenn telefonierende Menschenschlächter darin belobt werden; wenn die ekelhafteste Manier, Menschen in den Tod zu schinden, besungen wird; wenn der Friede bespien und die Menschlichkeit mit Kommiß-Stiefeln zertrampelt werden. Da ist kaum Einer da. Kein Kino, kein Theater hat Angst vor euch — weil Ihr Eure Macht nicht ausnutzt. Nicht eine Zeitung, die vor acht Briefen an den Verleger erzittert, kennt Euch — wer je Redaktionspost gelesen hat, weiß, daß es immer die Generale, die Feldwebelleutnants, die Säbelträger sind, die ein Blatt wirklich abbestellen, ihm die Inserate entziehen, es wirtschaftlich schädigen, wo sie nur können. Die Andern —? Wo sind die Andern —?
Daß das Militärpack Mitläufer hat, Mitesser des Ruhms, ist bekannt. Daß sie ihm Beihilfe leisten, nicht minder. Militärfromme Justizräte, brave Bürgerväter, die lieber den Tod dreier Söhne als eine Kapitalzusatzsteuer verschmerzen, gute Gefreite im Herrn — das wackelt alles hinterher. Und entdeckt seinen Takt des Herzens, wenn unsereiner den Krieg das nennt, was er ist: eine Schweinerei. Man darf doch nicht generalisieren. (… ) Vielleicht ist das in der Charge zu hoch gegriffen. Aber ich weiß, was man darf.
Man darf den Militärbonzen aller Länder ihren Stand und ihre Fahnen um die Ohren schlagen, daß ihnen der Lesebuchruhm zu den Ohren herausspritzt; man darf sich ausbitten, daß auf einer Bühne, die wir bezahlen, in einer Zeitung, die wir bezahlen, vom Krieg mit jenem Abscheu und jenem Grauen gesprochen wird, wie sich das gebührt, wenn von einem Massenverbrecher die Rede ist; und man darf nicht nur Alles boykottieren, was den Krieg anpreist wie eine Badekur, sondern es ist unsere Pflicht, das zu tun… und ich sah den Demonstranten nach, die es heute Abend nicht geworden waren. Ich sah ihnen nach und beneidete eine Bewegung, die über Fäuste verfügt, wenn’s not tut, über Lungen, die brüllen, und über Arme, die zuschlagen.
Und die uns zwingen wollen, für sie Kinder in den Tod zu schicken, die weiter kein Verbrechen begangen haben, als einen braunen oder grünen Paß zu besitzen. Ich sah ihnen nach und verstand, was uns fehlt. Die Soldaten des Friedens.«
Tucholskys Wunsch nach »Friedenssoldaten«, die zuschlagen, lief konform mit der Militärspielerei nicht nur der Rechtsparteien, sondern auch der Linken im »Reichsbanner« und der Kommunisten im »Roten Frontkämpferbund«. Dieser praktizierte seit 1924 in feldgrüner Russenbluse, Koppel, »Leninmütze«, Breecheshose und mit geballter Faust und eigener Kommandosprache, Trommeln und Schalmeien als »Verbündeter der Roten Armee«, was Pazifisten und Sozialisten bisher als »reaktionären Klimbim« verachtet hatten. Bald überstieg der Bund unter Ernst Thälmann die Mitgliederzahl der Partei. Der militante Aktivismus steckte tief im deutschen Volk, eine Nachwirkung der jahrzehntelangen militärisch-industriellen Dressur.
Ossietzkys Kritik an der »nationalen Realpolitik« und Tucholskys Gegenüberstellung von »Militärpack« und »Soldaten des Friedens« machten zusammen aus, was kein Geringerer als der Rechtsphilosoph und Rechtspolitiker Gustav Radbruch 1928 als »Weltbühnenradikalismus« tadelte. Ossietzky wies die Kritik als unberechtigt zurück. Pflichtbewußte Kontrolle heiße nicht Zwietracht zu schüren: »Ich möchte keine Unklarheit aufkommen lassen: wir denken gar nicht daran, den Leuten ihre Parteien verekeln zu wollen, aber was wir wünschen, ist, daß sie besser funktionieren sollen. Daß sie ihren Begabungen den rechten Platz geben, das Werdende nicht niederdrücken, als Regierung halten, was sie als Opposition versprochen…«
Ossietzkys Rügen des deutschen Parlamentarismus, seine Presse- und Justizkritik, die Parteinahme für die Arbeiterbewegung und die Distanzierung von deren Parteien und Fraktionen waren radikal, weil sie ihre Kriterien nicht aus einer öffentlichen Moral speisten, die von Jahr zu Jahr reaktionärer wurde. Die Kritik der Verfassungsfeier am 11. August belegt die Tendenz der öffentlichen Meinung, wie der fundamentale Vorwurf Ossietzkys, daß die Republik nicht den Mut gehabt habe, den Tag ihrer Ausrufung
am 9. November 1918 zu feiern. Der »korrumpierende Zustand der Zweideutigkeit« habe dem Feind der Republik erlaubt, innerhalb von zehn Jahren in die Mitte zu rücken, »er streift die Linke hart«. Das war der Boden für die Allerweltspartei Hitlers, der Hindenburg am 30. Januar 1933 die Macht übergab. Wo die öffentliche Moral verkommt, erscheinen deren Kritiker als unmoralische Ketzer und werden ausgestoßen.
„Erste politische Tugend: auszusprechen, was ist!« Mit diesem Motto von 1920 kam Ossietzky notwendigerweise in Konflikt mit Politikern aller Parteien, die der geheimen Aufrüstung der Reichswehr zustimmten. Fiedor legt denn auch eindringlich dar, wie die politisch motivierte, juristisch geschätzte Geheimhaltung die Aktivitäten der Liga für Menschenrechte, der Friedensgesellschaft und einzelner Publizisten wie Ossietzky, Gerlach, Otto Lehmann-Russbüldt, nicht zuletzt die von Emil Gumbel, als verräterisch desavouiert hat.
Als Philipp Scheidemann, 1865 geboren, 1926 schon eine historische Figur, im Reichstag am 16. Dezember ein Mißtrauensvotum der SPD gegen den Reichswehrminister Otto Geßler einbrachte und mit der geheimen Militärpolitik begründete, sagte ihm Ossietzky in der Wandelhalle, er habe das Richtige zur falschen Zeit gesagt.
Für die deutsche Demokratie wäre es besser gewesen, wenn sich Friedrich Ebert nie mit den Generälen eingelassen hätte. Er sehe schwarz für die Zukunft. »Und unser Scheidemann hat keine Seite, nach der er nicht schon umgefallen ist« hatte Tucholsky 1921 gedichtet. Das war nicht Ossietzkys Sprache, aber seine Sache auch.
Nach dem Wahlerfolg der SPD im Mai 1928 hielt er ihr vor, daß sie kein Minderheitskabinett mit einem starken Programm gebildet hatte: »Das hätte auch die Kommunisten endlich einmal vor eine nützliche Entscheidung gestellt. Wäre auch die Lebensdauer einer solchen Regierung kurz gewesen, ein solcher Akt hätte Achtung erzwungen. Gerade wer den Parlamentarismus bejaht, muß auf so saubere Klarstellungen halten. Wenn unser Parlamentarismus nicht funktionieren will, liegt es nicht an der leidigen deutschen Zwietracht, sondern weil alles durch Kompromisse und Spekulationen verschmuddelt ist.«
Er befürchtete ganz richtig, daß das »Geschmuddel« die simplen Parolen der Extremen begünstigen würde, die sowieso gegen die »Schwatzbude« Parlament Propaganda machten. In Militärsachen korrupt, ließ die deutsche Republik die Meinungsfreiheit kriminalisieren und erklärte damit eine politische Kardinaltugend zum Verbrechen.
Nicht die Wahrheitssucher der »Weltbühne“, der „Welt am Montag«, des »Tage-Buch«, des »Montag-Morgen« und anderer pazifistischer Zeitungen haben die Republik zerstört, sondern die faktische Unterdrückung der republikanischen Grundrechte durch die militärfromme Justiz.
Friedrich Wilhelm Foersters Aufsatz in der »Weltbühne« über »Deutschlands Entwaffnung« und sein Echo möge als Beispiel dienen. Zwar setzten die Gerichte voraus, daß der Staat immer im Recht sei; aber sie verschlossen sich der logischen Konsequenz, daß ein unrechttuender Staat dann auch nicht mehr Staat sein kann. Ein Unrecht war es aber, den Fluß der freien Meinungen, ohne den Demokratie nicht sein kann, mit Hilfe militärischer Geheimhaltungsvorschriften auszutrocknen; somit die für geheim erklärten Aktivitäten der Staatsorgane von Staatswegen vom Gesetz zu befreien, das für alle gelten soll. »Wenn man die Geheimhaltung erzwingen wollte«, zitierte Carl von Ossietzky im Femeprozess (1927) eine verurteilende Kammer, »so mußte mit der brutalsten Gewalt gekämpft werden… Die Feme, das war die Einrichtung, die sich notwendig ergeben mußte, wenn die Geheimhaltung über alles ging.«
In unseren Tagen erschließt sich die Logik dieser Sätze in der aktuellen Berichterstattung über den weltweiten Terrorismus.
Sie leuchtet jedem ein. Sechzig Jahre früher glichen sie einer Offenbarung. Deren Untergrund legte Kurt Tucholsky bloß, als er auf eine Polemik des Brecht-Promotors Herbert Ihering gegen die Typisierungen in seinem Buch »Deutschland, Deutschland über alles« antwortete:
»Hören Sie nicht den unterirdischen Schrei, der oft keinen künstlerischen Ausdruck findet und den man mit allen raffinierten Mitteln unterdrückt, wo man nur kann? Im Rundfunk dürfen wir nicht, in der Presse sollen wir nicht, im Kino können wir nicht — bleibt das Buch. Immer wenn ich schreibe, denke ich an das Leid der Anonymen, an den Proletarier, den Angestellten, den Arbeiter, an das Leid, von dem ich durch Stichproben weiß… und ich will lieber den Vorwurf auf mir sitzen lassen, künstlerisch nicht befriedigt oder aus Empörung über das Ziel hinausgeschossen zu haben, als ein Indolenter zu sein.«
Indolenz, Gleichgültigkeit, jene Beliebigkeit, die heutzutage als »postmoderner« Schrei gegen die Aufklärer gilt, war für die Publizisten der »Weltbühne« unter Ossietzky das schlechthin Miserable; aber sie konnten mit ihren rationalen Argumenten in einem Blättchen, das ein paar tausend Intellektuelle — auch über Lesergruppen — erreichte, nicht gegen die politischen »Bewegungen« aufkommen, die »das Leid der Anonymen« in Dienst nahmen und ihm Uniformen verpaßten.
Ossietzky kam nach der Wende von 1925 zur »Weltbühne«, und seine Tätigkeit dort begann unter deren reaktionären Vorzeichen. Innenpolitisch hatte sich mit der Wahl des greisen Generalfeldmarschalls zum Reichspräsidenten die knappe Mehrheit einen »Ersatzkaiser« gewählt. Im selben Jahr wurde der österreichische Putschist Hitler aus der Haft entlassen, in der er seine Programmschrift »Mein Kampf« verfaßt hatte. Er begann sogleich, die NSDAP neu zu organisieren: 27000 Mitglieder auf Anhieb. Die Wahl Hindenburgs war auch ein Plebiszit gegen die Friedensbewegung.
Außenpolitisch stabilisierte sich in der Zusammenarbeit von Briand und Stresemann das Verhältnis Deutschland-Frankreich.
Ossietzky unterstützte diese Fortschritte mit leiser Skepsis und empfahl eine weniger laute, vorsichtigere Behandlung der deutsch-französischen und der Völkerbundspolitik, zu deren Verarbeitung in der Berliner Presse er 1926 kritisierte: »So ziehn wir aus zur Hermannsschlacht! Immer der Nabel der Welt; ob Wilhelm am Brandenburger Tor, ob Stresemann in Genf. Wird mit dergleichen aber der Republik, der Demokratie, ja, auch nur den befreundeten Herren im Auswärtigen Amt gedient? Und mit welchem Recht wagen liberale Blätter, die ihre Leser mit solchem Quatsch traktieren, sich etwa über Hugenbergs Verdummungs-Zentrale zu entrüsten? Wie es nur eine Wahrheit gibt, so gibt es auch nur eine Dummheit, und der politische Anstrich ist nebensächlich.
Gewiß, Herr Stresemann hat in Genf, für seine Verhältnisse, ganz ausgezeichnet gesprochen. Er mußte innere Wärme schuldig bleiben, teils, um nicht in Deutschland eine in diesem Augenblick sehr unerwünschte Kritik zu provozieren, teils, um nicht bei den anderen Mächten durch irgendeine flott improvisierte Wendung anzuecken. Ein Leichtes war’s für Brand, eine unerhörte Ovation für seine Rhetorik zu erbringen, während der Applaus für Stresemann in erster Linie Deutschland galt.
Vergebens versuchen deutschnationale Blätter den Beifall für Briand als eine Demonstration gegen Stresemann hinzustellen, nach dem alten Rezept: Saul hat Tausend geschlagen, David Zehntausend! Aber Stresemann hat nach manchen Schicksalsschlägen doch Disziplin gelernt.«
Stresemann stieg in Ossietzkys Achtung, je deutlicher seine Friedenspolitik hervortrat: »Briand hat für sein Duell mit dem deutschen Außenminister eine höchst gefährliche Form unverwüstlicher Herzlichkeit gefunden. Jedesmal, wenn aus Stresemann plötzlich wieder der nationale Urton quillt, spricht Briand doppelt hinreißend europäisch. Jedesmal, wenn Stresemann seine weltbürgerlichen Empfindungen trotzig zu limitieren beginnt, setzt Briand dem Gefühl keine Schranken und fällt Madame Europa lachend und weinend um den Hals wie Einer, der sich akkurat nicht mehr halten kann.
Dabei denkt Briand gar nicht daran, sich festzulegen oder etwa Positionen zu opfern. Aber selbst sein Nein klingt melodischer als ein Ja Stresemanns, und seine Weigerungen werden durch die kostbare Geste fast zum Geschenk.
Stresemann, der übrigens schon ganz gut europäisch sprechen kann, begeht in entscheidenden Augenblicken immer wieder den Fehler, sich ausschließlich innenpolitisch einzurichten. Das zwingt dazu, nicht klüger zu sein als der Reichstag und mag die Emminger beglücken, wirkt aber außerhalb der deutschen Grenzen nicht so vorteilhaft, und schafft vor allen Dingen für Genf ungünstige Voraussetzungen [Erich Emminger, (Bayerische Volkspartei), Reichsjustizminister 1923/24].
Dieses nicht mehr ganz neuartige Spiel wäre leidlich amüsant, wenn nicht der einzige Geschädigte dabei der Völkerbund wäre. Es gibt nur ein zentrales Thema: die Abrüstung. Hier, nur hier haben die Völkerbündler ihren Befähigungsnachweis zu erbringen.«
Ähnlich skeptisch war Ossietzkys Kritik an der »Paneuropa«-Propaganda des österreichischen Grafen Richard Coudenhove-Kalergi: Es wirke »auf die Dauer ärgerlich«, wenn eine grundreaktionäre Idee mit einem Aufwand vorgetragen werde, »als ginge es um eine Revolution, wenn die Sache Metternichs mit der Sprache Mazzinis verteidigt wird.
« Diese Sprache war aber nicht eindeutig wie die des italienischen Revolutionärs, sondern vieldeutig. Coudenhove sprach, wie viele Politiker, mit verschiedenen politischen Akzenten, je nachdem, wen er ansprach. Carl von Ossietzky war kein Redner, ein Schreiber durch und durch, und daher auf lineare Kontinuität eingestellt, nicht auf die Kringel der gesprochenen Sprache.
Auf die inneren Widersprüche verwies er auch dann, wenn die Parteien glaubten, sich aus unterschiedlichen Positionen zu vereinen. So 1926 nach Erlaß des »Schund- und Schmutzgesetzes«. Es »hat eine Klarheit gebracht, die noch vor einer Woche nicht vorstellbar war… Das Zensurgesetz ist da, und wir wollen gern gestehen: es gehört zum Bild der falschen Republik, seine Ablehnung wäre ein Stilfehler gewesen. Wir haben eine Dichterakademie und eine amtliche Kunstpflege, und wir haben ein Ausnahmegesetz gegen die Literatur. Das paßt schön zusammen. Die pompöse Fassade deckt eine Wachstube. Werden die deutschen Schriftsteller auch dies Signal überhören? Für geistige Freiheit und gegen die Zensur zu stehen, ist immer ihre beste Aufgabe gewesen. Der Musengott ist nicht nur der Herr der schönen Künste, sondern auch der Schinder des Marsyas. Voilà…«
Die deutsche Außenpolitik wollte sich nach den Westverträgen von Locarno die russische Option offen halten, die einzige Garantie für die Grenzrevision gegenüber Polen. Der »Berliner Vertrag« (1925) zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion regelte in einem Geheimzusatz auch die militärische Zusammenarbeit der Reichswehr mit der Roten Armee. »… die Not schafft seltsame Schlafkameraden«, kommentierte Ossietzky im Dezember 1926, als der »Manchester Guardian« die bedrohliche Kameraderie der beiden großen Verlierer von 1914-1918 offengelegt hatte.
»Es ist mehr als einmal unwidersprochen behauptet worden, im Jahre 1925 hätten Besprechungen stattgefunden zwischen russischen Unterhändlern und Offizieren des Herrn General Heye, der damals als Wehrkreis-Kommandeur in Königsberg saß. Inzwischen ist Herr Heye Seeckts Nachfolger geworden. So peinlich die Enthüllungen des ›Manchester Guardian‹ für Herrn Stresemann gerade jetzt als Auftakt der Genfer Verhandlungen sein mögen, einmal mußten die Mysterien der Brückenbauer nach dem Osten doch bekannt werden. Vertuschen hat keinen Sinn mehr.
Kürzlich weilte eine Delegation von ostpreußischen Notablen in Rußland. Über die Art und Weise, diese Herren zu behandeln, sandte Botschafter Krestinski
ein informierendes Telegramm nach Moskau. Darin wurde der Rat gebeten, die deutschnationalen Herren der Delegation mit ganz besonderer Hochachtung zu behandeln, dagegen die andern Mitglieder von der Deutschen Volkspartei an in gradueller Herabminderung der Wertschätzung. Hauptsächlich jedoch sei bei jeder Gelegenheit zum Ausdruck zu bringen, daß die Entlassung des Generalobersten von Seeckt einen schweren politischen Schaden für Deutschland bedeute.
Wir nehmen es den Russen gar nicht übel, wenn sie die Dummheit deutscher Spießbürger, die in Weltpolitik dilettieren, für ihre Zwecke gebrauchen. Rußland ist ein bedrohtes Land, und die Not schafft seltsame Schlafkameraden. Das sei den Russen gern konzediert. Aber: der gleiche General, der von den deutschen Kommunisten als Faschistenchef und leibhaftiger weißer Schrecken verketzert wurde, wird in Moskau noch heute als eine Art Bundesgenosse betrachtet. Hier stimmt etwas nicht.
Und wer leitet nun eigentlich das Zweiggeschäft der Roten Internationale in Deutschland: Thälmann oder Westarp? [=der Kommunist oder der Deutschnationale? Anmerkung des Autors] Die Kommunistische Partei sollte sich einmal ernsthaft mit dieser Frage beschäftigen. Es würde ihre Selbsterkenntnis fördern.«
Die Aktivitäten der Junkers-Flugzeugwerke in Rußland, die der »Manchester Guardian« zum Aufhänger seines Artikels gemacht hatte, waren nur ein Teil der Zusammenarbeit. »Die Weltbühne« selber hatte einen emphatischen Aufsatz der sowjetischen Essayistin Larissa Reissner über Junkers‘ neuen Metallflugzeugbau in Dessau veröffentlicht, als die deutsch-sowjetischen Handelsbeziehungen zu stagnieren drohten. Die Zustimmung von Presse und Reichstag zur Kooperation mit der Sowjetunion reichte von ganz links bis ganz rechts. Ossietzky begriff sofort, daß die deutschen Kommunisten die Leidtragenden dieses Handels sein würden. Dabei war er vom friedlichen Charakter der Sowjetmacht überzeugt. Er hielt ihr die Bedrohung durch die kapitalistischen Mächte zugute. Auch durchschaute er den Antikommunismus als ein demagogisches Mittel, die Massen zu disziplinieren.
Andererseits ließ er auch keinen Zweifel am sozialreligiösen Aspekt der Konfrontation, verhöhnte den »Moskauer Heiligen Stuhl« und dessen Dogma. »Die deutsche Kommunistenpartei ist nicht mehr bewegliche Apostelgemeinde, sondern Kirche. Wir glauben aber nicht mehr an Kirchen, auch nicht, wenn sie Gott gestürzt und durch Karl Marx ersetzt haben.« So beantwortete er die für die Republik lebenswichtige Frage, »Gibt es noch eine Revolution?«, negativ.
Der Essayist Morus kommentierte in der »Weltbühne« den fiskalischen Hintergrund der Affäre, die systematischen Manipulationen des Wehretats, und forderte vergeblich die Sozialdemokratie auf, die verantwortlichen Minister vor den Staatsgerichtshof zu bringen. Es wäre eine gute Gelegenheit gewesen, den Hintergrund des militärisch-industriellen Komplexes auszuleuchten. Ossietzky gab zu bedenken: »Wenn Tschitscherins Agenten nach sorgfältigem Erkundungsgang durchs deutsche Gelände schließlich bei Seeckt erschienen sind statt bei Hermann Müller oder Erich Koch [=beim Sozialdemokraten oder Demokraten], so liegt darin eine Einschätzung, die unsere Republikaner zum Nachdenken bewegen sollte.«
Das Dreieck Reichswehr, Industrie und Sowjetunion, dessen Zusammenhänge jahrelang bestritten worden waren, sollte nun aus Ossietzkys Publizistik nicht mehr verschwinden. Er selber trat in eine neue Lebensphase, weil Siegfried Jacobsohn, der Begründer der »Schaubühne/Weltbühne«, 46jährig unerwartet starb. Das Heft vom 7. Dezember 1926, XXII. Jg., wies zum ersten Mal Carl von Ossietzky als verantwortlichen Redakteur aus.
»Glaubst Du, daß der Marquis einen Vertrag unterzeichnet?« soll Jacobsohn zehn Monate früher den Freund und Starautor des Blattes, Kurt Tucholsky, gefragt haben. »Mitnichten«, habe jener geantwortet: »An dem ist auch ein Halbdutzend alter Jungfern verloren gegangen.« Bevor Jacobsohn starb, hatte sich »der Marquis« Carl von Ossietzky das Vertrauen seines Herausgebers erschrieben. Er durfte seine Manuskripte direkt in Satz geben, während alle anderen, auch Tucholskys Arbeiten, über Jacobsohns Schreibtisch liefen, wenn er da war, — wie Frau Jacobsohn erzählte.
So war ein interner Konflikt um die Weiterführung des Blattes vorprogrammiert. Da waren die alten Autoren des »besessenen Redakteurs« Jacobsohn: »Er warb um seine Mitarbeiter, er schrieb, schrieb, schrieb an sie, er überhäufte die, die er gewählt, mit Liebeserklärungen, er verstand es viele Jahre nur durch diesen inneren Kontakt die notgedrungen schlechten Honorare in Vergessenheit zu bringen… Wehe dem Jacobsohnschen Ideal, das nicht seinen Erwartungen ganz entsprach! Niemand ist ja so streng wie ein innerlich fordernder Verehrer.«
Unter diesen umworbenen Autoren war Dr. jur. Kurt Tucholsky der meistgeliebte, ein Lebemann und Versemacher, nicht zufällig eine Weile Redakteur des »Ulk«, stets bereit, die Seligkeit für eine Pointe hinzugeben.
Ihm stand die Nachfolge zu, und er trat sie an. Aber die Leitartikel des stillen Ossietzky, an Schwarzschild und Grossmann geschult, waren nicht mehr wegzudenken. Sie gaben dem Blatt ein analytisches Gewicht, das es ohne sie nicht gehabt hatte. Man übertreibt nicht, wenn man sagt, daß die »Weltbühne« durch Ossietzkys Tages Journalismus die Herkunft von der »Schaubühne« vergessen machte.
Die beiden von Temperament und Ausdruck so verschiedenen Publizisten, Tucholsky und Ossietzky, mußten sich arrangieren. Sie kannten sich von den »Nie wieder Krieg!«-Demonstrationen, waren aber nicht zu einem engeren Verhältnis gekommen. Jetzt zwang sie der frühe Tod von Jacobsohn in die gemeinsame Verantwortung. Der eine als Herausgeber, der andere als verantwortlicher Redakteur. Tucholsky, gewohnt, von Jacobsohn gestreichelt zu werden, war mit dieser Lösung nicht glücklich: »Und das Allerschlimmste: ich will das ja alles gar nicht. Und ich habe nicht den Mut, Nein zu sagen — alle, alle — Georg Bernhard, Morus, und die es sonst gut meinen, sagen, ich sollte es tun. Und ich fühle, daß ich es nicht kann — mich langweilt es — ich bin so müde, und Berlin ist mir widrig, so widerwärtig, wie ich es gar nicht sagen kann. Geb ichs jetzt aber ab, dann ist es in ein paar Wochen kaputt, daran ist kein Zweifel.
Was soll ich nur tun?« fragte Tucholsky am 18.1.27 seine Frau, um hinzuzufügen: »Selbst wenn die Frau« — (Edith Jacobsohn, Witwe und Verlegerin) — »jetzt für ein paar Tage den Ossietzky engagiert, das wird natürlich besser, das ist wahr — aber ob ich hier auf richtige Ideen komme, das ist mir doch sehr zweifelhaft. Ich werde da in alte Sachen gedrängt, die ich längst überwunden habe — ich mag nicht mehr.«
Und am 7.2.: »Hier ists unverändert. Ossietzky entlastet mich jetzt ein bißchen. (…) Sag mir doch um Gottes willen, wie es weiter gehen soll…« Wieder einen Monat später »dicke Verhandlungen wegen endgültiger Übernahme des Blattes, das wird noch einen harten Kampf geben… Es ist ein +. Es geht ja ganz gut, es haben wenige abbestellt, aber ich will das ja alles gar nicht.«
Im Sommer 1927 dann erhielt Tucholsky einen Mitarbeitervertrag, der ihm dieselben Pflichten auferlegte, die er unter Siegfried Jacobsohn hatte, »aber ich fühle deutlich, daß mir der Mann nicht ersetzlich ist.« Tucholsky kehrte nach Paris zurück, und die »Weltbühne« erscheint fortan mit dem Impressum: »Begründet von Siegfried Jacobsohn. Unter Mitarbeit von Kurt Tucholsky geleitet von Carl von Ossietzky.«
Ein Jahr nach Jacobsohns Tod erinnerten beide an ihn. Ossietzky schrieb: »Etwa eine Woche vor seinem Tode antwortete er im vertrauten Kreis auf die Frage, ob er nicht bedauere, als Theaterkritiker so sehr in den Hintergrund getreten zu sein: ›Und wenn ich nichts getan hätte als die Aufdeckung der Fememorde, so wäre mir das genug…‹. Wer so dachte, konnte etwas bewegen. Der konnte dem schreienden Karneval der Erfolglosigkeiten fernbleiben, den man bei uns öffentliche Meinung nennt, der brauchte nicht hinein in die buntscheckige Parade der Prominenzen. Er hat immer lachend abgewehrt, prominent genannt zu werden. Er hatte es nicht nötig, weil er ein bedeutender Mann war.«
Tucholsky schilderte denselben Charakterzug Jacobsohns, »dazu gehören«, ohne »dazu zu gehören«, so: »Er ging in keine Salons, er mied, wo er konnte, die Premieren, er interessierte sich so gar nicht für das, was Snobs ›prominente Abende‹ nennen — darüber lachte er. Aber die Leute aus den Salons kamen zu ihm; seine Eindrücke aus den dritten Vorstellungen waren tiefer als die der hitzigen Premierenbesucher, und was die ›Prominenz‹ betraf, so hatte er für sie das schöne Wort Rudolf Rittners parat: ›Lahs ihm! Lahs ihm! Gott wird ihm schon strafen!‹
Dieser Berliner hatte wirklich einmal alle guten Eigenschaften seiner Stadt.«
Die Nuancen dieser Erinnerungen charakterisieren ihre Autoren trefflich. Sie lernten, miteinander auszukommen, auch wenn Ossietzky nicht redigierte, wie Jacobsohn redigiert hatte, und zurückhaltend blieb. Im prestigehungrigen Berlin von 1927 zeichneten sich beider Schicksale ab. Tucholsky ging hinaus, nach Paris, nach Schweden, Ossietzky geriet immer tiefer hinein in die deutsche Misere. Tucholsky nützte die Distanz, um ruhiger an seinen Sachen arbeiten zu können und sie weiter zu streuen: vom »Uhu« zur »Vossischen Zeitung« und zur »Arbeiter Illustrierten Zeitung«.
Ossietzky wurde in der Bedrängnis immer spitzer, schärfer, ungeduldiger mit sich und der Republik, immer mehr »Weltbühne«. Er ließ sich tragen von Tag zu Tag durch die Nachrichten von Ereignissen, die er höchst selten beeinflussen konnte. Das Arbeitspensum wuchs ungeheuer: Innenpolitik, Außenpolitik, Buchbesprechungen, Filmkritik, Theater, dazu die zeitraubenden Mißhelligkeiten durch die Verurteilung wegen Berthold Jacobs Aufsatz »Plädoyer für Schulz«, der die Verantwortung von Ministerialen für die Fememorde behauptet hatte.
Immer und immer wieder soziale Verantwortung gegen die Neurose der Gleichgültigkeit setzen. Zum rapiden Anstieg der Arbeitslosigkeit im Winter 1927/28: »Wer fragt nach den Millionen von Arbeitslosen, wer nach den täglichen Hungertragödien in Arbeiterhäusern und in langsam versinkenden Bürgerfamilien? Die Zeitung registriert nüchtern die Selbstmorde wegen Exmittierung, nur wenn die Quantität imponiert, gibt’s eine fettere Überschrift. Man weiß, daß in Berlin allein heute an die zwanzigtausend Wohnungslose gezählt werden… Es wird noch viel Zeit vergehen, ehe die Herren von links begreifen, daß ihre Diplomatenschuhe nicht recht zum Marsch der Arbeiterbataillone taugen. Wenn man vor Kapitalismus, Militarismus und Justiz nicht gleich die Hosen voll macht, braucht man deswegen noch kein Bolschewik zu sein. Das ist es, was die zarten Seelen nicht glauben.«
Die Arbeitslosen suchten den verlorenen Rhythmus der Fabrik, der auch ihr eigener Rhythmus war, und sie fanden ihn in den militärähnlichen Formationen links und rechts. »Die Überschätzung des Organisators ist überhaupt das schärfste Merkmal der deutschen Gegenwart. Wenn man irgendwo auf schwere Missgriffe,
auf Taktfehler, auf Unmenschlichkeit stößt, und das alles eingewickelt in ein Gerede über sachliche Notwendigkeiten, so weiß man, ohne lang zu fragen: hier hat einer organisiert. Organisieren heißt: zunächst die große Schnauze haben und anderen einen Arbeitsmodus aufnötigen…«
Klarer ist das Verhängnis im militärisch-industriellen Komplex der Deutschen selten gekennzeichnet worden wie in diesem Aufsatz über den Zeppelin-Kapitän »Eckener oder der Triumph der Betriebsamkeit«: Organisation als Selbstwert. Die Neurosen von Millionen klammern sich an das Prestige, das die Organisation verleiht.
»So wie gewisse Naturvölker den Schwachsinnigen göttliche Ehren entgegenbringen, so verehren die Deutschen den politischen Schwachsinn und holen sich von dorther ihre Führer.« So am 6. November 1928 zum 10. Jahrestag der verdrängten Revolution von 1918. Indolenz links, Indolenz rechts, Indolenz in der Mitte. Das war das publizistische Umfeld, in dem Carl von Ossietzky versuchte, die Politik auf das Maß der praktischen Vernunft zu bringen. Mehr und mehr mußte er dabei Bertrand Russells Einwand gegen den Monismus zur Kenntnis nehmen, daß die Relationen eigene Größen sind und nicht den Bezugsgrößen innewohnen:
Wer hätte geglaubt, daß die sozialen Beziehungen der reaktionären Reichswehr und der revolutionären Roten Armee eigene Größen gegenüber dem Verhältnis der Moskauer Partei zu ihrer deutschen »Bruderpartei« sein könnten? Sie waren es.
Die Beziehungen und die Persönlichkeiten blieben dem Publizisten, um an ihnen seine Kritik festzumachen, nicht aber die überlieferten Konzeptionen. »Wäre die Ökonomie im Leben der Völker«, heißt es über die Nazis im Februar ’31, »allein ausschlaggebend und die Persönlichkeit Nebensache, so müßte Hitler schon lange deutscher Diktator sein… Die Republik ist eine leere Schale geworden, deren auch vorher nicht allzu reicher Inhalt von Herrn Brüning konfisziert worden ist, soweit ihn nicht die tapferen SA-Männer zertrampelt haben. Mögen sie im Zeitungsviertel heute Victoria blasen, morgen wird wieder eine andere Nummer aufgesteckt werden.«
Und in seiner Kritik der Kritik, die an Lion Feuchtwangers zeitgeschichtlichem Roman »Erfolg«, 1930, geübt wurde: »Der Faschismus tritt über die Politik in die Literatur ein. Was sollen da Autoren, die noch mit den Emblemen der republikanischen, der sozialistischen und demokratischen Epoche kommen?
Da gilt es, Abstand zu halten. Der Rezensent setzt sich hin und schreibt mit leerem Herzen und vollen Hosen seine ablehnenden Verdikte.«
Er spüre um sich ein leises Wandern, vermerkte Tucholsky in dieser Zeit, »sie rüsten zur Reise ins Dritte Reich.« Indolenz gegenüber der Republik wandelte sich in den Opportunismus der »nationalen Erhebung«. Im Widerspruch zu solcher Verlogenheit führte der »Republikaner ohne Republik« seine berühmten Prozesse für die Pressefreiheit — und verlor.
»227 Tage im Gefängnis« hat Stefan Berkholz (1988) sein Buch über Ossietzky in den Endjahren der Weimarer Demokratie überschrieben. Er hat die Gefängnisakten der Berliner Strafvollzugsanstalt Tegel ausgewertet. Dort saß Carl von Ossietzky vom Mai bis Dezember 1932 ein, nachdem ihn das Reichsgericht in Leipzig im November 1931 zu 18 Monaten wegen Landesverrat verurteilt hatte. Der Anklage lag ein Weltbühnenartikel des ehemaligen Fliegeroffiziers Walter Kreiset mit dem Titel »Windiges aus der deutschen Luftfahrt« zugrunde.
Auf dem Wege der Etat-Kritik, die sie im Falle Junkers 1926 den Parteien empfohlen hatte, und aus allgemein zugänglichen Quellen hatte die »Weltbühne« die Zusammenhänge zwischen ziviler Luftfahrt und Aufrüstung offengelegt.
Das Thema war seit dem »Fall Junkers« immer wieder aufgekommen. Die journalistische Leistung bestand in der Synopse bekannter Einzeldaten. So war der Aufsatz, genau genommen, juristisch nicht zu belangen; aber er schädigte durch die Veröffentlichung den Anspruch des Militärs auf sein besonderes Machtwissen. Das Gericht unter dem Vorsitz eines späteren Richters an Hitlers »Volksgerichtshof«, der seit dem Hochverratsprozeß gegen junge Nazioffiziere der Reichswehr in Ulm als deren Sympathisant bekannt war, schloß die Öffentlichkeit aus und gab damit von vornherein den militärischen Klägern recht. »Wenn wir heute öffentlich getagt hätten«, schrieb Ossietzky seiner Frau am Eröffnungstag, »hätten wir gewonnen.« Ähnlich beurteilten große Zeitungen in New York, London, Paris den Fall, und beobachteten ihn entsprechend.
Der »Weltbühnenprozeß« wurde ganz gegen den Willen seiner Urheber zu einer internationalen Demonstration für die Pressefreiheit.
Sogar zerstrittene deutsche Anhänger der Friedensbewegung und der Liga für Menschenrechte einten sich noch einmal im Protest. Ossietzkys Kampf hat sie integriert; aber sonst gilt für die Linke, wie für allzuviele Intellektuelle des rechten Spektrums Goethes Satz in »Hermann und Dorothea«: »Denn der Mensch, der in schwankender Zeit auch schwankend^ gesinnt ist, der vermehret das Übel und breitet es weiter und weiter.« Der deutsche Pazifismus war nicht politisch geworden, sondern sektiererisch.
Man kann Ossietzky Irrtümer nachweisen und Fehleinschätzungen, aber nicht die geringste Schwankung in seiner demokratischen Gesinnung. Als er verurteilt war, schrieb er 1931 unter der Überschrift »Ich — ein Landesverräter«: »Noch leben wir aber in der demokratischen Republik, auf deren Grundsätze ich schwöre, und die ich vom Tage ihrer Geburt an verteidigt habe. Noch leben wir im Zustand verbürgter Meinungsfreiheit, noch immer in einem Staat, in dem das Militär den zivilen Behörden unterworfen ist. Deshalb werde ich weiter dafür einstehen, daß der Geist der deutschen Republik nicht durch eine mißverstandene Staatsräson verfälscht wird.«
Aber diese Republik gab ihren Geist auf. Man könnte sagen: sie gab ihn ab an der Garderobe zum militärisch-paramilitärischen Vorkriegstheater, das die Rechte inszenierte.
Freunde rieten Ossietzky, außer Landes zu gehen. Er aber wollte das Odium der Flucht nicht auf sich nehmen und lieber bleiben. Als sich die Sozialdemokraten bei der Reichspräsidentenwahl vom März 1932 für den vergreisten Hindenburg einsetzten, trat Ossietzky ihrem Motto »Schlagt Hitler, darum wählt Hindenburg!« entgegen. Er sprach sich, mangels sozialdemokratischer Kandidaten, für den Kommunisten Ernst Thälmann aus.
Nach seiner Wiederwahl lehnte Hindenburg ein Gnadengesuch linker Intellektueller für den Verurteilten ab. Die Fronten erstarrten. Später blieben Petitionen der Liga für Menschenrechte und des PEN-Clubs trotz ihrer annähernd 45 000 Unterschriften ohne Erfolg. Die Nazipartei, »eine kolossale Anschwemmung gebrochener Existenzen, leidlich gebunden nur durch den Glauben, daß der Heilige aus Braunau im Ernstfall doch funktionieren wird«, war auf dem Weg, den Reichstag zu demontieren. Am 30. August nahm Hermann Göring, mit den Stimmen der Deutschnationalen, des Zentrums und der Bayerischen Volkspartei, in SA-Uniform und den höchsten preußischen Kriegsorden, Pour le merite, um den Hals, den Präsidentenstuhl von Paul Lobe (SPD) ein. »An dieser Partei ist nichts originell, nichts schöpferisch, es ist alles entlehnt… Nur die Vereinsparole ›Juda verrecke!‹ ist wohl in eigener Kultur gezogen.«
Nicht einmal sie war originell. Ossietzky hat wiederholt selber auf die Geschichte des Antisemitismus hingewiesen und ihn als säkulare Schande bekämpft; aber er hat auch die Integration der deutschen Juden in den nationalistischen Interessenverbund von Militarismus und Kapitalismus nicht übersehen. In einer Auseinandersetzung mit dem »Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens« fragte er 1930: »Aber was in aller Welt soll man mit Juden machen, die sich selbst den gelben Fleck aufs Kleid tun, nur um für ihre Tresors und Aufsichtsratsposten die gütige Protektion einer Antisemitensippe zu gewinnen? Da bleibt nichts als Resignation.« Der Centralverein, schrieb Ossietzky, betone nicht mehr den jüdischen, sondern den bürgerlichen Glauben. Zionisten spotteten über den Centralverein jüdischer Bürger deutschen Glaubens.
Dieser deutsche Glaube war die Verabsolutierung der Organisation von Militär und Industrie. Die Beiträge von Morus in der Weltbühne, Ossietzkys Leitartikel, seine Polemiken gegen den parfümierten Faschismus der »Kavaliere«, die Texte des von der Hitlerpartei enttäuschten Otto Strasser, der früheren Ullstein-Redakteure Hans Zehrer und Erich Fried und ihres »Tat«-Kreises, nicht zuletzt gegen Ernst Jüngers konjunkturgerecht 1932 entworfenes Phantombild »Der Arbeiter«,
konfrontierten »liberalen Kulturschwafel« unermüdlich mit den Irrtümern des deutschen Glaubens und den menschenfeindlichen Bedingungen seiner Einrichtungen:
»Nur der Verfall der bürgerlichen Freiheit und die wachsende Ausdehnung der Barbarei in dieser Zeit wird mit einer Liebe zum Detail ausgepinselt, die uns besser als die prätentiöse Ausdrucksform belehrt, warum solche Bücher noch immer geschrieben werden.«
Und an anderer Stelle: »Die gleiche Not, die alle schwächt, ist Hitlers Stärke. Der Nationalsozialismus bringt wenigstens die letzte Hoffnung von Verhungernden: den Kannibalismus. Man kann sich schließlich noch gegenseitig fressen. Das ist die fürchterliche Anziehungskraft dieser Heilslehre. (…) Für das Schauspiel ist gesorgt, ebenso für ihr Muschkotenbedürfnis, die Knochen zusammenzureißen, vor irgendeinem Obermotzen zu ›melden‹« (15.12.31).
Ossietzky sorgte sich für den Fall der Haft in erster Linie um Frau und Tochter. Die kleine Familie lebte von seinen Honoraren. Sie war in den letzten Jahren häufig umgezogen, unter seiner nun doch unvermeidlichen und weithin negativen Prominenz leidend, besonders Maud.
So wurde beschlossen, die Tochter in die Odenwaldschule zu bringen, um sie abzuschirmen vom Berliner Geschehen; aber als er die Zwölfjährige in der Schule ablieferte, stürzten sich ältere Schüler auf den Vater, um mit ihm zu diskutieren.
Ossietzky war eine kritische Instanz geworden, ein Vorbild für die einen, ein Bild des Abscheus für die anderen. Im »Niemandsland« sehen ihn noch spätere Historiker angesiedelt, wenn aber die Republik überhaupt »Jemandsland« war, so war sie sein Land.
Am 10. Mai 1932 trat Ossietzky, geleitet von hundert Freunden, seine Strafe in Tegel an. Vizepolizeipräsident Weiss, der vielgehaßte, vielverhöhnte, von den Antisemiten ständig bedrohte, hat den Geleitzug trotz Demonstrationsverbot ermöglicht. Elke Suhr gibt in ihrer Biographie die Melancholie dieses Abschieds wieder, Berkholz die Dokumente, Kurt Grossmann die persönliche Erinnerung.
Ossietzky selber schrieb am Abend noch seiner Frau, der Tag, der der traurigste in seinem Leben hätte werden können, sei der stolzeste geworden. Mutig und weitsichtig der Abschiedsessay »Rechenschaft«. Die politische Leitung der »Weltbühne« übernahm Hellmut von Gerlach, Walther Karsch war der zuverlässige »Sitzredakteur«. »Von allen aber, die meine Arbeit in dem roten Heft freundlich oder feindlich verfolgt haben,
verabschiede ich mich wie der brave Soldat Schwejk von dem alten Sappeur Woditschka: ›Also nachn Krieg, um sechs Uhr abend im Kelch‹.«
Es war nicht sechs Uhr, und es war auch nicht im »Kelch«, als Ossietzky seine Frau, seine Freunde und Feinde wiedersah. Man schrieb den 22. Dezember 1932, und es war fünf Minuten vor zwölf in Deutschland. Der Gefangene war schließlich doch noch im Zuge einer Amnestie auf Drängen der SPD-Fraktion frei gekommen. Der »Teufel des Bürgerkriegs« schien ihm durch das Kabinett des Generals von Schleicher eingefangen; aber niemals, so schrieb er in der »Weltbühne«, sei in Deutschland so viel intrigiert worden wie in diesem Jahr 1932. Ossietzky vermutete am 10. Januar 1933, eine Militärdiktatur werde kommen, die Nazis könnten im Grunde mit gutem Gewissen abtreten, denn ihre Mission sei erfüllt:
»Deutschland nimmt die Diktatur als selbstverständlich hin, demokratische Prinzipien zählen nicht mehr, und jede Partei hat sich vom Nationalsozialismus infizieren lassen.«
Der runde Tisch, an den Ossietzky zuvor Sozialdemokraten und Kommunisten zusammengerufen hatte, war leer geblieben. Es gab keine »Volksfront« in Deutschland, nur Kabale. Noch Ossietzkys Nachruf auf das Kabinett Schleicher, der am 31.1.1933 in der »Weltbühne« erschien, als Hindenburg schon Hitler zum Reichskanzler ernannt hatte, trägt die Überschrift »Kamarilla«.
Ossietzky hat die Akteure auf der Hinterbühne richtig eingeschätzt und den braunen Tribun auf der Vorderbühne als deren Figur erkannt. »Die Gegenrevolution hat kampflos die Höhen besetzt. Sie beherrscht das Tal, und wir leben im Tal«. So am 7. Februar 1933 über die Regierung Hitler und deren publizistisches Echo: »Die ›Kavaliere‹, wenn wir die Vertreter der ›hauchdünnen Schichte so nennen wollen, haben die wirtschaftlichen Schlüsselstellungen besetzt; die anderen, die ›Rundköpfe‹, die Verfechter eines nationalistischen Rigorismus, die Männer, die aus dem Volke kommen, haben die politischen Instrumente in der Hand, die notfalls in Bewegung gesetzt werden müssen, um die Maßnahmen der ›Kavaliere‹ durchzuführen und zu verteidigen.« Ossietzky täuschte sich über Hitlers Gewalt, wie die deutschnationalen Macher des Reichskanzlers Hitler sich über die Motorik der Führerschaft getäuscht haben.
Es hätte für Carl von Ossietzky nahe gelegen, nach Wien zu gehen, wo die »Weltbühne« seit dem 29. September 1932 eine österreichische Ausgabe hatte: »Berliner in Österreich? — Nein: Sozialisten bei Sozialisten!« hatte Kurt Tucholsky in der ersten Nummer seinen Beitrag überschrieben. Anton Kuh schlug vor, den österreichischen Bundeskanzler Dollfuß seiner diktatorischen Absichten wegen »Millimetternich« zu nennen; aber Leopold Schwarzschild ging mit dem »Neuen Tage-Buch« nicht nach Wien, sondern nach Amsterdam und Paris.
Ossietzky blieb und schrieb, bis man ihm die Freiheit nahm und das Büro in der Charlottenburger Kantstraße 152 schloß. »Deutschland wartet!« hieß sein Leitartikel vom 14. Februar 1933. Darin folgerte er aus seinen Erfahrungen mit der bedrängten Pressefreiheit noch Zuversicht:
»Diejenigen Zeitungen, die sich Charakter und Selbständigkeit bisher bewahrt haben, werden auch in der Zukunft nicht durch den Reifen springen. Der Fall liegt sehr einfach: bei dem uralten Duell zwischen physischer Gewalt und freiem Gedanken ist die Gewalt im letzten Gang immer unterlegen. Wo eine diktatorische Herrschaft verwehren will, daß Ideen ausgesprochen, geformt, niedergeschrieben, verbreitet werden,
da gibt es bald Verwesung, Friedhofsgeruch. Deutschland ist ein Land der differenziertesten öffentlichen Funktionen, man kann es nicht leicht in die Primitivität einer geduldigen Kulistummheit zurückschrauben. Wo regierende Gewalten die Meinungsfreiheit der Mitlebenden mit einem Federstrich kassieren, da liefern sie sich nur den anonymen und gestaltlosen Mächten der Geschichte aus, die viel bösartiger und schonungsloser sind als der galligste Pamphletist. Immerhin geht die deutsche Presse in eine bewegte Epoche hinein. Der wirkliche Presseball beginnt erst jetzt.« Auch die letzte Ausgabe der »Weltbühne« vom 7. März 1933 endete mit einem Appell an die Hoffnung:
»An unsere Leser. Nach den Ereignissen des 27. Februar (Brand des Reichtags. Die Red.) wurde eine Reihe von Persönlichkeiten verhaftet, unter denen sich auch der Herausgeber unseres Blattes, Carl von Ossietzky, befindet. Redaktion und Verlag der › Weltbühne ‹ versichern den Lesern, daß sie und ihr Rechtsbeistand Kurt Rosenfeld alles tun werden, was im Rahmen des heute noch Möglichen liegt, um Carl von Ossietzky die Freiheit wiederzuverschaffen. Eine Reihe von Gründen, vor allem technischer Natur, machen es uns diesmal nicht möglich, wie üblich sofort zu dem Wahlergebnis Stellung zu nehmen.
Welche Bedeutung ist diesen Wahlen beizumessen? Mit ihnen wird die erste Periode in der Geschichte der Deutschen Republik abgeschlossen, mit ihnen beginnt ein neuer Abschnitt dieser Geschichte. Wir dürfen wohl in diesem Augenblick feststellen, daß wir immer unsere warnende Stimme erhoben, daß wir uns nicht gescheut haben, den Ruf ewiger Querulanten auf uns zu nehmen, denen nichts recht zu machen ist. So schmerzlich die Konstatierung auch ist: unsre Kritik, unsre Warnungen waren mehr als berechtigt. Trotzdem: es wird weitergearbeitet, denn der Geist setzt sich doch durch.«
Die »Rundköpfe« verhafteten Carl von Ossietzky nach dem Reichstagsbrand. Sie verschleppten den »Landesverräter« ins KZ Sonnenburg bei Küstrin. Dort hat ihn im September der Gestapo-Chef Diels gesehen und darüber 1958 geschrieben:
Die Gefangenen »waren Gestalten wie aus einem Spuk oder einem dämonischen Traum. Aus den zerbeulten und zerfetzten Kleidern ragten verquollene Köpfe heraus wie Kürbisse, gelb, grün und bläulich angelaufene Gesichter, die nichts mehr von einem Menschengesicht an sich hatten.
Die bloßen Körperteile waren mit Striemen und geronnenem Blut bedeckt. Mir fuhr ein Schrecken durch die Glieder wie bei einer Geistererscheinung.« Ossietzky, kaum noch erkennbar, »trat auf mich zu… und bat nur mit schwacher Stimme, daß man ihn aus dieser Hölle befreien solle.«
Sein polnischer Name mit dem Prädikat »von«, seine zarte Gestalt und sein scharfer Kopf machten Carl von Ossietzky zu einem bevorzugten Opfer der SA- Schergen. Er verkörperte in sich alles, was der »ewige Korporal im Deutschen« haßt: die Zugehörigkeit zu einer Klasse, für die er jahrhundertelang gefront hat, die Intellektualität, die er nicht begreift, und die körperliche Schwäche, die er verachtet, weil körperliche Überlegenheit seine einzige Stärke ist.
Darum konnte die Verlegung ins KZ Esterwegen, das die SS übernahm, ihm auch keine Erleichterung bringen. Dort nahmen stärkere Mitgefangene, wie der kommunistische Boxer Georg Schmidt aus Berlin, »Carlchen« in Schutz, so gut es ging.
Ossietzky konnte keine Schonung erwarten.
Das KZ war der innerste Hof der preußischdeutschen Kaserne, gegen die er ein Leben lang angeschrieben hatte. Die Entwürdigung der Gefangenen, die Schikanen ihrer Korporale, aber auch der »Funktionsgefangenen«,
die sich in der Hierarchie ein besseres Leben verschafften, indem sie Mitgefangene quälten — dies alles war nicht neu. Weder für die »gedienten« Schergen, noch für die meisten Gefangenen. Die deutsche Form der »Rache des kleinen Mannes« am kleinen Mann, ihn noch kleiner zu machen.
Ossietzky kannte diese Rache — »Wehe den Kleinen!« — aus Militärprozessen, aus der eigenen Dienstzeit, und er wußte, daß es zum System des Staates gehörte, den er in eine davon freie Republik hatte verwandeln wollen: »Hinlegen — aufstehen — hinlegen — aufstehen! Marschmarsch!«, »Strafexerzieren«, Entwürdigung des »Bonzen«, der im Schlafanzug vor die Front treten mußte, Spießrutenlaufen durch Schläge mit Nagelbrettern und sonstiger »Sport« bei miserabler Ernährung.
Ossietzky, geschwächt von der Gefangenenkost in Tegel, seiner ausgleichende Zigaretten beraubt und von Kind auf unzulänglich ernährt, sollte jetzt zehn Stunden am Tag mit Hacke und Spaten Moor umgraben. »Mit fünf Tagen strengem Arrest und mehrwöchiger Strafarbeit wird bestraft: … 2. wer sich ohne Grund zum Arzt meldet, oder … ohne Wissen des Kompanieführers sich zum Arzt oder Zahnarzt meldet oder das (Kranken)Revier aufsucht.
« Immer steht der Schwache unter dem Verdacht, sich vor der Arbeit zu drücken. Die im Heer abgeschaffte Abschreckungszeremonie der Prügelstrafe wird im KZ wieder praktiziert, und wer auf Kommando irgendwohin rennt, kann nicht wissen, ob er dabei »auf der Flucht erschossen« werden wird.
Die Emslandlager waren auf 10000 Gefangene geplant. Sie sollten das preußische Gegenstück zum bayerischen Zentral-KZ Dachau werden, und dabei sollten die »Moorsoldaten« in zehn Jahren 50000 Hektar meliorieren und sich selbst dabei zugrunde richten. Die Konzentrationslager der frühen Nazijahre verbinden schon den industriellen mit dem politischen Zweck durch militärische Formen, wie ein paar Jahre später die fabrikmäßigen Vernichtungslager. Das durchgehende Prinzip der deutschen Staatlichkeit seit 1870 legt hier seine Wurzeln bloß. Hellmut von Gerlach hat in der »Weltbühne« einmal an den Fall eines hannoveranischen Herrn von Petersdorf erinnert, den Bismarck entführen und zu Tode schinden ließ, weil er im Schutz des Großherzogs von Mecklenburg gegen seine Politik opponierte. Wir haben keine Nachrichten darüber, was Carl von Ossietzky mit seinem Pritschennachbarn Theodor Haubach, mit den Sozialdemokraten Wilhelm Leuschner und Ernst Heilmann über Vergangenheit und Zukunft der Republik gesprochen hat;
aber 1930 hatte er anläßlich der Wahl des Feme-Mörders Edmund Heines zum Mitglied des Reichstags geschrieben: »Es gilt festzuhalten: es gibt in Deutschland Bürger, die jemanden wählen, weil er an einem feigen Mord im Hinterhalt beteiligt war… Es geht eine Blutlinie durch die zwölf Jahre Republik. Die Gerichte haben sie niemals ernsthaft bloßgelegt. Ein einziger zu Ende geführter Ehrhardt- oder Roßbachprozeß [Fememord-Organisationen. Die Red.] hätte uns den ärgsten Zauber der neuen Hitlermacht erspart.«
Nein, Ossietzky konnte keine Schonung erwarten. Dieselbe Justiz, die seine Meinungsäußerungen für illegal erklärt hatte, legalisierte jetzt die Gewalt der »Offizierscamorra« von gestern in ihren neuen Uniformen. Ende 1934 war Ossietzky am Ende seiner Kräfte. Er wurde ins Krankenrevier eingeliefert. Im Juli 1935 durfte ihn seine Frau für eine halbe Stunde besuchen; sein Gesundheitszustand verschlechterte sich.
Es gehe ihm gut, schrieb Maud von Ossietzky in einem Brief an die Londoner »Times«, nur ein altes Herzleiden mache ihm zu schaffen und die lange Haftzeit. Das war ein offener Hilferuf,
wie sie vorher schon von anderer Seite veröffentlicht worden waren. Man hatte ihn namens der Deutschen Liga für Menschenrechte schon 1934 für den Friedens-Nobelpreis vorgeschlagen. Allein und frustriert versuchte Kurt Tucholsky für den Gefangenen zu wirken. Obwohl die Liga nicht vorschlagsberechtigt war, lenkte ihre Nominierung die Aufmerksamkeit des Auslandes auf diesen Häftling, stellvertretend für die damals unbekannte Zahl der politischen Gefangenen in Deutschland. Uneins über Nutzen und Schaden solcher Personifizierungen für den Genannten, stritten sich die Freunde Carl von Ossietzkys im Ausland über diese Kampagne.
Inzwischen festigte sich die Gewaltherrschaft. Neun Jahre nach der Hindenburgwahl von 1925, in der die deutschen Wähler die zweite Wahl statt der ersten, republikanischen getroffen hatten, war der unglückselige General tot, und der »Gefreite des Ersten Weltkrieges«, der es nicht zum Korporal gebracht hatte, war »Führer und Reichskanzler«. Mit dem »Röhm-Putsch« hatte er sich denkbarer Rivalen entledigt.
Das Ausland zeigte sich beunruhigt; aber es konnte sich zum militärischen Druck nicht entschließen, den Leopold Schwarzschild in seinem »Neuen Tage-Buch« immer wieder empfahl, ehe es zu spät dafür sein würde.
Einzig Mussolini schien 1934 zu begreifen, was jetzt drohte. Er verstärkte seine Truppen an der Brennergrenze, als die Nazis den österreichischen Bundeskanzler Dollfuß ermordet hatten. Die Regierungen in Paris und London hielten sich bedeckt. Der polnische Diktator Pilsudski schloß einen Nichtangriffspakt mit Hitler. Ossietzky behielt recht, daß Typen wie Mussolini und Hitler ihre Erfolge nicht ihrer Stärke, sondern den Schwächen der anderen verdankten.
Aus einer Hilfsaktion der Kollegin Hilde Walter für die mittellose Frau und Tochter des ins KZ verschleppten Ossietzky entwickelte sich ein breites internationales Interesse für den Gefangenen. »Ein reiner Soldat des Friedens« war er von Tucholsky genannt worden, als er in Tegel saß. Er hielt aus, nachdem ihn die Feinde der Menschheit schon überwältigt hatten.
Der deutsche Pazifismus war nicht politisch geworden, wie Ossietzky gefordert hatte. Der Militarismus, der »ewige Korporal in jedem Deutschen« triumphierte. Das endlich verstand die Welt. Der gefolterte Ossietzky symbolisierte ihr die eigene Gefahr. Der Schweizer Diplomat und Vertreter des »Roten Kreuzes«, Carl Jacob Burckhardt, bestätigtem seinem Bericht 1935 den Sachverhalt.
Er durfte, unangemeldet, den kranken Häftling im Lager Esterwegen erst sehen, nachdem er den Lagerkommandanten Loritz militärisch angepfiffen hatte: »Dann standen wir schweigend, wieder schaute ich auf die Armbanduhr, drei Minuten, fünf, zehn. Nach zehn Minuten kamen zwei SS-Leute, die einen kleinen Mann mehr schleppten und trugen als heranführten. Ein zitterndes, totenblasses Etwas, ein Wesen, das gefühllos zu sein schien, ein Auge geschwollen, die Zähne anscheinend eingeschlagen, er schleppte ein gebrochenes, schlecht ausgeheiltes Bein. Ich ging ihm entgegen, reichte ihm die Hand, die er nicht ergriff.
›Melden!‹ schrie Loritz. Ein unartikulierter, leiser Laut kam aus der Kehle des Gemarterten. Ich zu Loritz: ›Zurück!‹, ›Herr von Ossietzky‹, sprach ich ihn an. ›Ich bringe Ihnen die Grüße Ihrer Freunde, ich bin der Vertreter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, ich bin hier, um Ihnen, soweit uns dies möglich ist, zu helfen.‹
Nichts. Vor mir, gerade noch lebend, stand ein Mensch, der an der äußersten Grenze des Tragbaren angelangt war. Kein Wort der Erwiderung.
Ich trat näher. Jetzt füllte sich das noch sehende Auge mit Tränen, lispelnd unter Schluchzen sagte er:
›Danke, sagen Sie den Freunden, ich sei am Ende, es ist bald vorüber, bald aus, das ist gut.‹ Und dann noch ganz leise: ›Danke, ich habe einmal Nachrichten erhalten, meine Frau war einmal hier, ich wollte den Frieden.‹ Dann kam wieder das Zittern, Ossietzky verneigte sich leicht in der Mitte des weiten, leeren Lagerplatzes und machte eine Bewegung, als wollte er militärische Stellung annehmen, um sich abzumelden.
Dann ging er, das eine Bein nachschleppend, mühsam Schritt vor Schritt zu seiner Baracke zurück.«
Dies also war das »neue Deutschland« auf den Wogen von Hitlers »Nationaler Erhebung«: Größenwahn plus Kadavergehorsam.
Der Besuch Burckhardts war möglich geworden, weil die Ossietzky-Kampagnen im Ausland immer weitere Kreise zogen. Sie liefen der offiziellen Friedenspropaganda Hitlers wie auch der Appeasement-Politik der Westmächte zuwider. Nachdem Hellmut von Gerlach mit Albert Einstein und Ernst Toller die Friedens-Nobelpreisträgerin Jane Addams (1931)
und Ludwig Quidde (1927) für den Vorschlag Ossietzky gewonnen hatten, erreichten Toller und Rudolf Olden den Friedenspreisträger Norman Angell (1933), Bertrand Russell, Aldous Huxley und Virginia Woolf. In Zürich warben die Brüder Emil und Hans Oprecht mit Hilfe von Heinrich und Thomas Mann. In Prag profilierte sich Hermann Budzislawski mit der »Neuen Weltbühne«, die er von Edith Jacobsohn gekauft hatte, und einem Prager Ossietzky-Komitee. Karel Capek und Max Brod waren dabei; aber Hellmut von Gerlach befürchtete, es werde dem Häftling schaden, weil es im Fahrwasser einer Volksfrontpolitik segelte, die Ossietzky 1931 befürwortete, aber nicht erreicht hatte. Als die Kommunisten die Namen ihres Ernst Thälmann und zweier Emsland-Häftlinge, Carlo Mierendorff (SPD) und Carl von Ossietzky (parteilos), in eine internationale Kampagne gegen den Nazi-Terror einbrachten, empörte sich Hilde Walter dagegen, Carl von Ossietzky als Aushängeschild kommunistischer Politik zu mißbrauchen.
Nicht ohne Grund, wie sich nach 1945 zeigen sollte, als die »Weltbühne« im sowjetisch besetzten Sektor Berlins wiedererschien, nachdem die britische Militärregierung Maud von Ossietzky kein Papier bewilligt hatte.
Die gerechte Einschätzung Ossietzkys im Westen hat unter diesem Umstand ebenso gelitten wie unter der Tatsache, daß Journalisten des »Tat«-Kreises, die er 1932/33 für den Aufstieg Hitlers mitverantwortlich gemacht hatte, in der westdeutschen Publizistik nach 1945 Hauptrollen spielten.
1936 meldete der stellvertretende Chef der »Preußischen Geheimen Staatspolizei«, Reinhard Heydrich, seinem Chef, Hermann Göring, der »Schutzhaftfall von Ossietzky« habe von Anbeginn ein außerordentliches Interesse im Ausland gefunden, das »entgegen der in ähnlichen Fällen gemachten Erfahrung im Laufe der Zeit keine Abschwächung, sondern eher eine Verstärkung erfahren« habe. Die »Gesellschaft der Freunde« (Quäker) habe sich laufend mit ihm befaßt, französische, schwedische, tschechoslowakische und spanische Friedensvereinigungen haben ihn mehrfach für den Nobel-Friedenspreis vorgeschlagen. »Aus diesen Gründen und auf Veranlassung der aus England stammenden Ehefrau« sei Ossietzky jährlich ärztlich untersucht worden. Auf diesen Bericht hin ließ Göring den Häftling in ein Berliner Krankenhaus verlegen, »wo Bewachung gesichert sei«.
Auch das Außenministerium wurde von Botschaften und Konsulaten immer wieder auf die öffentliche Anteilnahme an diesem Häftling hingewiesen. Schließlich waren die für den Nobelpreis Vorschlagsberechtigten, an die sich Ossietzkys Fürsprecher wandten, nicht sprachlos, sondern ihrerseits Multiplikatoren: Mitglieder des norwegischen Nobelkomitees, Parlamentarier, Regierungsmitglieder aller Staaten, Mitglieder der Ausschüsse des Internationalen Gerichtshofes im Haag, des Instituts für Internationales Recht, Lehrstuhlinhaber der Philosophie, Geschichte, Rechts- und Politikwissenschaft. Dazu die nichtvorschlagsberechtigten Literaten und Künstler, die als berufsmäßige Kommunikatoren im öffentlichen Ansehen standen.
Dennoch scheiterte der Versuch, für Ossietzky den Friedens-Nobelpreis im Jahr 1935 zu erlangen. Norwegische Regierungsmitglieder fürchteten den außenpolitischen Druck des Nazireiches mit seinen weitreichenden Möglichkeiten. Die Magie des militärisch-industriellen Komplexes wirkte.
»Das Reich« war 1935 unbestritten die stärkste Industriemacht in Europa und überflügelte seine Nachbarn militärisch. Es durch Verleihung des Preises an einen erklärten Gegner, einen verurteilten »Landesverräter« zu provozieren, mochte nicht geraten erscheinen.
Willy Brandt, der als junger Emigrant in Norwegen für die Kandidatur agitierte, hat die Kontroversen der norwegischen Politik in Sachen Ossietzky aus eigener Kenntnis beschrieben. Ohne die Entschiedenheit der Arbeiterpartei wäre wohl keine Mehrheit zustande gekommen. Ungewollt warb der Literaturpreisträger von 1920, Knut Hamsun, für Ossietzky, der ihn bewunderte. Er verhöhnte den Gefangenen in einem Offenen Brief, der mit der Aufforderung endete: »Antworte Ossietzky«. An seiner Stelle antwortete die gesamte literarische Prominenz des Landes für Ossietzky.
Ein Jahr später erkannte das Nobel-Komitee Ossietzky den Preis für 1935 nachträglich zu. Der große Humanist und Begründer der Tschechoslowakei, Thomas G. Masaryk, hatte wohl auf eine Kandidatur verzichtet — genau weiß man das nicht.
Carl von Ossietzky lag, als er die Nachricht von seiner Ehrung erhielt, im Berliner Krankenhaus Westend: »Ich bin noch immer bettlägerig und fühle mich recht angegriffen. In den ersten Tagen hatte ich ziemlich hohe Temperatur, das ist wohl als Folge des schnellen Wechsels erklärlich. Mein Arzt bemüht sich, eine geeignete Heilstätte für mich zu finden, die nicht allzu teuer ist. Ich erwarte, bald Vorschläge zu hören. Die Pflege ist hier recht gut, aber wie es in einem Krankenhaus,
und namentlich in dieser Abteilung nun mal ist: man sieht und hört hier viel namenloses Elend. Alle meine Mitpatienten sind schwer krank. Sie gehören zu jenen bedauernswerten Menschen, deren Leben sich seit Jahren in Spitälern und öffentlichen Kuranstalten abspielt. Dieses Dasein hat schon seinen bestimmten Rhythmus: kurze flüchtige Besserung und dann wieder Krankenhaus. Ich bin in der Tuberkulosen-Branche noch neu, mich erschreckt das alles, und ich finde das als Aussicht nicht erheiternd, ebenso wenig die Gespräche der guten Leute, die sich auch den ganzen Tag ausschließlich um ihr Leiden drehen. In der Tat wirken alle Schwindsüchtigen wie eine große Familie, in die bin ich jetzt aufgenommen. Daran muß man sich erst gewöhnen…«
Diesen kranken Mann ließ der Generaloberst und Ministerpräsident Göring kommen, um ihn zu überreden, den Preis abzulehnen. Aber wie viele andere KZ-Häftlinge durch das ihnen angetane Unrecht in ihrem Widerstand gestärkt wurden, lehnte auch Carl von Ossietzky ab: »Ich war Pazifist, und ich werde Pazifist bleiben«, soll er dem Dicken ins Gesicht gesagt haben. Eine Szene von Shakespeareschen Ausmaßen.
Weil »unverbesserlich«, durfte Ossietzky zur Preisverleihung nicht ausreisen, weil er ein von der Republik verurteilter »Landesverräter« war, distanzierten sich auch nach der Verleihung prominente Norweger vom Preisträger. Die Verleihung fand ohne ihn statt. Hitler fühlte sich beleidigt und stiftete am 30. Januar 1937 einen »Deutschen Nationalpreis für Kunst und Wissenschaft… um für alle Zukunft beschämenden Vorgängen vorzubeugen… Die Annahme des Nobelpreises wird damit für alle Zukunft Deutschen untersagt.«
Zur Tragödie das Satyrspiel. Um die Preissumme von umgerechnet 100000 Reichsmark gab es einen Betrugsprozeß. Ossietzkys Bevollmächtigter, den Frau Maud zufällig kennen gelernt hatte, veruntreute die anvertrauten Gelder und wurde verurteilt. Die Hintergründe blieben dunkel, die Nazipresse hämisch: »Pech mit dem Friedenspreis«, und »Geheime Staatspolizei hat Ossietzkys Geld gerettet«, nachdem sein Arzt, Dr. Hans Dosquet, behauptet hatte, es sei ihm gelungen, mit Hilfe der Gestapo einen großen Teil der Gelder für Ossietzky zu retten. In einem Nachkriegsprozeß sagte der Verurteilte 1949 aus, er sei von der Gestapo präpariert worden…
Noch während des Prozesses marschierte Hitler in Österreich ein.
Leopold Schwarzschild schrieb in seinem »Neuen Tage-Buch« am 10. März 1938, alle, die Europa leiteten und leiten, hätten ihren Beitrag zum Verhängnis hinzuaddiert, und — wie schon Ossietzky 1932 — daß nur Umlernen das Schicksal wenden könne. Carl von Ossietzkys Leben schwand. Trotz Ansteckungsgefahr wohnte seine Frau bei ihm. An Ostern besuchen ihn zwei junge Norweger, Inger und Finn Lie. Sie berichten, daß sie einen Sterbenden gesehen haben: »Während der ganzen Unterredung gab er ein Beispiel für die Überlegenheit des Geistes über die Gewalt.« Als ihr Artikel im »Sozialdemokrat« erschien, war Carl von Ossietzky tot. Er starb am 4. Mai 1938 im Krankenhaus Nordend in Berlin-Niederschönhausen, das er einen »Zauberberg der Armen« genannt hatte.