So beginnt und endet das „Kriegslied“ des Matthias Claudius. Es hat nichts an Aktualität verloren, obschon 189 Jahre ins Land gegangen sind, seitdem der unruhige Wandsbecker Bote es geschrieben hat. Auch das Jahr 1968 begann mit Krieg. Im Nahen Osten verdeckt ein kaum eingehaltener Waffenstillstand, daß Krieg ist zwischen Arabern und Juden, wie Unfrieden herrscht zwischen Türken und Griechen auf Zypern. In beiden Fällen handelt es sich um ungelöste Probleme territorialer Neuordnung nach der Ablösung des türkischen und des britischen Imperiums, darum also, wer in Zukunft welches Stück Erde besitzen soll. Kleine Völker streiten um eine historische Erbschaft.
Der dritte Krieg ist anderer Natur: Vietnam. Das Land grenzt an ein Weltreich, das nicht verschwand, wie das türkische und das britische, sondern aus einer Ohnmacht erwacht: China. Die Nachbarschaft Vietnams mit China schien so fraglos, daß die französische Kolonialpolitik und in ihrem Gefolge der ganze Westen bislang von Indochina sprach. Die indochinesische Revolution, der die Kolonialherrschaft zum Opfer fiel, brachte die Amerikaner auf den Plan, vordergründig als Stütze einer unsozialen einheimischen Oberschicht, in weiterer Perspektive im Zug der amerikanischen Chinapolitik.
China war das ganze 20. Jahrhundert hindurch bis zum Siege Mao Tse Tungs das Lieblingskind amerikanischer Handels- und Missionseifers gewesen, un in Ostasien ist der amerikanische Antikommuniskmus ein anderer Name für die „Politik der offenen Tür“ seit der Jahrhundertwende. Im Koreakrieg war dieser Zusammenhang noch allen gegenwärtig. Präsident Truman berief den siegreichen General McArthur ab, als dieser versuchte, die militärischen Konsequenzen des Sieges zu ziehen. Doch gab die China-Lobby seitdem keine Ruhe mehr. Man muß sich vor Augen halten, daß die amerikanische Expansion von Europa weg immer nach Westen ging — und China liegt westwärts von Amerika. Es ist ein großer Zug in dieser Geschichte. Der vorgebliche Feldzug gegen den Weltkommunismus hat etwas von den Indianerkriegen. Und der Mann mit dem Texashut, der noch nie überzeugend begründen konnte, warum Amerika schon 16 000 Gefallene und eine Armee von Verwundeten in Vietnam verlieren mußte, überträgt Cowboy-Sitten in die Ausmaße des Atomzeitalters. An ihm, so hat es den Anschein, soll es nicht liegen, daß es keinen Krieg mit China gibt.
Staatsrechtlich müßte der Kongreß den Krieg, der schon geführt wird, erklären. Völkerrechtlich ist er nur schwach gedeckt durch das Recht jeder MAcht, Defensivmaßnahmen zum Schutz ihrer im Ausland befindlichen Truppen zu ergreifen. Ist das, was auf Veranlassung des Präsidenten Johnson in Vietnam geschieht, noch als Schutzmaßnahme zu rechtfertigen? Es ist im Völkerrecht wie sonst auch: Wo kein Kläger ist, ist auch kein Richter, und ein Kläger vor einem internationalen Gericht hat sich noch nicht gefunden.
Satt dessen regt sich überall der Protest, am stärksten in den Vereinigten Staaten. junge Leute haben sich selbst öffentlich verbrannt, um zu protestieren. Das ist ungeheuerlich! — in Deutschland hat sich niemand öffentlich verbrannt, um gegen Hitler zu protestieren, gegen seine Kriegspolitik, gegen seine vielen Morde. Aber in Amerika regt sich das Gewissen öffentlich, und mit den Zweifeln an der Richtigkeit der Politik wächst die Sorge um das Recht. Schon liegen dem Obersten Bundesgericht Fragen nach der Legalität des Krieges vor, aufgeworfen von Soldaten, die den Einsatz in Vietnam verweigerten und deshalb verurteilt wurden. Die Fälle häufen sich, und das Oberste Gericht wird sich einem Urteil nicht mehr lange entziehen können. Bisher haben sich seine Richter geweigert, diese Fälle zur Revisionsverhandlung anzunehmen. „,S ist leider Krieg —“. Der amerikanischen Regierung wäre es lieb, wenn sich das Volk und die Welt mit diesem Satz abfänden. Aber die Welle der proteste zeigt, daß die andere, aufbegehrende Hälfte des Satzes von Claudius, „ — und ich begehre/Nichtschuld daran zu sein“, dazugenommen werden muß, will man den ganzen Menschen haben. Das Erleiden und das Aufbegehren zusammen machen erst die Wirklichkeit aus:
„ S ist leider Krieg — und ich begehre
Nicht schuld daran zu sein!“
Das ist einer der tiefsten Verse unserer Literatur, voll von der Not des kleinen Mannes, der die Welthändel erleidet, und durchdrungen vom Willen, nicht zu den Schuldigen am Elend des Krieges zu gehören. Viel kann er nicht tun, aber etwas kann er doch: er kann sich distanzieren, er kann protestieren und, wenn viele darin einig sind, am Ende doch mehr erreichen als sein eigen Seelenheil zu retten. Darin steckt zweierlei Erfahrung: Erstens, Duldung macht sehr leicht zum Mitschuldigen, und zweitens, Unkenntnis der Gesetze schützt nicht vor Strafe. Eine Lehre aus dem Reich des zivilen Rechtes, das vom Bürger verlangt, gegen Unordnung und Widerrechtlichkeiten aufzubegehren.
Was den amerikanischen Protest angeht, so richtet er sich gegen die eigene Regierung, und die Protestierenden nehmen das Risiko auf sich, das mit solcher Frontstellung verbunden ist. Es ist nicht so groß, wie es im legalen Krieg wäre, weil die Regierung Johnson dadurch, daß sie ohne Kriegserklärung Krieg führt, auch nicht die Gegenmaßnahmen ergreifen kann, die sie im erklärten Krieg gegen Kriegsgegner anwenden könnte.
In Staaten, in denen die Regierungspolitik gegen die amerikanische Invasion in Vietnam gerichtet ist, befinden sich die Protestierenden, ob sie mit ihrer Regierung einverstanden sind oder nicht, auf der selben Linie mit ihr. Dort hat der individuelle Protest nicht das gleiche Gewicht wie in den USA. Doch wäre es ungerecht, an seiner subjektiven Stimmigkeit zu zweifeln, nur weil er mit der Regierungspropaganda zusammenfällt, oder umgekehrt die Bewegung für den Frieden in Vietnam zu unterschätzen, weil ihr auch kommunistische Regierungen zustimmen. Der Protest gegen den Krieg kann sich nicht an das Allerweltsrezept der sogenannten Realpolitiker halten, bei den Kommunisten nur auf den Schaden und bei den Nichtkommunisten nur auf den Nutzen zu sehen. Selbst wenn der Protest gegen die amerikanische Invasion in Vietnam kommunistisch organisiert wäre, was er nicht ist, bliebe doch das Ziel, gegen den er sich richtet, der Krieg, ein Verbrachen und verletzte unser Gewissen. Es ist leicht, den Protest zu diffamieren, doch wird der Kireg dadurch nicht zum Ruhmesblatt.
In Deutschland sind wir in der wenig beneidenswerten Lage, daß im östlichen Teilstaat der Protest mit der Regierungslinie zusammenfällt, und daß der westliche Teilstaat ein Satellit der Johnsonschen Politik ist. In der DDR gibt es deswegen nur offiziellen Protest, in der Bundesrepublik nur den inoffiziellen. Die Aufgabe derjenigen, die begehren, nicht schuld daran zu sein, wäre demnach, ihr Aufbegehren offiziell zu machen, also die eigene Regfierung aufzufordern, sich zu distanzieren. Das geschieht zu wenig. Die deutschen Proteste gegen die amerikanische Invasion in Vietnam haben sich bislang hauptsächlich an die Öffentlichkeit im allgemeinen gerichtet und die direkten Adressaten, die imstande wären, für Deutschland in dieser Sache zu sprechen, Bundestag und Bundesregierung, übersehen. — Ähnlich richteten sich die Demonstranten gegen die persischen Zustände im vergangenen Sommer nicht, was das Nächstliegende gewesen wäre, gegen die Bundesregierung, die den unliebsamen Repräsentanten orientalischer Ausbeutung eingeladen hatte, sondern gegen den Gast persönlich. Der protest kam dadurch von Anfang an in die falsche Kehle. Zu tadeln waren diejenigen namentlich bekannten Personen des eigenen Herrschaftsapparates, die eingeladen hatten, nicht der Schah, der natürlich der Einladung folgte. Ähnlich Vietnam: Mit Sammelklagen gegen „die Amerikaner“ — oder die „kommunistischen Rebellen“ — ist nichts getan. Das Aufbegehren hat in der Demokratie die Chance, eine Stelle zu erreichen, die es in Weltpolitik umsetzen kann; nützt es sie nicht, so hilft es auch nichts.
“,S ist leider Krieg —“ nur dann heraus, wenn er sich an die richtige Adresse wendet. Aufbegehren ist eine Sache des Willens und unterliegt als solche der ethischen Beurteilung, die alles Tun erfaßt. Die amerikanischen SOldaten, die sich weigern, nach Vietnam zu gehen, weil sie die Illegalität des Krieges scheuen, stellen eine moralische Berechtigung in Frage. Sie helfen damit ihren Landsleuten und den Vietnamesen, auf die sie losgelassen werden sollten.
Richtig adressierter Protest ist Hilfe, falsch adressierter bleibt gewöhnblich in der Phrase stecken. Umgekehrt ist die Hilfe, die jeder einzelne durch die caritativen Organisationen den Opfern des Krieges zukommen lassen kann, ei Protest gegen die Führer des Krieges. Hilfe ist Tat gegen die Untat. Protest gegen den Krieg und Hilfe für seine Opfer können verschiedene Wege gehen, aber die Hilfe bleibt der wirkungsvollste Protest.
Zuletzt noch ein Wort darüber, warum Südostasien, der Nahe Osten, Persien, Afrika es sind, die in Europa Protestbewegungen und Hilfsaktionen auslösen. — Die südlichen Völker sind die Armenleute der modernen Industriewelt. Dort spielen sich jetzt die sozialen und nationalen Konflikte ab, die vor zwei Jahrhunderten in Europa ans Licht kamen und das ganze 19. Jahrhundert hindurch Proteste ausgelöst nach nach Hilfe gerufen haben. Ins Gigantische vergrößert steht der Pauperismus heute in Gestalt der südlichen Welt vor den Toren der Industrienationen in West und Ost. Es gibt Zyniker, die meinen, man könnte die Armut durch Krieg verringern. In Wahrheit braucht die Erde Frieden und gegenseitige Hilfe, und je eher die alte Welt das begreift, desto besser ist es für sie!
Wir sind der wachsenden Geschlossenheit der Weltarmut und dem krieg gegenüber 1968 in keiner besseren Situation als Matthias Claudius im Jahr 1779:
„ ,S ist Krieg! ,S ist Krieg!
O Gottes Engel wehre
Und rede du darein!
,S ist leider Krieg — und ich begehre
Nicht schuld daran zu sein!“
(1.2.1968)