„Schreiben war mein Beruf“ – mit dieser lapidaren Feststellung resümierte Harry Pross als Achtzigjähriger die vielen, unterschiedlichen Tätigkeiten seines Lebens. Diese Produktion begann mit journalistischen Texten schon wenige Monate nach dem Ende des Krieges – mit dem eher zufälligen Nachdruck eines
Vortrages in einer Lokalzeitung im November 1945. Mit dem Studium aber wurde daraus sein Hauptberuf („Student und Journalist zu sein, wurde zur aufregenden Sache“, so in den Memoiren) und blieb es – wenn auch zeitweise eher im Nebenberuf – bis zu seinen Texten im St. Galler Tagblatt am Ende des Jahrtausends. Das klassische Volontariat absolvierte er in einer Lokalzeitung in der Pfalz. Was ihn von den meisten seiner Generation – und überhaupt den meisten Journalisten – gründlich unterschied: er produzierte nicht nur Journalismus, sondern reflektierte diesen Beruf kritisch, systematisch – und nicht erst als er eine Professur für Publizistik inne hatte. Neben den vielen schriftlichen Dokumenten, die einer theoriegeleiteten Rekonstruktion durch die Kommunikationswissenschaft wert wären, gibt es eine Reihe Video- und Audiostücke, die sich erhalten haben und hier zur Lektüre bereit gestellt werden.
Ein thematisch breiter Rückblick auf seine Arbeit und sein Denken, aber ganz auf die Gegenwart des Jahres 1988 bezogen, ist ein Radio-Zeitzeugengespräch Moral der Medien. Gespräch mit H.Lamprecht und A.Paffenholz (Radio Bremen, 25.12.1988), zu
dem ihn zwei Kollegen „seines“ Senders Radio Bremen im Allgäu aufsuchen: eine Autobiographie in Kurzform. Noch einmal bringt Harry Pross seine in Jahrzehnten entwickelte „Ökonomie der Signale“ kritisch auf den Begriff: benennt kühl die industriellen Bedingungen für die Entstehung von Journalismus, gibt der Spiegelaffäre ihren Stellenwert, ordnet sein Buch „Protestgesellschaft“ (1992) ein in die Kommunikationsgeschichte, preist die Wirkungen des öffentlichen Rundfunks und lässt über das ganze Gespräch keinen Zweifel an seiner lebenslang praktizierten Ethik der Unabhängigkeit, der Distanz zu den Mächtigen, der Anstößigkeit, seinem Freisinn und seiner Abneigung gegen eine Unterhaltungsindustrie, die für politische Sedierung der Gesellschaft sorgt.
Sechs Jahre später bietet Radio Bremen wieder zum Gespräch, diesmal für das Fernsehen; bei aller Skepsis im Bezug auf dieses Medium, die Harry Pross oft genug notiert hat – als Dokument ist eine solche Sendung aus dem Alltag des Betriebes von einzigartigem Erinnerungswert. Welch ein Kopf, welche Sichtbarkeit des Denkens, welches Pathos der Rede bleiben hier
aufbewahrt! Der äußere Anlass war das Erscheinen seiner Memoiren, aber auch jetzt redet er als Zeitgenosse und bekennt sich trotz seines hohen Alters nicht zur Weisheit, sondern zum Streit, zum Zweifel, zum unaufhörlichen Fragen und beklagt in der Rückschau, dass der Journalismus dem ideologischen Pathos des Kalten Krieges nicht (mehr) widerstanden hat. Seine Sensibilität für die Verstümmelungen der journalistischen Professionalität ist hellwach geblieben.
Einer Konstellation der besonderen, zeitbedingten Art ist der Mitschnitt der Rede zum 65. Geburtstag eines Kollegen, Helmut Cron(1899 – 1981) zu verdanken, der zwei Jahre später verstarb. In einem Nachruf für die ZEIT schrieb Harry Pross: „Der deutsche Journalismus hat mit Helmut Cron einen seiner großen alten Männer verloren.“ (9.10.1981) Ein gewichtiger Grund zu dieser Einschätzung war gewiss, dass Cron nach dem Krieg 1949 zum ersten Vorsitzenden des Deutschen Journalistenverbandes gewählt
wurde und es bis 1953 blieb. So war es eine Gunst dieser feierlichen Stunde in Stuttgart, dass wir hier entlang des Lebens, der Karriere und der Arbeit eines Journalisten aus der Generation des Wiederaufbaus ebenso höchst persönlich wie lebendig nachhören können, was inzwischen gründlicher Gegenstand kommunikationshistorischer Forschung geworden ist (z.B. Christina von Hodenberg: Konsens und Krise. Eine Geschichte den westdeutschen Medienöffentlichkeit 1945 – 1973, 2006). Einig sind sich der Jubilar und der Laudator in ihrer skeptischen Sicht: eine freie Presse und ein unabhängiger Journalismus bleiben unwahrscheinliche und stets zu verteidigende Bedingungen demokratischer Gesellschaften.
Nicht ohne Nostalgie wird man heute den Titel der Rede lesen, die Harry Pross vor den Journalistenschülern gehalten hat, die 1987 erfolgreich die Journalistenschule St. Gallen verließen: Die Macht der Feder! Wie lange uns solche Metaphern begleiten und
nicht verlassen wollen… Und auch der Redner, der von sich an anderer Stelle einmal sagt: „Schulmeister, der ich bin“, breitet vor den jungen Leuten, denen der Labtop ja mehr bedeutet als die Feder, keine Nostalgie aus. Im Gegenteil: in aphoristischer Kürze konfrontiert er sie mit den Kernbeständen einer Ethik des Journalismus. Hier muss eine weitere Rekonstruktion seiner heutigen KollegInnen beginnen: auch mehr als vier Jahrzehnte nach seinem Buch „Moral der Massenmedien“ (1967) bewegte ihn das Thema, in seinem reichen Werk verstreut. Denn das ist heute so ziemlich Allgemeingut: „Unser Beruf war nie so verantwortungsbeladen wie heute…“
Acht Jahre später schaffen die Kollegen des Diplomstudienganges an der katholischen Universität in Eichstätt nochmals eine ähnliche Gelegenheit zu einer nicht Vorlesung, sondern „Rede“ vor Studentinnen und Studenten, die auf dem Wege in den journalistischen Beruf sind, diesmal thematisch ganz dezidiert zur Journalistischen Ethik. Gedankendicht, wissens- und bildungsgesättigt konfrontiert Harry Pross sein Publikum mit den folgenreichen
Untiefen dieser gesellschaftlich gebotenen Charakterqualitäten (einen Ausdruck, den er von seinem Lehrer Alfred Weber übernimmt). Wieder taucht Helmut Cron auf, der mit seiner berufsständischen Überzeugungsarbeit die Grundlagen für einen Pressekodex schuf. Obwohl Pross eingangs seiner Rede einer historischen Vorgehensweise eine Absage erteilt, um mit seinem immer noch virulenten Ehrgeiz des Journalisten, Neues zu formulieren, ist sein Text doch ein wiederholte Beleg für die Leidenschaft, mit der gerade auch Historiker des Journalismus und der Medien ist. Schon die umfangreiche Dokumentation „Literatur und Politik“ zu Geschichte und Programm politischer literarischer Zeitschriften von 1963, dann die Porträtsammlung „Söhne der Kassandra“ und schließlich das „Spätwerk“ (2000) „Zeitungsreport. Deutsche Presse im 20. Jahrhundert“, zeugen davon. Er hatte seinen „Kanon“ des Journalismus und wollte den Jungen vermitteln, dass solches Traditionsbewusstsein auch zur Berufsmoral gehört.
Eine wunderbare Ergänzung zu diesen Texten, Bildern und Reden von Harry Pross ist ein Text des unvergleichlichen
Kollegen, Stilisten und Redners Hans Abich (1918 – 2003) über die offensichtlich glanzvollen Bremer Jahre. Abichs Biographie vereint alles, was man in dieser Branche sein konnte: Filmproduzent, Intendant, Programmdirektor, Rundfunkpolitiker und – neben vielen anderen Verdiensten – Inspirator und Förderer des Fernsehspiels. Und wenn wir bei ihm nun die folgenden Sätze lesen, so bedeutet das eine Beglaubigung dessen, was Harry Pross selbst immer postulierte, die man nicht hoch genug bewerten kann: „Harry Pross’ Wirken in Bremen fiel in die Zeit, in der die Notstandsgesetze überall im Lande heftig diskutiert wurden. Sie waren ihm gewiß zuwider, aber er sorgte dafür, daß vorbildlich recherchiert, informiert und kommentiert wurde. Es galt ihm abwägend aufzuklären, den Zuhörern das Für und Wider deutlich zu machen, selbstkritische Aufmerksamkeit von Experten und Praktikern der Politik und des Rechts zu erlangen.“