»Fromme Gesänge von Theobald Tiger. Mit einer Vorrede von Ignaz Wrobel. Erstes bis sechstes Tausend. 1919 Felix Lehmann Verlag, GmbH, Charlottenburg 2.« Ich bekam das Broschürchen 1936 in die Hand. Es fiel aus einem Stapel alter Zeitschriften, die ich durchstöberte, Maximilian Hardens Zukunft . Ich war im 13. Lebensjahr und in dem Alter, in dem man anfängt, sich selber zu betrachten wie die Dinge, die man sammelt. Ich wußte nicht, daß Theobald Tiger und Ignaz Wrobel identisch waren und auf den bürgerlichen Namen Kurt Tucholsky hörten, wußte überhaupt nichts von Tucholsky; aber die Frommen Gesänge blieben mir, weil sie dem »großen Geschehen« der Zeit zuwiderliefen. Am 7. März 1936, einem Samstag, hatten wir in Karlsruhe »die Feldgrauen« bejubelt, die einrückten, um »die volle Souveränität des Deutschen Reiches« wiederherzustellen, wie man uns sagte. Wir glaubten es und fanden es richtig und fühlten uns souverän. Die »Maginotlinie« war nahe, zehn Luftkilometer von der Stadt. Der Vater erzählte von Verdun. Ernst Jünger hatte darüber geschrieben. Frankreich schien bedrohlich. Jetzt dies:
»Der neue Wert, die neue Stufenleiter, der oben und der unten – seltsam Spiel:
Hier gilt die Faust, der Säbel und der Reiter – –
das, was wir ehren, gilt nicht viel.
Muß das so sein? So darfs nicht bis zur Neige,
nicht bis zum Ende gehn. Wir bleiben rein.
Wir halten durch — es scheint mir gar nicht feige:
Soldat und doch ein Bürger sein!
Sprecht euerm Jungen von der Kriegertugend,
doch davon auch, wenn hart der Panzer klirrt:
Daß er den Träumen seiner Jugend
soll Achtung tragen, wenn er Mann sein wird.«
Ich verstand ihn nicht, diesen Theobald Tiger. Waren nicht »die Faust, der Säbel und der Reiter« das zu Ehrende? und träumten wir von anderem als von der Kriegertugend? »Der Bizeps steigt. Der Kluge ist der Schwache, nur Macht ist Recht, die Mannessehne schwillt —« Was war dagegen einzuwenden? Wir wurden zum Sterben erzogen…
Was der lesende Knabe 1936 nicht verstanden hatte, begriff der Jüngling ein paar Jahre später. Die Frommen Gesänge waren zuerst 1913-1919 in Siegfried Jacobsohns Weltbühne erschienen. Ihm verdankte Tucholsky das meiste:
»Tag ohne Kampf – das war kein guter Tag. Du hast’s gewagt.
Was jeder fühlt, was keiner sagen mag: du hast’s gesagt.«
Aus dem Zweiten Weltkrieg entlassen, las ich Tucholsky mit anderen Augen. Es schien mir, daß seine Erfahrungen nicht so verschieden seien von den meinen. War es nicht so, daß den Frieden preisen muß, wer den Krieg überlebt? Daß aber nicht hören, nicht sehen, nicht begreifen kann, wer nicht weiß, daß vom Kriegselend gesprochen wird, wenn von den Tugenden des Friedens die Rede ist?
Kurt Tucholsky hat versucht, tauben Ohren den Frieden zu predigen, und dem verstockten Volk mit Bänkelliedern die Herzen zu öffnen. »Na und -?« Ein Schriftsteller kann mancherlei für den Frieden tun: er kann die großen Dialoge wiederholen, die seit Jahrtausenden zu diesem Thema gesprochen werden; er kann die menschliche Komödie beschwören; er kann den dramatischen Stoff der Menschenseele immer anders formen, und es wird allemal das gleiche Ende mit ihm nehmen. Er wird auf verstockte Herzen, auf blinde Augen, auf taube Ohren stoßen, und er wird mit allem, was er schreibt und redet, keinen erreichen, hat er nicht die Verfassung seines Publikums schon in sein Schreiben hineingenommen.
Tucholsky gab sich berlinisch, wie man die Mischung aus Arroganz und Subalternität nannte, die den Umgangston der Reichshauptstadt bestimmte. Er blieb, auch als er nach Paris zog und später ins schwedische Exil, ein Berliner Autor, wie Karl Valentin ein Münchner. Ihn beschäftigte die »Fortdauer seiner wilhelminischen Gesinnung, die zwar die Zierate des Gardehelmes abgelegt hat, aber in karger neuer Sachlichkeit brutal und kalt Schweinereien verüben läßt, schlimmer als unter dem Seligen…« So 1929 an Herbert Ihering.
Diese berlinische Pose, der Verfassung des Publikums der 20er Jahre entsprechend, war nach 1945 nicht mehr nachvollziehbar. Und es sprach, wie mir vorkam, eher gegen Tucholsky als für ihn, daß sentimentale Verse wie Mutters Hände das Wirtschaftswunder schmückten. Hat er damit etwas für den Frieden getan? Nicht eher mit dem Pyrenäenbuch, das anfängt: »Geographie hatten wir beim roten Gierke. Der Mann war ein Lehrbeamter mit vielen kleinen Äderchen im Gesicht, die ihm ein kupferrotes Aussehen gaben;…?«
Stand nicht Ossietzkys karge Sachlichkeit der Sache des Friedens angemessener als Tucholskys Sentimentalität? Im zitierten Brief an den Kritiker seines Deutschlandbuches, Herbert Ihering, schrieb Tucholsky, er vermisse bei jenem »Gefühl für Blut und Tränen. Hören Sie das nicht? Hören Sie nicht den unterirdischen Schrei, der oft keinen künstlerischen Ausdruck findet und den man mit allen raffinierten Mitteln unterdrückt, wo man nur kann? Im Rundfunk dürfen wir nicht, in der Presse sollen wir nicht, im Kino können wir nicht bleibt das Buch. Immer, wenn ich schreibe, denke ich an das Leid der Anonymen, an den Proletarier, den Angestellten, den Arbeiter, an ein Leid, von dem ich durch Stichproben weiß… und ich will lieber den Vorwurf auf mir sitzen lassen, künstlerisch nicht befriedigt oder aus Empörung über das Ziel hinausgeschossen zu haben, als ein Indolenter zu sein…«
Hier offenbart Tucholsky seine Schwäche. Ein Schriftsteller, der schreibt, soll an nichts anderes denken, sonst wird nichts draus. Unterirdische Schreie lenken ab. Das ist das mindeste, was man von ihnen sagen kann, und abgelenktes Schreiben taugt nicht viel. Vollends ist das Leid, von dem man »durch Stichproben weiß«, nicht das eigene. Das eigene Leid Tucholskys und jedes Schriftstellers ist, wie er sagt, im Rundfunk nicht zu dürfen, in der Presse nicht zu sollen, im Kino nicht zu können; aber im Buch zu müssen …
Was Tucholsky für den Frieden getan hat – so scheint mir heute, nach bald vierzig Jahren Umgang mit seinen Büchern -, hat er nicht aus seinem »Gefühl für Blut und Tränen« getan, sondern in den klaren, sachlichen Feststellungen, die er diesem Gefühl zum Trotz getroffen hat. Indolenz heißt nicht nur Gefühlsarmut, Indolenz kann auch Gefühlsüberschwang sein. Wir sehen es heute an Leuten, die sich einbilden, proletarisches Bewußtsein zu entwickeln, wenn sie auf jeder Seite dreimal »Scheiße« schreiben. Tucholsky hätte das alte deutsche Wort »nebbisch« für sie; aber er selber?
Die Frommen Gesänge hat Tucholsky dem griechischen Philosophen und Satiriker Lukianos gewidmet:
»… Du sprichst beschwingt, graziös und eilig
durch euern kleinen Erdenrund — und Gottseidank:
nichts war dir heilig,
du frecher Hund!«
Ein »frecher Hund« wollte Tucholsky sein, kein Indolenter. Aber er war kein Hellene. Er war vom Stamme der Propheten. Er schrieb gegen die Indolenz, wie Jesaia und Elias. Er durchschaute die Eitelkeiten der nationalen Politik wie Hosea, und er warnte, wie Jesaia gewarnt hatte: »Weh denen, die sich auf Rosse verlassen und auf Streitwagen hoffen, daß derselbigen viele sind, und auf Reiter, darum, daß sie sehr stark sind.« Und wie die Propheten des Alten Testaments, zog er den Zorn der Mächtigen auf sich und mußte fliehen.
Die letzten Briefe des Kranken vor dem selbstgewählten Tod im Dezember 1935, gleichen der Jeremiade. Tucholsky war 1911 »aus dem Laden«, wie er das Judentum nannte, ausgetreten. Der Abschiedsbrief an den Bruder ist voller Verachtung für die deutsche Linke und die deutschen Juden, die er mit erbarmungsloser Schroffheit für ihre Halbheiten straft. Auch dieses Ende des Schriftstellers Kurt Tucholsky liegt in der prophetischen Tradition, wie wohl alles, was heute schreibend und redend für den Frieden getan wird, dort seine Vorgeschichte hat: Das Verlangen nach dem einigen Menschen in der einigen Menschheit, das Streben nach sozialer Gerechtigkeit und die Kritik an allem, was den Weg zur Freude, zur Ruhe und Sicherheit verstellt.