Am 11. Mai 1919 stellte der Chefredakteur des Londoner »Observer«, James Louis Garvin, dem Vertrag von Versailles eine vernichtende Prognose: »Von dem im Vertrag enthaltenen Status des Völkerbundes abgesehen, streut der sogenannte Frieden eine Saat von Drachenzähnen über Europa aus. Sie wird in Gestalt von Kriegen aufgehen, wenn das Unheil nicht durch bessere Bemühungen beseitigt wird. Der ganze vielgerühmte Realismus der Friedensbedingungen wird sich als künstlich, unhaltbar und hoffnungslos herausstellen. Denn die Forderungen sind entweder amoralisch oder unmoralisch. Für die Zivilisation besteht jetzt nur noch die eine Hoffnung: der Ausbau des Völkerbundes durch die Demokratien der Welt. Sonst währt der Vertrag, der optimistischerweise auf fünfzehn oder dreißig Jahre berechnet wurde, keine fünf. […] Keinesfalls aber werden die englischsprachigen Demokratien für die jetzt vorgeschlagenen Lösungen in einen neuen Krieg ziehen. Hegt man in Paris andere Erwartungen, so dürfte man sich gründlich getäuscht haben. Man muß mit den Völkern und nicht mit den
Politikern rechnen. […] Dieses Machwerk ist ohne Zukunft. Entweder wird es in wenigen Jahren durch die einmütige Zustimmung aller Beteiligten geändert, oder ein noch verheerenderes Schicksal wird über uns hereinbrechen.«
Garvin war kein Pazifist. Er hatte für die Aufrüstung gegen Deutschland geschrieben, 1914 die Kriegserklärung gefordert, und dann den besten Frieden nach dem schlimmsten Krieg gewollt, eine Zeitenwende für die Völker nach dem Debakel der Kabinettspolitik.
Garvins Begeisterung für Wilsons Völkerbund und der Abscheu vor dem Vertragswerk gehörten zusammen. Eine nur auf militärischer Macht basierende Friedensordnung widersprach dem gesunden Menschenverstand. Den Deutschen bliebe keine andere Hoffnung als Revanche. Sie würden alles daran setzen, sich mit Rußland zu verbünden, »eine günstige Gelegenheit abpassen«, denn der Vertrag verknüpfe Deutschland und Rußland durch ein Band gemeinsamer Interessen »ganz besonders im Hinblick auf die zwischen ihnen gelegenen neugeschaffenen Staaten«. Man habe aus dem Krieg lernen müssen, wie »leicht ein wissenschaftlich und industriell hochstehen des Volk Waffen und Heere im Notfall aus dem Boden stampfen kann.«
Zwanzig Jahre später, im Frühjahr 1939, war die Saat von Drachenzähnen allen sichtbar. Garvins Prognose erfüllte sich. Noch fehlte das offene Bündnis Hitlers mit Stalin; aber er hatte, fünfzigjährig, den Rubikon überschritten, maßlos nach seinem Triumph im heimatlichen Wien, ein Jahr zuvor, und die mangelnde Kriegsbereitschaft der Demokratien zu seinen »Vertragsrevisionen« nutzend.
Alles fing von vorne an. Die Akteure waren weiterhin die gleichen: sozialisiert im auslaufenden 19. Jahrhundert, demoralisiert durch die Unmenschlichkeit der Materialschlachten 1914-1918, desillusioniert durch die Fehlleistungen des in zwanzig Jahren verspielten Friedens. Keiner, schrieb Schwarzschild zum »Anschluß« 1938, der nicht »seinen Beitrag zum Verhängnis hinzuaddiert hätte«. Auf wen sollten die Völker noch hoffen?
Als Scheitelpunkt der aufsteigenden und dann abfallenden Kurve gilt für gewöhnlich ein amerikanisches Ereignis, der Börsenkrach in der New Yorker Wall Street im Oktober 1929 als Symbol der Weltwirtschaftskrise. Sie erschütterte Europas wirtschaftliche Grundlagen, noch ehe der Kontinent sich vom großen Aderlaß erholt hatte.
Man hat deshalb die zeitlich auf die Wirtschaftskrise folgenden Ereignisse auf die ökonomischen Ursachen zurückgeführt und das Elend der Millionen von Arbeitslosen für das Aufkommen des Faschismus verantwortlich gemacht. Die wirtschaftlichen Strukturen sind jedoch nur ein Faktor in fortschreitenden Wechselwirkungen mit der Religionsstruktur etwa, dem Stand der wissenschaftlichtechnischen Zivilisation, der Fähigkeit oder Unfähigkeit des positiven Rechts, Gerechtigkeit zu realisieren, nicht zuletzt der raschen Entwicklung neuer Kommuniskationsmedien.
Unter diesem Aspekt ergeben sich dann in den europäischen Regionen um 1930 mit ihren Bevölkerungsunterschieden auch unterschiedliche Reaktionen auf gleiche Ursachen und konträre Begründungen zu gleichen Forderungen. Sie lassen sich nur mit erheblichen Einschränkungen auf einen gemeinsamen Nenner bringen wie »Weltwirtschaftskrise« oder »Faschismus«, »Revanchismus« usw. Das gilt für die »Pariser Vorortsverträge« (Versailles, Saint-Germain, Trianon, Neuilly und Sevres) als vertragliche Friedenskonstrukte ebenso wie für die deutsch-sowjetische Annäherung in »Rapallo« und den Komplex der »Locarno-Politik«, der vom Jahre 1926 an ein europäisches Sicherheitssystem -begründen sollte.
Die Namen sind Symbole: das, was sie benennen, sind aber Sachverhalte, soziale Beziehungen, Personen, Dinge, die wiederum Namen haben, die ihrerseits mit unterschiedlichen Wertvorstellungen verbunden sind.
Die Verträge von Locarno verpflichteten die Unterzeichner England, Frankreich, Italien, Deutschland, Belgien, Polen Frieden zu bewahren, aber in unterschiedlicher Weise. Die Ratifizierung des Vertragswerkes in London am 1. Dezember 1925 garantierte die aus Versailles begründeten Grenzen in Westeuropa. Deutschland, Frankreich und Belgien vereinbarten, daß sie einander nicht mehr angreifen würden oder Krieg fuhren, außer in legitimer Verteidigung oder in Ausführung einer Völkerbundsverpflichtung.
Im Falle eines Vertragsbruchs hatten die Signatarmächte demjenigen zu Hilfe zu kommen, den der Völkerbund als Angegriffenen bezeichnete. England garantierte darüber hinaus die Grenzen von Belgien und Frankreich, aber nicht diejenigen der Tschechoslowakei und Polens. Frankreich schloß Beistandsverträge im Falle unprovo-
zierter Angriffe mit Polen und der Tschechoslowakei. Deutschland verpflichtete sich zum Gewaltverzicht im Westen und versprach, die Grenzfragen im Osten durch Verhandlungen zu regeln. Es erklärte, sich dem Schiedsspruch des Völkerbundes zu unterwerfen, dem es beitrat.
Die Differenzierung der, wie man heute sagen würde, »vertrauensbildenden Maßnahmen« im Pakt von Locarno hinsichtlich der deutschen West- und Ostgrenzen sollte in den folgenden Jahren ihre eigene Dynamik entwickeln. Im Westen wurden die Gebietsstreitigkeiten beseitigt, die Rückkehr der Saar ins Reich möglich, die noch von den Franzosen besetzten Rheinzonen sollten in absehbarer Frist frei werden. Die 1919 verpaßte Politik der Verständigung zwischen Frankreich und Deutschland kam in Gang. Die Leistungen der Außenminister Aristide Briand und Gustav Stresemann ehrte der Friedens-Nobelpreis von 1926. Die Atmosphäre reinigte sich.
Wäre diese Politik gleich 1919 betrieben worden, kommentierte der alte Maximilian Harden, hätte sie Deutschland »eine See von Plagen« und die Verarmung seiner Mittelschicht erspart. Großbritannien freilich sei der Hauptgewinner. Es habe die Verträge Bismarcks »Rückversicherungsvertrag« nachgebildet und gewinne die
»Vormundsrechte« über den Kontinent zurück, die es zwischen Napoleons Sturz und der wilhelminischen Flottenpolitik innehatte: »… viel mehr europäische Macht und viel kleineres Pflichtgepäck, als ihm das Statut des Völkerbundes zuwies, dessen Gliedern, großen und kleinen Staaten, gleiches Recht zugesichert sein sollte« (Das Tage-Buch, Berlin, 30. Januar 1926).
Tatsächlich konnten die Abmachungen der europäischen Mächte unter dem Vorsitz Großbritanniens sowohl als Bestätigung der Völkerbund-Charta wie auch als Rückkehr zur Kabinettspolitik interpretiert werden. Die Völkerbundssatzung sah die Gleichheit aller Staaten vor. Sie verpflichtete alle Mitglieder zur Solidarität mit jedem Angegriffenen, ob Mitglied oder nicht. So gesehen, war die Differenzierung der Locarno-Verträge als ein Schritt zurück zu bewerten. Wurde da nicht aus dem Völkerbundsprogramm ein wichtiger Grundsatz revidiert?
Andererseits konnten die Locarno-Verträge als Verwirklichung eben dieser Grundsätze gelten, wenn man realistischer Weise nicht annahm, jeder würde jedem zu Hilfe eilen, wie es die Völkerbund-Charta vorsah. Ein kleiner Schritt zum Schutz des Völkerfriedens in seiner größten Krisenregion war immer noch besser als gar keiner.
Dies, zumal weder die USA das Ideenwerk ihres Präsidenten Wilson aktiv im Völkerbund unterstützten noch das neue revolutionäre Rußland beigetreten war. Auch darf man vom deutschen Wort »Völkerbund« den gefühligen Beiklang von »Völker« und vor allem von »Bund« abstreichen. Im englischen »League of Nations« und im französischen »Societé des Nations« fehlt dieser mystische Akzent, der auch heute noch in den Bezeichnungen Atlantische bzw. Europäische »Gemeinschaft« mitschwingt. Der Pazifist F. W. Foerster erkannte wie wenige, daß der Weg von Berlin nach Paris über Genf gehen und die französische Garantie für Polen respektieren müsse. Damit kam er aber bei der ostelbisch gestimmten deutschnationalen Tradition der Republik sieben Jahre nach Kriegsende schlecht an. Schließlich war, wenn auch im zweiten Wahlgang und mit geringem Vorsprung, der Held von Tannenberg 1914, Generalfeldmarschall von Hindenburg, 1925 zum Reichspräsidenten gewählt worden.
Während die französischen Vorstellungen sich vorsichtig zum Europäismus weiteten, begannen die deutschen bald nach Locarno und dem Eintritt in die Liga der Nationen sich wieder zu verengen. Großbritannien sollte an seiner Schiedsrichterrolle wenig Freude haben. Die deutschen Streiter für die Verständigung mit den europäischen Nachbarn machten sich vor der Rechten, die bald die Mehrheit der Wähler erfassen sollte, mit ihren Warnungen jenes unsühnbaren Verbrechens schuldig, von dem Harden im zitierten Aufsatz (»Wird Europa mündig?«, 30. 1 1926) geschrieben hatte: »Jedes (Verbrechen) verjährt, nur nie das, ›Recht zu behalten‹.«
Im diplomatischen Bereich waren nach Locarno vor allem die osteuropäischen Verhältnisse problematisch. Dort lag die Konkursmasse der österreichischen, russischen und deutschen Kaiserreiche mit neuen Grenzen und neuen Souveränitäten, aber mit vielen Widersprüchen, die sich aus dem proklamierten Selbstbestimmungsrecht und den ethnographischen Verhältnissen ergaben.
Die aus dem russischen Reich herausgelösten baltischen Staaten, die von England für unzweckmäßig gehaltene Einrichtung eines polnischen Korridors zur Ostsee mit der Völkerbundsverwaltung für Danzig und der Isolierung Ostpreußens, die Einbeziehung nichtpolnischer Bevölkerungsteile in das wiedererstandene Polen; das strittige Memelgebiet; die tschechoslowakische Republik, uneins zwischen Tschechen und Slowaken, einer polnischen Minorität und vor allem aber den Deutschböhmen; ein Restösterreich, dem man 1919 — gegen das Selbstbestimmungsrecht — den Anschluß an das Deutsche Reich verboten hatte und das überdies mit Italien wegen Südtirol und mit dem Vielvölkerstaat Jugoslawien wegen Kärnten und Slowenien stritt; schließlich Ungarn, das auf ein Drittel seines Territoriums reduziert worden war — alles in allem war da ein Unruheherd entstanden, nicht unähnlich dem, den die Grenzziehungen und Neugründungen in Afrika und Asien nach dem Ende der Kolonialzeit geschaffen haben.
Im politischen Alltag mußte das Selbstbestimmungsrecht, als Friedensgarantie konzipiert, zur Ideologie des machtpolitischen Re-
visionismus werden, so wie es Garvin vorausgesehen hatte. Präsident Wilson hatte 1919 geglaubt, die Massen jubelten ihm zu als Symbol des Neuen Europa. »Es war sein am meisten irreführender Wahn«, korrigierte ein Augenzeuge, der britische Diplomat Harold Nicolson (»Friedensmacher 1919«), »sie jubelten ihm zu als dem Symbol des eigenen Sieges.«
Sieben Jahre später erregten weder die Gemeinsamkeit der fünfzig Staaten aus fünf Kontinenten, die der Liga der Nationen angehörten, noch das »Neue Europa« die Begeisterung der Völker, sondern die konträren Interessen, das Ersiegte zu behalten und das Verlorene zurückzugewinnen.
Wenn es um die praktische Alternative von Herrschaftserhalt oder -wandel geht, bleiben allemal die hohen Grundsätze auf der Strecke, und die niederen Gegensätze geben den Ausschlag. Die bewaffnete Macht soll dann die Ordnung garantieren. Im neuen Polen bestimmte durch Staatsstreich Marschall Pilsudski seit 1926 bis 1935 die politische Willensbildung, ähnlich seit 1920 der Admiral Horthy in Ungarn als »Reichsverweser«. In Griechenland gelang dem General Pangalos eine kurzfristige Militärdiktatur und in Portugal dem General Carmona eine dauerhafte, die Antonio Salazar 1932 bis 1970 fortsetzen konnte. Pilsudski hatte 1920 das »Wunder
an der Weichsel« vollbracht, indem er die Bolschewisten beim Anmarsch auf Warschau schlug. Seitdem galt er den Polen soviel wie den Wienern ihr Prinz Eugen von Savoyen, der sie vor den Türken bewahrt hatte. Ein lebendes Denkmal, wie der deutsche Reichspräsident von Hindenburg. Dessen Sieg über die Russen 1914 wurde 1927 mit der Eröffnung des Tannenberg-Denkmals in die gehörige historische Beziehung zum Deutschen Ritter-Orden 1410 gerückt. Wenig später schafften die Italiener die Kommunal- und Provinzwahlen ab, hoben die Verantwortung des Parlaments auf und machten Benito Mussolini, einen der Mitunterzeichner des Locarno-Paktes, der seit seinem Staatsstreich vom 5. Januar 1925 mit diktatorischen Vollmachten regierte, zum »Duce del Fascismo«.
Für die Sowjetunion war der Völkerbund ein kapitalistisches Instrument, um die Weltrevolution aufzuhalten. Der Beitritt des Deutschen Reiches und der Gewinn eines Sitzes im Ständigen Rat mußten die Russen an seiner Bündnistreue zweifeln lassen. Die dem Völkerbundsmitglied auferlegten Hilfs- und Beistandsverpflichtungen widersprachen der Neutralitätsverpflichtung im deutsch-sowjetischen Verhältnis und waren überhaupt ein Schlag gegen die Idee,
das Verhältnis beider Staaten in ihrer europäischen Politik obenan zu stellen und die beiderseitigen Verluste an Polen zu revidieren.
Die prosowjetische Diplomatie hatte im Auswärtigen Amt mit dem Grafen Ulrich v. Brockdorff-Rantzau und im Chef der Heeresleitung, v. Seeckt, entschiedene Befürworter. Letzterer mußte 1926 den Hut nehmen, weil er einen Kaiserenkel zu Manövern der Reichswehr eingeladen hatte, ohne die Regierung zu fragen. Er blieb aber weiterhin einflußreich, ähnlich wie Graf Brockdorff. Der hatte als Reichsaußenminister bei der Entgegennahme der Friedensbedingungen am 7. Mai 1919 Clemenceau geantwortet, nur wenn sich die Tore des Völkerbundes allen Nationen guten Willens öffneten, seien die Toten den Krieges nicht umsonst gestorben. 1926 sah er als Botschafter in Moskau durch den deutschen Völkerbundsbeitritt und Locarno das Verhältnis zu Rußland grundlegend und für immer verändert. Stresemanns Kurs habe das wichtigste Druckmittel gegenüber den Westmächten, das befürchtete Zusammengehen mit Rußland, aufgegeben.
Dem war nicht so. Ein deutsch-sowjetischer, der Berliner Vertrag vom 24. April 1926, bestätigte im wesentlichen den sowjetisch-deutschen Pakt von Rapallo (1922) und damit die sowjetischen Mitteleuropa-Interessen, ohne die deutsche Loyalität im Völkerbund ernsthaft in Frage zu stellen. Deutschland hielt sich die osteuropäischen Entscheidungen offen, ohne die Verbesserung seiner Lage in der Westpolitik zu gefährden. In Genf sagte der sowjetische Diplomat Maxim Litwinow am 24. April 1926: »Wir haben den Verträgen von Locarno den ärgsten Giftzahn ausgebrochen.«
Unter der Oberfläche ging es freilich nicht nur um eine formale Friedensordnung. Wirtschaftliche und militärische Zusammenarbeit mit dem Deutschen Reich war für Stalins Programm, den »Sozialismus in einem Lande« zu verwirklichen, nützlich. Auf deutscher Seite hatte der preußische General v. Seeckt, »das Genie mit dem Monokel«, dafür gesorgt, daß der geheimen Wiederaufrüstung der auf 100.000 Mann beschränkten Reichswehr die Unterstützung der Roten Armee zugute kam. Der englische »Manchester Guardian« enthüllte im Dezember 1926 den Gang der Dinge.
Die deutsch-sowjetische Rüstungsdiplomatie sollte ein Ärgernis der Friedensfreunde bleiben, obwohl die Flugzeugproduktion der Junkerswerke in der Sowjetunion und die dortige Giftgasproduktion der ebenfalls deutschen Firma Stolzenberg aus diplomatischen Gründen zunächst gestoppt wurden. »Wir liegen mit Sowjetrußland im Kampf um die Seele Deutschlands«, schrieb der britische Außemninister Austen Chamberlain im Mai 1927 an seinen französischen Kollegen, Aristide Briand, um ihn bei den schwieriger werdenden Beziehungen zur Sowjetunion in seiner Position zu stärken, Deutschland an den Westen zu binden.
England, die USA und Deutschland konkurrierten um den sowjetischen Markt. Die exportorientierte deutsche Industrie brauchte staatliche Hilfe, Ausfallbürgschaften, Kredite und vor allem Kontinuität in den politischen Beziehungen, die langfristige Geschäfte ermöglichen sollten. Dies aber nicht nur mit der Sowjetunion, sondern weltweit, wo moderne Technik, wie im Maschinen- und Flugzeugbau, bei U-Booten, Eisenbahnen, Waffen, Elektrizität und Chemie gefragt war.
Die Berliner Außenpolitik mußte darauf achten, die Rivalitäten des Vorkriegs weder wirtschaftlich noch machtpolitisch zu erneuern. Zehn Jahre nach der Niederlage war das Deutsche Reich ökonomisch in der Rekonstruktion. Sein politisches Prestige nahm zu: aber Prestige ist nicht Macht, wie Alfred Adler definiert hat, sondern nur Anschein, das »Brot des Neurotikers«.
Man könnte die europäischen Entwicklungen und Verwicklungen der späteren zwanziger Jahre auch als Versuche betrachten, verlorenes Prestige zurück zu gewinnen. Das abrupte Ende des »europäischen Konzerts« der fünf Großmächte 1914 hatte das Prestige-Bedürfnis der Mitspielenden eher noch gesteigert. Die neue Partitur, die der Amerikaner Wilson vorgelegt hatte, wurde von den Europäern sogleich europäisch interpretiert, und, als sie sich dafür nicht so recht eignete, durch regionale Sätze im alten Stil ergänzt. Sogar die hundert Jahre zurückliegende »Heilige Allianz« der inzwischen abgesetzten Monarchien von Österreich, Rußland und Preußen mußte als Vorbild herhalten. Sie ging in Pan-Europa-Vorstellungen über, die so modern nicht waren, wie sie vorgaben zu sein.
Die Völkerbundssatzung, das Genfer Protokoll von 1924, das den Angriffskrieg zum internationalen Verbrechen erklärte, und der Locarno-Vertrag von 1925, der ein Verfahren zur friedlichen Streitrege lung vorsah, können als Kompromisse zwischen globalen Zielsetzungen und europäischer Machtpolitik gelten.
Ein weiteres Beispiel ist der Briand-Kellogg-Pakt. Das Ungenügen an den europäischen Fortschritten veranlaßte Aristide Briand im April 1927, eine Botschaft an das amerikanische Volk zu richten, in der er vorschlug, Amerikaner und Franzosen sollten der Welt ein Beispiel geben und den Krieg ächten. Das war eine alte Forderung der Friedensbewegungen. Sie krankte daran, daß dazu Gesetze notwendig sind, die ihrerseits als positives Recht eine übergeordnete Instanz brauchen, die dieses Recht exekutiert und Folgsamkeit erzwingt. Gerade daran arbeiteten ja die Völkerrechtler schon seit J. C. Bluntschli (1879), aber mit bescheidenem Erfolg.
Briand wünschte folgerichtig, nicht nur den Krieg zu ächten, sondern auch das Recht der Sanktionen, das Selbsthilferecht und die Fälle zulässiger Gewaltanwendung deutlicher zu artikulieren.
Sein amerikanischer Kollege Frank Billings Kellogg, 1924-1925 Botschafter in London, weitete Briands bilateralen Entwurf ins Allgemeine. Das war angesichts der mangelnden Kriegsgefahr zwischen Frankreich und den USA gut verständlich. Es entsprach aber auch dem »anmaßenden mystizistischen Republikanismus« der Amerikaner, den Nicolson 1919 an Wilson verwerflich fand, höflicher gesagt, dem aus vielen Sekten gespeisten Glauben an »Gottes eigenes Land«, der die Kluft zwischen »Sein« und »Sollen« gerne überspringt. Kellogg war im Bibel-Staat Minnesota aufgewachsen und dessen Gouverneur gewesen, schon über siebzig Jahre alt, als er Briands Initiative aufnahm. Er wollte eine moralische Ächtung des Krieges durch die Völker, nicht nur Regierungsabkommen.
Am 27. August 1928 signierten dann die Regierungen der USA, Frankreichs, Großbritanniens, des Deutschen Reiches, Italiens, Japans, Belgiens, der Tschechoslowakei und Polens einen Kriegsverzichtspakt. Die Dominions Australien, Indien, Kanada, Irland, Neuseeland und Südafrika schlössen sich an. Der Pakt bestand aus nur zwei Artikeln. Im ersten Artikel »verurteilten« die Unterzeichner den Krieg als Mittel nationaler Politik und verzichteten auf ihn
in ihren gegenseitigen Beziehungen. Im Artikel 2 verpflichteten sie sich, ihre Streitigkeiten mit friedlichen Mitteln zu regeln.
Verzicht auf den Krieg als Mittel nationaler Politik konnte nur unter den Vertragschließenden gelten und folglich nicht für deren Krieg mit Nicht-Unterzeichnern. Der Krieg allgemein blieb also unberührt, wie Repressalien, Wirtschaftssanktionen und Gewaltandrohung. Kellogg selber befürwortete die amerikanische Invasion in Nicaragua 1929. Der auf unbestimmte Zeit erklärte Kriegsverzicht war kein Gewaltverbot. Er hat den Krieg als Mittel nationaler Selbstverteidigung nicht ausgeschlossen. Das ließ allerlei Hintertüren offen. Hitler begründete den Überfall auf Polen 1939 mit einem fingierten polnischen Angriff auf den deutschen Radio-Sender Gleiwitz und verkündete, es werde »zurückgeschossen«.
Obwohl mit der Zeit dreiundsechzig Staaten den Briand-Kellogg-Pakt unterzeichneten, mißlangen die Versuche, die unbestrittene Notwendigkeit von Sanktionen durchzusetzen. Eine »Generalakte« für die friedliche Regelung internationaler Streitigkeiten, die von einem Unterausschuß der Internationalen Abrüstungskonferenz in Genf im September 1929 kam, blieb erhalten. Sie wurde im April 1949 als revidierte Generalakte von der Vollversammlung der UNO nochmals beschlossen.
Dazwischen lag der Zweite Weltkrieg mit seinen über fünfundfünfzig Millionen Toten. Weder die öffentliche noch die juristische noch die religiöse Moral hat ihn verhindert. Weder die Völker noch die Regierungen noch die Juristen haben sich die Konsequenz des deutschen Völkerrechtlers Hans Wehberg zu eigen gemacht (»Die Ächtung des Krieges«, 1930), der aus der Verurteilung des Angriffskrieges schloß, die Nation, die ihn beginne, werde zur »Verbrecher-Nation«.
Prestige-Sucht war stärker als Scham, die sie behindert. Schlimmer noch: die Europäer hatten aus dem Ersten Weltkrieg nicht gelernt, daß der gläubige Nationalismus, der sie in den Ersten Weltkrieg geführt hatte, immer wieder Gewalt und Krieg erzeugen mußte, weil die Nation selbst als moralische Oberinstanz galt. Die Kritik am Nationalismus beschränkte sich folgerichtig auf seine Brutalitäten, Auswüchse, Unverträglichkeiten mit anderen Nationen. Das Nationalitätenprinzip war die heilige Kuh des Völkerbundes, die Souveränität ihre Anbetung.
Kellogg hat mit seinem Appell an die Völker über die Souveränität hinaus gezielt, er konnte nicht dahinter zurück. Insofern stimmte er mit dem kommunistischen Internationalismus überein, den Stalin mit dem Parteiausschluß von Trotzki und Sinowjew 1927 umfunktionierte, aber auch mit der Verurteilung des Nationalismus durch Papst Pius XL in der Enzyklika »Quas Primas« 1925.
Zwischen den Ansprüchen der kommunistischen »Sozialreligion« (Alfred Weber), für die Annen und Ausgebeuteten aller Länder zu kämpfen, und der katholischen Religion, »den Frieden Christi im Reiche Christi« zu feiern, ging der Nationalitätenstreit unerbittlich weiter. Der Papst hatte 1925 einen neuen Feiertag, »Christus Rex«, gegen das Reformationsfest und den benachbarten höchsten Feiertag der italienischen Faschisten am 28. Oktober sowie gegen die Feier der sowjetischen Oktoberrevolution terminiert: »Da der Mensch aus Leib und Seele besteht, bedarf er der Anregung durch äußerliche Feierlichkeiten und Festtage, und zwar so, daß er durch die Verschiedenheit und Schönheit der heiligen Riten die göttliche Unterweisung in sein Herz aufnimmt, in Fleisch und Blut umsetzt und mitwirkt, daß sie zum geistlichen Fortschritt seines Lebens dienen.«
Für Deutschland hatte Hitler nach der Entlassung aus der Festungshaft 1925 die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei wieder gegründet. Sie machte den 9. November zum liturgischen Datum gegen die »Novemberverbrecher« von 1918 und für die »Blutzeugen« von 1923, die »Nationalisierung der Massen« (George L. Mosse) weit über das faschistische Vorbild hinaustreibend. Der Zweite Weltkrieg, so der Neukantianer Ernst Cassirer 1945, war nur noch die logische Konsequenz der Mythenfabrikation der zwanziger Jahre. Europa marschierte in rechtsstehenden Wehrverbänden, in linken Schutzbünden, in Jugendbewegungen, marschierte und marschierte und schloß ins Herz die Revue-Girls, die am besten marschierten… Politik als ritualisierte Kommunikation.
Die päpstliche Enzyklika appellierte nicht nur an nationalistisch exaltierte Italiener, Österreicher, Bayern, Kroaten, Spanier, Polen, Ungarn, Iren und andere Katholiken. Sie wollte über die Schranken der Nationalitäten, Rassen, Klassen und Religionen hinweg den laizistischen Ersatz-Gott des Nationalismus treffen. Ihm hatten die Türken viele Hunderttausende von Armeniern geopfert. Ihm huldigten Araber wie Zionisten, indem sie sich zu Nationalstaaten entschlossen. In Asien nahm der Nationalismus die alten Götter in Dienst. Deutlich sichtbar stellte sich weltweit seine »Truppe mit
Mythos« auf, wie Ernst Bloch in seinem Kommentar zum Münchner Hitlerputsch 1923 konstatiert hatte.
Gemeinsam war all diesen »Bewegungen«, daß sie die jeweilige Unterweisung durch rituelle Verfahren in »Fleisch und Blut umsetzten«: Die »Jungtürken« mit Kemal Attatürk. In Irland de Valeras »Fianna Faü«. Diktator Smetonas Nationalisten in Litauen. Codreanus »Legion Erzengel Michael« in Rumänien. Nahas Paschas Wafd-Partei in Ägypten. In Finnland die Lappo-Bewegung. Primo de Riveras Falange in Spanien. Die katholisch-faschistischen »Heimwehren« in Österreich, seit 1930 unter Kommando eines Fürsten Starhemberg. Die »Grünhemden« in Brasilien und viele mehr. Alle anderen an geistigem Format überragend die gewaltfreie Aktion Mahatma Gandhis zur symbolischen Meersalzgewinnung 1930 gegen das Salzmonopol der Kolonialmacht England.
Der »geistliche Fortschritt«, dem die Formationen dienten, indem sie nationale Symbole in »Fleisch und Blut« umsetzten, konnte nicht der Weltfrieden sein, sondern nur der Machtzuwachs und Prestigegewinn der eigenen Kollektive: Ideologische Abkapselung, territoriale Abgrenzung und Absperrung des zwischenmenschlichen Verkehrs waren Folge und Ursache zugleich der straff ritualisierten
Menschenmengen, in denen jeder einzelne seine Selbstachtung vom höchsten Wert des jeweiligen Kollektivs ableitete, oft inkarniert im »Führer«. Das war ein Rückfall in den Totemismus, während gleichzeitig Funk, Schnelldampfer, Zeppeline und Flugzeuge die Kontinente einander näherbrachten und Quantenphysik, Automobilbau, Nachrichtentechnik und die Theorie der Raumfahrt gewaltige Fortschritte machten.
Man hat die zweite Hälfte der zwanziger Jahre die »golden twenties« genannt und damit die Spannungen zwischen Widersprüchen verklärt. Alles schien möglich, weil Gleichzeitigkeit alles war.
Die Rotationsschnellpresse konnte (ab 1927) in einer Stunde 100.000 Exemplare einer zwölfseitigen Zeitung drucken, und die Neuigkeiten aus esoterischen Zirkeln, exklusiven Künsten, elitären Vorstellungen in Schlagzeilen verwandeln: Piscators »Politisches Theater« und Stefan Georges »Neues Reich«, Upton Sinclairs »Boston«, D. H. Lawrence‘ »Lady Chatterleys Liebhaber«, Hemingways »Männer ohne Frauen« und Agnes Miegels
»Geschichten aus Altpreußen«, Montherlant und Pirandello, Josephine Baker und Joseph Goebbels, Vicki Baum und Gertrud von le Fort, Lehär und Schönberg, Hin-demith und Pfitzner machten zugleich von sich reden. Bertrand Russeis »Analyse der Materie« und Martin Heideggers »Sein und Zeit« erschienen im selben Jahr. Der Stummfilm, das populäre Spektakel laufender Bilder, wurde 1929 zum Tonfilm.
Damit stieg der Wert des Films als Propaganda-Instrument der »Sozialreligionen« gewaltig. Sergej Eisensteins stummen Jubiläumsbeitrag zur russischen Revolution von 1905, »Panzerkreuzer Potemkin« (1925), folgten 1930 die Antikriegsfilme von Pabst und Milestone, dann in der UFA des deutschnationalen Medienkonzerns Hugenberg die historisierenden Propagandafilme von Carl Froelich, »Luise, Königin von Preußen« (1931), »Der Choral von Leuthen« (1933) und, zwölf Jahre lang, viele, viele Schöntöner des Todes.
Um 1930 gingen weltweit rund 250 Millionen Besucher wöchentlich ins Kino. Hollywood wurde zur geistigen Weltmacht, und obwohl wir noch heute wenig über die Mechanismen von Wahrnehmung und Erkenntnis beim Filmkonsum wissen, kann gesagt werden, daß die Klischees und Images der überlegenen amerikani-
schen Filmwirtschaft die »Weltanschauungen« im Sinne des Konkurrenzdenkens, der Rivalität und der stereotypen Gegenüberstellung von Freund und Feind, gut und böse, oben und unten vereinheitlicht haben, mit der Gewalt als ultima ratio.
Die politischen und im engeren Verstand kulturellen Phänomene verband ab 1930, was der exilierte österreichische Dichter Hermann Broch 1948 die »Spannungsindustrie« nennen sollte, ein durch die Intensivwirtschaft bedingter Zugriff der dirigierenden Gewalten auf das Seelenleben der einzelnen durch immer neue Spannungszufuhr, die immer neue Spannungsbedürfhisse erzeugt, und in den emotionalen Mängeln jedes Einzelmenschen den großen kommerziellen und politischen Medienbesitzern einen gemeinsamen Leistungszwang als Kultur der Industriegesellschaften garantiert, ob weiß oder rot, ob braun politisch furniert.
In diesem Kulturzustand bestimmten, vereinfacht gesagt, drei Tendenzen die Weltpolitik: 1. Die Mobilisierung der Massen in nationalistische, sozialistische und faschistische Ritualen. 2. Weltweit der Versuch eines zumeist bilateralen Interessenausgleichs der Diplomatie, abhängig von den innenpolitischen Machtsyndikaten der
Vertragschließenden. 3. Versuche, die übernationalen Zielsetzungen des Völkerbundes für ein System kollektiver Sicherheit zu realisieren.
Am deutlichsten zeigten die Abrüstungskonferenzen des Völkerbundes die Überlegenheit der Mobilisierungs- und der bilateralen Tendenz über die zur kollektiven Sicherheit weisende. Der im Dezember 1925 eingesetzte vorbereitende Ausschuß erreichte fünf Jahre später mit vielen Vorbehalten einige Übereinstimmungen.
Als die Konferenz von 59 Staaten dann endlich im Mai 1932 unter dem Vorsitz des britischen Außenministers Arthur Henderson zusammentrat, waren sich nicht einmal die Westmächte über die Zielsetzung einig. Die Briten wollten Defensiv- und Offensivwaffen auseinander halten, lieber bestimmte Waffensysteme als Zahlen verringern. Die Franzosen setzten auf internationale Kontrolle und folgerichtig auf eine militärisch Formation, die dem Völkerbund als Friedensmacht zur Hand sein sollte. Gleichzeitig verringerten sie
aber ihr Heimatheer von 439.000 Mann im Jahr 1925 auf 300.000 im Jahr 193v4, während dem deutschen 100.000-Mann-Heer rund zwei Millionen Mann an militärisch gedrillten Reserven aus Polizei- und Wehrverbänden zuwuchsen.
Bei Abschluß der ersten Verhandlungsrunde gab es eine Mehrheit für Beschränkung der Luftrüstung und das Verbot von Luftangriffen auf Zivilisten, ein Verbot chemischer Waffen und eine prinzipielle Verringerung schwerer Artillerie und Panzer. Die Sowjetunion und das Deutsche Reich stimmten nicht zu und meldeten sich für die zweite Verhandlungsrunde der Konferenz ab.
Zu dieser Zeit übte schon lange die der Reichswehr verbotene Panzerwaffe auf sowjetischem Boden. In Berlin-Tegel hatte der Herausgeber der Berliner Wochenschrift »Die Weltbühne«, Carl v. Ossietzky, für einen 1929 erschienenen Bericht »Windiges aus der deutschen Luftfahrt« am 10. Mai 1932 eine auf 18 Monate lautende Gefängnisstrafe angetreten.
Als Adolf Hitler die Macht hatte, steckte er gleich im ersten Jahr 250 Millionen Reichsmark in den Bau von Kriegsflugzeugen. Die Aufrüstungsinteressen der Weimarer Republik waren von Beginn an stärker als das Interesse an Abrüstung, die erforderliche Geheimniskrämerei stärker als die Pressefreiheit.
Zwar kehrte das Deutsche Reich noch einmal an den Verhandlungstisch zurück; aber als im März 1933 der »MacDonald-Plan« eine fünfjährige Rüstungsbeschränkung (»limitation«) zur Diskussion stellte, hatte die Weimarer Republik die Macht an Adolf Hitler abgegeben. Er war durch seine Ernennung zum Regierungsrat im Ländchen Braunschweig ein Jahr zuvor deutscher Staatsbürger geworden.
MacDonalds »limitation« hätte die Rüstungsgleichheit der europäischen Mächte garantieren sollen. Sie hätte damit die geheimen Aufrüstungen der Weimarer Republik und künftige Hitlers anerkannt; aber sie hätte den Status quo nicht stabilisieren können. Die politische Grundfrage des Völkerbundes, wer seiner Satzung Gehör verschaffen, seine »Polizei« stellen sollte, blieb ungelöst.
Das Reich verließ auf den Wogen seiner »Nationalen Erhebung« am 14. Oktober 1933 die Abrüstungskonferenz und den Völkerbund. Im März 1935 gab es die verheimlichte Luftwaffe bekannt und führte die allgemeine Wehrpflicht wieder ein. Der englisch-deutsche Flottenvertrag vom Juni 1935 hob die der deutschen Kriegsmarine 1919 verordneten Beschränkungen auf; aber schon 1929 hatte der sozialdemokratische Reichskanzler Müller den Bau des Prototyps »Panzerkreuzer A« veranlaßt.
Die Agonie des Völkerbundes begann aber nicht erst mit der Dynamik der deutschen Remilitarisierung und unter dem Marschtritt der »Nationalen Verbände«. Im September 1931 griffen die Japaner die Chinesen in der Mandschurei an und verletzten damit offen die Völkerbundssatzung. Jetzt hätte der Bund, seiner Idee nach, die Angreifer bestrafen müssen. Es kam zu langen verbalen Verurteilungen. Als eine Kommission der League am Schauplatz eintraf, hatten die Eroberer schon dem Selbstbestimmungsrecht der Mandschuren formal Genüge getan und ein Kaiserreich Mandschukuo etabliert. Nun ist Oktroy neuer Legitimitäten ein altes Rezept imperialistischer Politik. Dazu hätte es keinen Völkerbund gebraucht. Die Vollversammlung erkannte den japanischen Gewaltakt nicht an. Sie verlangte Mandschuriens Rückkehr zu China. Japan verweigerte sich dem Spruch und trat aus.
Der britische Ökonom John Maynard Keynes schrieb 1920 nach seiner Mitwirkung an der Pariser Friedenskonferenz, der Vertrag bezwecke die systematische Vernichtung des deutschen Außenhandels, die Ausbeutung seiner Kohle- und Eisenindustrie und seines Verkehrs- und Zollsystems. Daraus wurde nichts.
Zwar verhinderte der Internationale Gerichtshof in Den Haag 1931 nach einem französischen Protest eine Zollunion, die Deutschland und Österreich zu einem gemeinsamen Markt machen wollte, nicht unähnlich dem Zollverein als Vorstufe des Nationalstaates im 19. Jahrhundert gedacht; aber weder die Reparationen noch die Krise von 1926 »vernichtete« die deutsche Wirtschaft »systematisch«. Sie wirkten eher kontraproduktiv, indem sie der nationalistischen Propaganda in Deutschland den Rücken stärkten. Nationalisten sind auf wirtschaftliche Autarkie aus, so auch die deutschen Revisionisten der späten zwanziger Jahre.
Als 1929 der Dawes-Plan zur Reparationsregelung durch den Young-Plan abgelöst wurde, demzufolge Deutschland bei seinem damaligen Nationaleinkommen von 76 Milliarden bis 1988 in jährlichen Raten um zwei Milliarden Reichsmark, insgesamt also in fünfzig Jahren 105 Milliarden bezahlen sollte, strengten die Deutschnationalen und Nationalsozialisten ein Volksbegehren an. Es blieb erfolglos; aber es vereinheitlichte die nationale Front gegen den wirtschaftlichen Internationalismus und seine Gegenseitigkeit.
Die neue »zentrale Verwaltungswirtschaft« des Ersten Weltkriegs hatte die Rolle des Staates als Wirtschaftsmacht allen gelehrt, die Zerstörung bürgerlicher Privatvermögen in der Inflation bis 1923 sie bestätigt. Die staatliche Reglementierung und Subvention der für die wirtschaftliche Autarkie lebenswichtigen Landwirtschaft stärkte das traditionalistische obrigkeitliche Element im Verein mit einer geschickten Verbandspolitik des »Nährstandes«, die Standesinteressen für nationale ausgab (Reichs-Osthilfe für verschuldete ostelbische Großgrundbesitzer 1928). Diese etatistische Wirtschaftsphilosophie richtete sich, wie schon das Iglauer Programm der »Deutschen Nationalsozialistischen Arbeiterpartei« von 1913, »gegen die Sozialdemokratie unter ihrer jüdisch-marxistischen Führung«. Nicht der Staat, sondern die Staatsform, die Republik, war auch der Feind der Bauernunruhen von Schleswig-Holstein 1929 und vieler nachfolgender Zusammenrottungen des Unwillens gegen die Grenzen von Ver sailles und die Demokratie zugleich. Die Ära Stresemann-Briand war mit Stresemanns Tod am 3. Oktober 1929 definitiv zu Ende.
Dem konzessionswilligen Sozialdemokraten Hermann Müller und der großen Koalition folgte am 2. April 1930 der Zentrumspolitiker Heinrich Brüning als Reichskanzler. Der gewesene Reserveleutnant war der Mann Hindenburgs, der über ihn mit dem Notverordnungsparagraphen zu regieren dachte. Brüning stellte seine Regierung als ein »Kabinett der Frontsoldaten« vor. Sie wollte eine Politik der Stärke. Nicht nur die Deutschnationalen, sondern auch Zentrumspolitiker wie der Prälat Kaas und der Baron v. Papen, der Ministerpräsident Held von der Bayerischen Volkspartei wandten sich gegen den Young-Plan.
Im Jahr 1930 häuften sich die anti-polnischen Demonstrationen in Deutschland. Der Reichsminister Gottfried Treviranus verlangte bei einer Demonstration der Ostmarkenverbände Eupen-Malmedy zurück und die Revision der Ostgrenze. »Von der Maas bis an die Memel« sollte Deutschland reichen, wie es das vom sozialdemokratischen Reichspräsidenten Ebert zur Nationalhymne bestimmte Deutschlandlied verlangt. Die »Wiedervereinigung« aller Deutschen in einem Reich, ein Programmpunkt des Alldeutschen Verbands von 1895, wurde zu aktuellen Parole.
Die Mobilisierung der Massen ist oft als Folge der wirtschaftlichen Weltkrise geschildert worden. Daran ist viel Wahres; aber umgekehrt gilt auch, daß die Militarisierung Deutschlands nach dem Rückgang der ökonomischen Hochkonjunktur vom Sommer 1929 die wirtschaftliche Lage rapid verschlechtert hat. Es wirkt nicht nur die Wirtschaft an der politischen Willensbildung mit, sondern auch die Politik am Kapitalfluß.
Als die Japaner 1927 Shantung besetzten, steckten sie in einer Bankenkrise; aber ehe sie in die Depression schlitterten, hatten aggressive Kräfte der japanischen Politik das Auslandskapital verschreckt. Die »Revision der Tributverträge« und die militante Verkündigung imperialistischer Ansprüche des Deutschen Reiches mußten zur Kapitalflucht aus Mitteleuropa fuhren. Dem Zollunionsvertrag folgte der Zusammenbruch der Österreichischen Creditanstalt, deutscher und schließlich englischer Banken. Wo das Risiko für den Profit zu groß wird, wandern die Kapitalisten ab. Die Zuversicht, zu gewinnen, oder die Angst, zu verlieren, geben den Aus-
schlag. Die abenteuerlichen Demonstrationen des deutschen Nationalismus mit seinen Ausschließlichkeitsansprüchen kündigten Verluste an. Vor allem störten sie den profitablen Kreislauf der Schulden: Amerika verlieh Geld an Deutschland, das es als Reparation an die Entente weitergab, die ihrerseits Kriegsschulden an die USA damit zurückzahlte…
Es ist nur die Kehrseite derselben Medaille, daß verschuldete Junker, Automobilindustrie und Stahlbarone in Deutschland auf Hitler setzten. Sie konnten sich aus der Expansion des Reiches Gewinn erwarten. Der unbeamtete »Propagandaminister« der ganzen Kampagne war ein ehemaliger Krupp-Direktor, Alfred Hugenberg, einer der betrogenen Betrüger am Deutschen Volk, die das erste Kabinett Hitler bildeten. Seine Inszenierungen gegen die »Erfüllungspolitik« waren auch Propaganda gegen den internationalen Handelsverkehr, den Deutschland zur Beschäftigung seiner Industrien, der größten in Europa, nötig gehabt hätte. Ihm und seinesgleichen war klar, daß der »Tributwiderstand« wirtschaftlichen Kriegszustand mit der Folge der Diktatur bedeutete, und sie haben es öffentlich bejaht.
Die arbeitenden, mehr und mehr aber arbeitslosen Massen sahen sich vor der Alternative, entweder dieses Opfer mehr oder weniger widerstrebend auf sich zu nehmen, oder das kapitalistisch-demokratische System zu beseitigen und, wie in der Sowjetunion, die Kapitale zu enteignen und die Grundlagen des Staates auf dem Realvermögen »volkseigener« Produktionsstätten neu zu begründen.
Das erstere war das Programm der bürgerlichen Parteien einschließlich der staatsfreundlichen Sozialdemokraten und der Nationalsozialisten, das zweite das der Kommunisten. Schon das Plebiszit gegen die entschädigungslose Enteignung der deutschen Fürsten (1926) hatte gezeigt, daß für das kommunistische Programm keine Mehrheit zu gewinnen sein würde, eher schon für die deutsche Weltherrschaft, wie sie Hitler in seinem Buch »Mein Kampf« (1925) proklamiert hatte, für zu erobernden »Lebensraum« und die Ausbeutung aller erreichbaren »Feinde«. Das begann zunächst mit der Plünderung jüdischer Warenhäuser. Bei den Septemberwahlen 1930 zogen die Nazis mit 107 Abgeordneten in den Reichstag ein. Sie wurden nach der SPD (143) zur zweitstärksten Fraktion. Die Wahlbeteiligung war mit 35 Millionen Stimmen die höchste seit 1918.
Ein Mensch, der sich bedroht fühlt, wird aggressiv, ob er wirklich in Gefahr ist oder nicht. Das Mißbehagen steigert sich zu Mißliebigkeit und Mißtrauen, das Mißachtung erzeugt, am Ende ist öffentlich und privat jeder jedermanns Feind. Spionage wird groß geschrieben, Verratsprozesse häufen sich.
Sicherheit gibt es nur noch im Gruppenmilieu von Clubs, Bünden, Sekten, Parteien und Kirchen, die dann utopisch überfrachtet werden: »Die Arbeiter sind der Fels, auf dem die Kirche der Zukunft gebaut wird«, wiederholte der SPD-Vorsitzende Otto Wels auf dem Parteitag 1929 das »Prophetenwort Lassalles«, des Parteigründers; aber der Fels widerstand nicht der Wirtschaftspolitik der Regierung Brüning im nächsten Jahre, die mit ihrem Sparkurs die Kaufkraft der Arbeiter schwächte, statt wirtschaftliche Impulse zu geben.
»Auf Sozialisten, schließt die Reihen! Die Trommel ruft, die Banner wehen. Es gilt, die Arbeit zu befreien, es gilt der Freiheit Auferstehen!«, sangen die Sozialdemokraten mit feuchten Augen zum Orgelklang.
»Die Fahne hoch, die Reihen dicht geschlossen. / SA marschiert mit mutig festem Schritt« dichtete ihnen der Student Horst Wessel nach und entlehnte die Melodie einem französischen Operettenkomponisten. Selten ist ein Niedergang mit so viel Hochrufen begleitet worden wie der von 1930, als der amerikanische Präsident Herbert Hoover schließlich die monetäre Notbremse zu ziehen versuchte und ein einjähriges Moratorium für politische Schulden vorschlug. Zu spät. Am 14. Juli 1931 mußten die deutschen Banken und Sparkassen ihre Schalter schließen. Die Reichsbank war nicht mehr kreditwürdig.
Der Zusammenbruch der internationalen Kreditverflechtungen stärkte die Autarkiebestrebungen in den einzelnen Staaten. Er vermehrte weltweit antikapitalistische Effekte. Die Agonie des Völkerbundes und die des liberalen Welthandels gingen in eins. Regionale Abmachungen, wie die der Vorzugszölle der britischen Weltreichskonferenz von Ottawa und der allmähliche Abbau der Zölle zwischen Belgien, den Niederlanden und Luxemburg, waren protektionistisch geplant.
Der einmalige Stimmenzuwachs der Kommunisten auf 100 Sitze bei den deutschen Novemberwahlen 1932, die inneren Kämpfe über den Umfang sozialistischen Engagements in der Sozialdemokratie und bei den Nationalsozialisten (»Boxheimer Protokolle« und Austritt Gregor Strassers, den Rudolf Hess ersetzte) drängten auf vermehrte Staatsschulden. Die Arbeitslosenzahl war von einem hohen »Sockel« von 1,7 Millionen auf über 6 Millionen angestiegen, 29,9 Prozent 1932.
Der Publizist Leopold Schwarzschild hatte in den zwanziger Jahren gelegentlich vom »Streik der Kapitalisten« gegen das Risiko geschrieben. Da dieser Streik infolge der zerrütteten politischen Ordnung anhielt, konnte nur der Staat selber ihn brechen. Siedlungsprogramme, freiwillige Arbeitsdienste, Selbsthilfeorganisationen wuchsen aus dem Boden der Krise; aber die fiskalisch orientierte Politik des »Hungerkanzlers« Brüning machte solche Initiativen nicht zu ihrem Hebel. Die Nazis höhnten: »Auf dem Brüning seiner Glatz, hat die Notverordnung Platz.« Sie gewannen Stimmen bei einer Landtagswahl nach der anderen, eine Allerweltspartei —
offen für alle Ressentiments. Sie wanderten über die Provinzen in die Hauptstadt und infiltrierten die Berufsorganisationen. Braune Schwaden und Benebelte überall. In Thüringen, das eine starke laizistische Bevölkerungsstruktur hatte, verordnete gleich der erste nationalsozialistische Minister, Wilhelm Frick, »nationale Gebete« an den Schulen; aber schon 1929 hatten sich in den evangelischen Kirchen »deutsche Christen« für »artgemäßes Christentum« abgesondert.
Von einer Machtübernahme Hitlers, die wie eine höhere Gewalt über die armen Deutschen gekommen sei, kann also nicht gut die Rede sein. »Ich spüre um mich ein leises Wandern«, schrieb 1932 Kurt Tucholsky, »sie rüsten zur Reise ins Dritte Reich.«
Paul von Hindenburg, 1847 geboren, 1932 (wiederum im zweiten Wahlgang) mit 53 Prozent vor Hitler, 37 Prozent, und Thälmann (KPD), 10 Prozent, als Reichspräsident bestätigt, ließ Brüning fallen. Der ultrareaktionären Regierung von Papen gestand die Entente das Ende der Reparationen zu; aber bei Neuwahlen im Juli erreichten die Nationalsozialisten 230 Reichstagssitze. Ihre
verbotenen »Sturmabteilungen« (SA) und »Schutzstaffeln« (SS) wurden wieder zugelassen. Den Terror, den sie daraufhin veranstalteten, nahm Papen zum Anlaß, die preußische Staatsregierung nach Hause zu schicken. Als Reichskommissar für Preußen besetzte er selbst die letzte große Position der Sozialdemokratie. Verstaatlichung des Rundfunks, zunehmende Pressezensur schwächten die Linke. Die antifaschistische »Eiserne Front«, die 1931 aus SPD, Gewerkschaften und Reichsbanner gegründet worden war, um der »Harzburger Front« (aus Hitlerbewegung, Deutschnationaler Volkspartei und dem auf Hindenburg eingeschworenen »Bund der Frontsoldaten, Der Stahlhelm«) entgegenzutreten, hielt still.
Aber noch schien Deutschland nicht verloren. Als im November 1932 wieder gewählt werden mußte, erreichte die NSDAP 34 Sitze weniger. Der »Kanzlermacher« im Hintergrund, Kurt v. Schleicher, trat selber als Kanzler aij. Als »sozialer General« wollte er die Arbeiterbewegung und das Militär zur gemeinsamen Rettung des Vaterlandes kommandieren. Die Weltwirtschaftskrise flaute allmählich ab. Die hochqualifizierte Arbeitskraft der Deutschen staatlich zu mobilisieren, lag nahe, wenn es gelang, Gewerkschaften, Sozialisten und Generale zusammenzubringen. Schließlich war das
Bismarck-Reich als militärisch-industrieller Komplex groß geworden. Inzwischen ein weltweit verbreitetes Entwicklungsmodell. Das Realvermögen an Produktionsmitteln und Arbeitskraft war durch die Krise nicht verschwunden, es lag brach.
Ein mit den Weihwassern der deutschen Philosophie parfümierter Faschismus hatte den Plan schon lange diskutiert. Seine Autoren waren teils Universitätsprofessoren wie Carl Schmitt, Othmar Spann und Hans Freyer, teils Schriftsteller wie Hans Grimm (»Volk ohne Raum«), Oswald Spengler (»Preußentum und Sozialismus«), Ernst Jünger (»Der Arbeiter«) , teils Journalisten wie Edgar Jung (»Die Herrschaft der Minderwertigen«), Giselher Wirsing (»Zwischeneuropa und die deutsche Zukunft«) und der Kreis um Zeitschriften wie »Das Gewissen« und »Die Tat«, auf die Schleicher baute.
Manche von ihnen wurden später Opfer Hitlers, andere seine Parteigänger und Stehaufmännchen nach 1945. Schleichers Plan scheiterte darum auch nicht an seiner intellektuellen Konzeption, sondern am Ausbleiben des designierten Mitspieler.
Die Deutschnationalen der Harzburger Front glaubten nun, sich Hitler als Kanzler »engagieren« zu können. Sie meinten, sie »rahmten ihn ein«, als Hindenburg ihr Kabinett der »Nationalen Erhebung« am 30. Januar 1933 berief. Nach ein paar Monaten wurden sie nicht einmal mehr als Rahmen gebraucht. Im Juni 1933 waren die demokratischen Parteien verschwunden. Man muß aber sagen, daß die Braunhemden sich Herrn von Hindenburg dankbar erwiesen. Ihre preußische Regierung schenkte ihm die Staatsdomäne Langenau und den Preußenwald. Am 21. März 1933 durfte er sich am Grabe Friedrich des Großen in Potsdam, umkränzt von militärischen Mumien in kaiserlichen Uniformen, von einem befrackten Hitler der preußisch-deutschen Kontinuität versichern lassen. Mit seinem Tod am 2. August 1934 vereinte »Der Führer und Reichskanzler« diese Legitimation auf seine Person. 92 Prozent der abstimmenden Deutschen waren dafür, als sie hinterher befragt wurden. Die Generäle ließen die Reichswehr auf den selben Hitler vereidigen, der gleichzeitig den SA-Chef Röhm ermorden hieß, der ihm als Reichswehrhauptmann seine politische Karriere ermöglicht hatte, »Alte Kameraden« von echtem Schrot und Korn…
Nietzsches »Willen zur Macht und nichts außerdem« bewegte das Hitlerregime vom ersten Tag an. Dieser Wille formulierte und interpretierte die Ideologie nach Belieben. An der Regierung, verstärkte Hitler die Polizei mit »Hilfspolizisten« aus den Truppen der Harzburger Front und legalisierte damit den Straßenterror der »Kampfzeit«. Oppositionelle wurden amtsenthoben und in »Schutzhaft« genommen. Der programmatische Antisemitismus ging in staatliche »Maßnahmen« über. Der Reichstag brannte als Vorwand jeglicher Verfolgung.
Das KZ-Regime begann mit Friedensversicherungen nach außen und mit der Beruhigung der Generalität, daß die Wehrmacht der einzige Waffenträger der Nation bleiben werde. Nicht genug, daß der Reichspräsident eine »Verordnung zum Schutze von Volk und Staat« unterschrieb, die alle Grundrechte außer Kraft setzte, ermächtigte der Reichstag nach Ausschaltung der Kommunisten und mit der einzigen Opposition der Sozialdemokraten, Hitler zu tun, was er für richtig hielt. Otto Wels hielt die letzte würdige Rede vor dieser unglückseligen Volksvertretung. Wie F. D. Roosevelt, der neue amerikanische Präsident, der 1933 über drei Milliarden Dollar zur Sanierung der Wirtschaft ausgab und Tariflöhne oktroyierte,
um Kaufkraft zu bilden, setzte Hitler drei Milliarden Mark ein zur »Arbeitsbeschaffung«; aber sein Innovationsschub begann sofort mit dem Ziel der Autarkie und der Aufrüstung.
Als zwei Jahre später Reichskommissar Göring die Parole »Kanonen statt Butter« ausgab, lag die militärisch-ökonomische Marschrichtung längst fest: Der 1. Mai war zum »Tag der Nationalen Arbeit« umstilisiert, die Gewerkschaften durch die »Deutsche Arbeitsfront« ersetzt. Das »Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit« machte aus den Unternehmern »Betriebsführer«, aus den Arbeitern »Gefolgschaften«, wie ja auch die NSDAP keine Arbeiter-, sondern eine Gefolgschaftspartei war, allesamt »Soldaten« des Führers. Das alles hätte Kanzler Schleicher im Verein mit Gregor Strasser und sozialdemokratischen Gewerkschaften nimmermehr erreicht.
In Europa erkannte die gefährliche »Dynamik« der »nationalen Erhebung« wohl am ehesten der italienische »Duce«, Mussolini: Deutschlands wirtschaftliche und militärische Überlegenheit über Frankreich, Hitlers unverhohlene Aspiration auf seine Heimat Österreich, die Gründung der nationalsozialistischen sudetendeut-
schen Partei durch Henlein 1933, die Nazi-Regierung im umstrittenen Danzig, des ungarischen Faschisten und Ministerpräsidenten Gömbös rasche Kooperation mit Hitlerdeutschland bedrohten das Gleichgewicht, auf das Italien baute. Wenn Deutschland stärker wurde als Frankreich hinter seiner Maginot-Linie, war es auch stärker als die »kleine Entente« der Tschechoslowakei mit Jugoslawien und Rumänien (gegen Ungarn) und als Italien.
Darüber konnte auch der Viererpakt Italien, Großbritannien, Frankreich und Deutschland nicht hinwegtäuschen, der noch 1933 die Hitler-Regierung international aufwertete, die schon Hunderttausende ihrer Bürger der Existenz beraubte. Die Liga für Menschenrechte und die Friedensbewegung, für die Buisson und Quidde 1927 den Friedens-Nobelpreis erhalten hatten, standen jetzt allein. Europa handelte »realpolitisch« und das hieß abwarten.
Reichspropagandaminister Goebbels hatte gleich bei seiner ersten Pressekonferenz den noch zugelassenen, nicht-»jüdisch-marxistischen« Journalisten erklärt, sie hätten sich auf Instruktionen, nicht auf Informationen einzustellen. Das »Heimtücke-Gesetz« vervollkommnete 1934 den Maulkorb für alle. Wie der Devisenfluß wurde auch der Nachrichtenfluß abgeschottet.
So bedurfte es offensichtlicher Morde an innerparteilichen Gegenspielern und am österreichischen Bundeskanzler Engelbert Dollfuss, einem antinazistischen Klerikal-Faschisten, bis die große Öffentlichkeit der Westmächte den mörderischen Charakter des deutschen Regimes verurteilte.
Das war im Sommer 1934, aber die diplomatischen Zugeständnisse an Hitler, die man der Weimarer Republik verweigert hatte, gingen weiter, als die Deutschen sich hätten träumen lassen. Sie stimmten für Hitler. Man muß mit den Völkern, nicht mit den Regierungen rechnen, hatte Garvin 1919 gewarnt: Die Saat von Drachenzähnen war aufgegangen.
Nach dem Sieg von Hitlers Mitte-Rechts-Koalition im März 1933 hatte die Hitlerpartei eine Mitgliedersperre bei 2 Millionen erlassen, 1937 zählte sie 8,5 Millionen Parteigenossen.
Im Mai 1933 verbrennen Studenten Bücher verfolgter Autoren, auch Heine, der 1820 vorausgesagt hatte, wer Bücher verbrenne, verbrenne am Ende auch Menschen, als er seine rassistischen Mitstudenten sah. 1944 analysierte Hannah Arendt den deutschen Völkermord als »organisierte Schuld«.
Der im deutschen Militarismus legalisierte Mord hatte sich totalisiert.