„Es führt kein Weg von Mensch zu Mensch, von ihm zu anderen Lebewesen und zur Natur als über Zeichen.“(1) Die Philosophie der symbolischen Formen und die Zeichentheorie von Ernst Cassirer, Charles Sanders Peirce und Susan K. Langer sind die Ausgangspunkte der Kommunikations- und Medientheorie von Harry Pross. Symbolgebrauch unterscheidet den Menschen vom Tier, als Mängelwesen unterliegen wir dem Zwang zur Kommunikation (2) und leben in einer symbolisch und sozial konstruierten Welt von Bedeutungen.(3)
Als Zeichen beruhen Symbole auf Vereinbarung (Konvention). Sie repräsentieren abstrakte Wertvorstellungen (4) und dienen der absichtsvollen, intendierten Kommunikation zwischen (mindestens) zwei Menschen. In Gestalt von Signalen können sie mithilfe von Medien über Raum und Zeit transportiert werden. Entgegen unserer Alltagsannahmen und der älteren Kommunikationstheorie transportieren Medien weder Bedeutungen (5) noch Informationen.(6) Medien sind Mittel zum Zweck der Kommunikation (7), die im Sinne von Berger und Luckmann als konstruktiver Prozess begriffen wird. Wer Mitteilung verstehen will, muss Medienforschung betreiben, weil Medien die Modalitäten und Herrschaftsverhältnisse gesellschaftlicher Mitteilung formen,(8) ohne dass die Medien die Botschaft wären.
Der Medienbegriff von Pross ist weit, aber keineswegs beliebig, und bezeichnet mehr als nur Übermittlungs-, Speicher- und Abruftechniken. Oft zitiert, dabei aber häufig auf die technische Konstellation verkürzt, wird seine Systematik der Medien:
Als primäre Medien beschreibt Pross die Kommunikationsmittel des unmittelbaren persönlichen Gesprächs: Die Sprache der menschlichen Stimme ist ein elementares „primäres“ Medium, aber auch ihren para- und nonverbalen Begleitformen zählen hinzu, nämlich Gestik, Mimik, Proxemik, Tanz und die gesamte „Körpersymbolik mit ihren Farben und Formen von Haut und Haar, Maske und Kostüm“ (9) bis hin zum „Aroma.“ Pross gibt der Rede in seiner publizistischen Theorie viel Raum (vgl. Publizistik. Thesen zu einem Grundcolloquium; Moral der Massenmedien; Medienforschung), was belegt, dass es ihm um eine differenzierte Theorie der Humankommunikation geht, und nicht um eine materiale Medientheorie im medienwissenschaftlichen Verständnis. Pross analysiert die Ausgestaltung des menschlichen Elementarkontaktes, seine zeitlich-rhythmischen Strukturen in Wiederholung, Ritual, Zeremoniell, die Bedeutungen haben. (10) Ohne Nostalgie begründet er funktional, warum die persönliche Kommunikation in Kopräsenz als „das wichtigste Kommunikationsmittel der abendländischen Geschichte“ (11) bis heute unersetzlich hält,(12) auch zunehmend durch andere Kommunikationsformen verdrängt wird.(13)
Schrift, Musik, Druck und Graphik sowie Feuer- und Rauchzeichen, Flaggen und Wimpel, Brief, Plakat und die Maske (14) unterscheiden sich als Sekundärmedien hiervon grundlegend. Zum einen, weil die Kommunikatoren auf physikalisches Gerät für die Produktion und den Transport der Zeichen benötigen statt nur die natürlichen Organe. Zum andern, weil sich die Kommunikationsrollen und deren Machtverteilung gegenüber dem direkten Gespräch verändern. Die sekundären Medien erhöhen die Reichweite bei verringertem Aufwand – man muss nicht mehr mit jedem Einzelnen reden, wenn beispielsweise Druckerpressen für Vervielfältigung sorgen. Aber auf der Rezipientenseite verringert sich der Aufwand keineswegs, und der Zugang zu Druckerei und Verlag gilt als deutlich schwieriger als selbst das Wort im Dialog zu ergreifen.
Die technologische Komplexität und die Machtverhältnisse erhöhen bzw. verschärfen sich weiter bei den Tertiärmedien. Telegraph, Telefon, Fernschreiber, Radio, Television und Film, aber auch alle aktuellen elektronischen und digitalen Medien benötigen technische Apparate und Netze für Produktion, Transport und Konsum bzw. Rezeption der Signale. Mit Blick auf die Begründungslogik seiner Mediensystematik erscheint es daher weder notwendig noch sinnvoll, von quartären Medien zu sprechen. Die Tatsache der technischen Vermittlung und der Nutzung von Mediengeräten auf beiden Seiten ist seit 150 Jahren bekannt. Seitdem schwindet mit der Technisierung schrittweise die Selbstbestimmung der Mitteilungsproduzenten (Kommunikatoren), während die Fremdbestimmung des publizistischen Kommunikationsprozesses durch die Signal-Transporteure, also die sekundären Medien wächst, bis sie bei den tertiären Medien auch die Selbstbestimmung der Rezipienten einschränkt – bei den Programmmedien Hörfunk und Fernsehen sowie beim Film vor allem zeitlich. Die Rundfunkmedien zwingen den Rezipienten ihren Zeitplan durch ihre Programmstruktur und die Flüchtigkeit der Sendung sehr viel stärker auf als die Presse und Buch.(15)
Digitale Abrufmedien im Netz mögen zwar die individuelle Zeitautonomie erhöhen, aber deshalb nicht unbedingt das Maß der Selbstbestimmung in der öffentlichen Kommunikation. Es bleibt bei der Selektion aus Vorgegebenen, bei gerade durch die digitale Vervielfachung bewirktem, steigendem Selektions- und Zeitdruck. Von der „informationellen Selbstbestimmung“ – immerhin einem Grundrecht – ganz zu schweigen: Nicht nur die Teilnahme an öffentlicher Kommunikation, auch die an individueller, ja privater Netzkommunikation unterliegt der Fremdbestimmung durch Plattformbetreiber, Diensteanbieter oder kommerzieller und staatlicher „Data-Miner.“ Vergleicht man die Kommunikation auf Social Network Sites wie facebook mit dem persönlichen Gespräch, dann gilt: Reichweite der Mitteilung und Freiheit (Selbstbestimmung) stehen in einem umgekehrten Verhältnis zueinander. Medienhistorisch hat sich die Macht tendenziell zugunsten der Transporteure verschoben. Die immensen publizistischen Apparate der sekundären und tertiären Medien, so Pross kritisch, bergen die Gefahr in sich, die soziale Kommunikation in einen „Einbahnverkehr“ im Dienste der „herrschenden Klassen“(16) zu verwandeln, indem sie den direkten Kontakt mit den Urhebern der Mitteilung verhindern.(17) Dass die technisch gesteigerten Interaktionspotentiale in Onlinenetzen tatsächlich hieran etwas entscheidendes ändern werden, erscheint wie eine Utopie, die Pross‘ Mediensystematik von Pross auf die technische Komplexität reduziert, aber die Ausdifferenzierung der Rollen im Sinne von Arbeitsteilung und Machtverteilung(18) vergisst.
Harry Pross hält die freie Wahl des Mediums für eine politische Frage. Die historische Erfahrung, dass sekundäre und tertiäre Medien in nicht demokratischen Systemen für abweichende Mitteilungen unzugänglich sind und die Opposition für ihre Mitteilungen auf die primären Medien begrenzt wird, ist vielfach belegt.(19) Und selbst für Demokratien haben sich Brechts Radiotheorie oder Enzensbergers Idee, allen Menschen alle Medien zugänglich zu machen, nur weil dies technisch möglich sei, als unrealistisch erwiesen, meint Pross.(20) Der aktuelle Blick auf staatliche Zensur- sowie geheimdienstliche und kommerzielle Überwachungsmaßnahmen im Netz weist in dieselbe, sattsam bekannte Richtung.
Alle Kommunikationsmittel sind bei Pross „hochorganisierte, komplizierte technische und administrative Apparate.“(21) Medien verhalten sich weder neutral, wie es der klassische Mass Communication-Ansatz annimmt, noch sind sie die die Botschaft, wie Marshall McLuhan polemisch konterte.(22) Beide Medienverständnisse übersehen die Machtfragen der inneren Organisation des „Apparates“, die Pross von innen heraus kennen und reflektiert gelernt hat. Nach Pross kommt es bei der medialen Kommunikation auf drei Größen an, das Subjekt (Rezipient), das Objekt (Mitteilung) und das Medium. Verstanden als technischer und administrativer Apparat erleichtert oder erschwert das Medium die Wahrnehmung, die dem Verstehen und Erkennen (im Sinne des Gestaltpsychologen Viktor von Weizsäcker) vorausgeht.(23) Den zeittypischen Vorstellungen von direkten und starken, ja geradezu manipulativen Medienwirkungen widerspricht Pross damit. Medien weisen neben den wahrnehmungspraktischen vor allem Verfügungs- und Zugangsbegrenzungen auf, die zu kommunikationspolitischen und signalökonomischen Fragen führen.(24)
Primäre, sekundäre und tertiäre Medien haben sich historisch in dieser Reihenfolge entwickelt, Pross erteilt aber den gerade in der Debatte über jeweils neue Medien wieder kehrenden Substitutionsthese eine Absage. Medien lösen einander nicht ab und ersetzen sich auch nicht,(25) sondern bilden ein „Ensemble der sozialen Kommunikationsmittel.“(26)
Ebenso kritisch setzt er sich mit der zu beobachtenden Dominanz von Bildern und Fernsehbildern in der Kommunikation auseinander und widerspricht der These von der Überlegenheit der Bildermedien: Bilder sind nicht leicht verständlich, weil das Erkennen von Bildern ein Wiederkennen von Vorbildern voraussetzt. Bilder sagen nicht „mehr als tausend Worte“, sie selbst sprechen gar nicht, sondern bedürfen der Besprechung (Titel, Bildunterzeile, Kommentierung). Das Verstehen von Laufbildern benötigt Zeit für eine innere Verbalisierung, die das Fernsehen dem Zuschauer aus signalökonomischen Kalkülen heraus nicht mehr lässt (Pross weist immer wieder auf die Forschungen Hertha Sturms zur „fehlenden Halbsekunde“ und die Missverständnisse Neil Postmans hin). Das Fernsehen bleibt in vielen Fällen undurchsichtig für die Zuschauer, die kaum etwas über das Medium als Medium und seine Regeln wissen. Die vorschnelle, magische Identifikation von Bild und Sache übersieht, dass Bilder nicht wahr oder falsch sein können.(27) Mit Susan K. Langer rechnet Pross Bilder zum „präsentativen Symbolismus“; im Unterschied zur menschlichen Sprache ermöglichen dir gerade keinen logischen Diskurs.(28) Die suggestive Verwechslung von Bild und Sache im „ungeschiedenen Denken“(29) gilt auch für die „komputierten“ Bilder, die sich im Gegensatz zur These Vilém Flussers nicht zu einem qualitativ neuen „Universum der technischen Bilder“ fügen.
Die neuartige zeichentheoretische Begründung seiner Medientheorie, seine kultur- und wissenssoziologischen Wurzeln (Alfred Weber, Karl Mannheim) und sein stets klares Bewusstsein für das Problem von Freiheit und Macht führt Pross in seiner „Signalökonomie“ zusammen. Grundlegend sind dabei seine 1967 erschienene „Moral der Massenmedien“ und seine Thesen zum Grundcolloquium Publizistik (1970). Die Signalökonomie von Harry Pross ist eine semiotisch und historisch fundierte politische Ökonomie der Medien, die Zeit bzw. die menschliche Lebenszeit als knappe zu bewirtschaftende Ressource versteht. Der Versuch mittels Medien, „Dominanzen über die organische Lebenszeit der Subjekte“(30) zu erlangen, begründet Macht.
Die mediengeschichtliche Entwicklung folgt einer signalökonomischen Logik: „An den Beispielen von Imperien von den klassischen Hochkulturen bis zur heutigen Dominanz Amerikas in der Medienorganisation ließ sich zeigen, dass Reichweiten von Sprachen und Bildern, politisch-ökonomische Macht begründen und erhalten, Herrschaft gewinnen oder verlieren.“(31) Das signalökonomische Effizienzstreben zielt darauf, immer schneller und über weitere Räume mehr Menschen zu erreichen, und führt daher zu Medieninnovationen: „Der Drang nach ‘neuen Medien’ war zu allen Zeiten in allen Kulturen darauf aus, eigene Lebenszeit zu sparen und andere zu mediatisieren. Die Macht von Menschen über Menschen beginnt mit der Besetzung fremder Lebenszeit.“(32) Bereits die sprachliche Metapher ist eine Abkürzung, die dem Sprecher auf Kosten der Hörer Zeit spart, Schlagzeile, Rundfunkspot und immer kürzere Rundfunkbeiträge folgen derselben Logik.(33) Journalistische Selektion, Platzierung, die präsentative Reduktion auf visuelle Oberflächenreize bis hin zum „Medienkitsch“ sind der Signalökonomie geschuldet, erschweren aber Reflexion und Erkenntnis: „Kitsch zielt auf Zeitgewinn. Die Wahrheit aber braucht Zeit“(34) „Die elektronischen Medien aber sind ihrer Struktur nach auf Flüchtigkeit angelegt. Mehr Zuschauer heißt, mehr ‘universelle Metaphern’ ins Programm und zeitlich kürzen bis zum Bedeutungsverlust. Daraus entsteht dann global über Satelliten, was man in der Unterhaltung wie in der Information ‘internationalen Kitsch’ nennen muß.“(35)
Pross widerspricht McLuhan, wenn er auf die Nachteile des Fernsehens verweist, dessen laufende „magische“ Bilder die Unterschiede zwischen Wahrnehmung und Vorstellung, Bild und Sache, Wunsch und Erfüllung verwischen und ein „ungeschiedenes Denken“ hervorrufen: Widerspruch und Zweifel werden unmöglich, scheinbare Authentizität trotz faktischer Selektion und Rahmung im Rechteck des Bildschirms täuschen mehr vor als sie zu erkennen erlauben.(36) Die Welt wird durch Hör- und Fernsehrundfunk auch nicht zum Globalen Dorf, in dem alle über alle Informationen verfügen; im Gegenteil sorgen sie dafür, dass alles Dörfliche verschwindet,(37) denn stärker noch als die Presse dienen Film und Rundfunk „am Umfang ihrer Produktionen gemessen in erster Linie der Werbung und der Unterhaltung.“(38)
Die Logik der Signalökonomie zeitigt also Folgen für die Publizistik: Weil es immer einfacher und leichter wir, einzelne Mitteilungen zu produzieren, vervielfacht sich das Angebot, die einzelne Mitteilung wird verkürzt und verliert an Bedeutung: „Verringerter Signalaufwand mindert die Bedeutung in der Einzelmitteilung, die der Konsument empfängt“,(39) „Zeitgewinn und Bedeutungsverlust bedingen einander.“(40)
Digitale Mobilmedien und Onlineangebote folgen derselben Logik: Die rasch „abgesetzte“ E-Mail oder SMS entlastet den Kommunikator sofort, bürdet aber dem adressierten Kommunikationspartner Rezeption und Antwort auf, in immer schnellerem Rhythmus: „Signalökonomie ist eine Machtfrage“,(41) denn Medien verändern die Machtverhältnisse, indem sie die Freiheitsgrade von Produzenten, Transporteuren und Rezipienten der Signale verändert: Der Aufwand an subjektiver Lebenszeit und Mitteln für die Rezipienten erhöht sich, während er auf der Seite der Kommunikatoren für jede Einzelmitteilung sinkt.(42) Was als Partizipation oder „User Empowerment“ im WWW daherkommt, verstand Pross schon 1996 signal- und zeitökonomisch als wirtschaftlich motivierte Verlagerung von Arbeit von den Anbietern auf die User.(43)
Signalökonomie und Mediengeschichte haben deutlich gezeigt, dass Kommunikation und Macht untrennbar miteinander verbunden sind. Pross versteht unter letztlich alle Strategien sich mithilfe von Medien der Lebens- und Arbeitszeit anderer Menschen zu bemächtigen.(44) Die „soziale Frage“ ist für Pross „nicht nur eine ökonomische, nicht nur eine politische, sie ist vor allem eine publizistische Frage, eine des Umgangs mit Medien, eine Frage der Wahrnehmungsweisen und der Vergegenwärtigungskompetenz.“(45) Das Machtinteresse der praktischen Politik wie das Erkenntnisinteresse der politischen Wissenschaft richten sich auf die Medien, die als Instrumente von Herrschaft verstanden werden.
Pross entwickelte in einer Vorlesung im Wintersemester 1969/70 an der Freien Universität Berlin ein alternatives Konzept, in seinem darauf basierenden Essay „Die meisten Nachrichten sind falsch. Für eine neue Kommunikationspolitik.“ plädierte er dann für einen Perspektivwechsel: von der Politik- zur Publizistikwissenschaft, von der Frage der Macht zum Problem der Freiheit.
Überzeugt von der „Falschheit von Herrschaft überhaupt“(46) schreibt Pross der Publizistik die Funktion zu, Macht, Ruhe und Ordnung infrage zu stellen, und nicht sie aufrecht zu erhalten. Publizistik ist nicht die „Vierte Macht im Staate“, sondern zwingt die Staatsmacht, sich zu verantworten. Das zentrale Ziel demokratischer Kommunikationspolitik und praktischer Publizistik besteht in der größtmöglichen Realisierung der Selbstbestimmung in der Kommunikation, nicht deren fremdbestimmte Indienstnahme durch Staat, Parteien oder Wirtschaft.(47) Kommunikationspolitik bedeute Kampf zwischen Selbst- und Fremdbestimmung in der Kommunikation; die Medien dürfen nicht zum Steuerungsmittel für die Durchsetzung von Macht werden. Als erfahrener Chefredakteur einer öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt wusste Pross, wovon er redete. Aber die negative Kommunikationsfreiheit als Freiheit von Parteieneinfluss, Lenkung oder Zensur genügt nicht. Die sozialen Kommunikationsmittel müssen Mitteilung nicht nur ermöglichen, sie müssen auch so verfasst sein, dass Mitteilung wahrscheinlich ist. Die Medien dürfen daher Mitteilungen nicht durch eine oligopolistische Struktur(48) oder interne Befehlshierarchien und mangelnde Innere Pressefreiheit einschränken. „Mündigkeit“ – ein immer wiederkehrender Begriff bei Pross – beschränkt sich bei ihm nicht auf die Auswahl aus dem ständig erweiterten Angebot der „Spannungsindustrie“, „sondern einzig und allein durch das Ergreifen des Wortes und das Aussprechen dessen, was ist.“(49) Medienstrukturen besitzen eine politische Bedeutung, weil sie in die Signalökonomie der Kommunikation eingreifen und in die Frage von Selbstbestimmung und Fremdbestimmung in der Kommunikation aufwerfen. Die Einführung des privaten Rundfunks in Deutschland in den 1980-er Jahren und die Kommerzialisierung der Medien durch eine Ausrichtung an werblichen und wirtschaftlichen Interessen insgesamt, verstand Pross als politisches und publizistisches Problem.(50) Als in Deutschland noch „Kabelpilotprojekte“ liefen, warnte Pross bereits vor der Nachahmung des kommerziellen US-Fernsehens, in dem selbst die „Holocaust“-Fernsehserie nicht ohne Werbeunterbrechungen laufen konnte.(51) Immer wieder weist er kritisch auf die zeitökonomische und damit zeitpolitische Macht der „Spannungsindustrie“ hin – ein weiterer Schlüsselbegriff, den Harry Pross von Hermann Broch übernommen hatte.(52)
Harry Pross begründet sein Eintreten für die „Selbstbestimmung in der Kommunikation“(53) kommunikationswissenschaftlich. Seine wissenschaftliche Analyse gilt der Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit selbstbestimmter Kommunikation; es geht um die Verträglichkeit demokratischer Herrschaft mit der Selbstbestimmung in der Kommunikation.(54) Wahrscheinlich als einer der ersten Publizistikwissenschaftler übernimmt Pross 1977 die politikwissenschaftliche Systematik von Polity, Politics und Policies und wendet sie auf öffentliche Kommunikation an: Politische Ordnung (Polity) ist „als eine Konstellation von Zeichen definierbar. Diese Zeichen sind im Hinblick auf die Ordnung, die sie repräsentieren, Symbole.“(55) Politische Bildung erklärt als Informationspolitik die Bedeutung dieser Symbole und stabilisiert Herrschaft als „Korrelat von Mitteilung.“(56) Widerholte Mitteilung in Gestalt von Medienritualen sind notwendig, um die Ordnung dauerhaft zu sichern: Politischer Kalender (Jahrestage, Gedenktage, Wahltage, Legislaturperioden) und Medienkalender stehen in einem engen Zusammenhang.(57) Der politische Machtkampf (Politics-Dimension) zielt in erster Linie auf den Zugang zu den sekundären und tertiären Medien, die periodische (Presse) und kontinuierliche (Rundfunk, Onlinemedien) Chancen auf die Darstellung der eigenen Position bieten – hier geht es um Medienpolitik im engeren Sinne. Kommunikationspolitik beschreibt hingegen auf der Policies-Ebene die strategische Kommunikation politischer Akteure, das Propagieren, Kanalisieren, Zurückhalten und Verdrängen von Informationen.(58)
Dieser Text beruht auf Vorträgen und Publikationen des Autors, insbesondere auf Beck, Klaus (2015): Harry Pross: Signalökonomie und „neue Kommunikationspolitik.“ Medien&Kommunikationswissenschaft XX. Jg, H. 4, S. 557-575
Anmerkungen
(1) Mensch im Mediennetz: 32
(2) Vgl. Terminzwang und Signalökonomie: 249-250
(3) Vgl. Einführung in die Kommunikationswissenschaft: 110
(4) Vgl. Fernsehen als Symbolsystem: 153
(5) Vgl. Einführung in die Kommunikationswissenschaft: 70-91 sowie Mitteilung und Herrschaft: 43-44
(6) Vgl. Kommunikationspolitik und neue Medien: 22
(7) Vgl. Medien: Signale: 151
(8) Vgl. Medienforschung: 13-14
(9) Geschichte und Mediengeschichte: 33; vgl. zur Maske auch sekundäre Medien, unten
(10) Vgl. Medienforschung: 136-138
(11) Moral der Massenmedien: 14
(12) Vgl. Mitteilung und Herrschaft: 23
(13) Vgl. Moral der Massenmedien: 234
(14) Vgl. Medienforschung: 146
(16) Moral der Massenmedien: 237, 235
(17) Vgl. Moral der Massenmedien: 13
(18) Vgl. Medienforschung: 127-128
(19) Vgl. Publizistik: 129-130
(20) Vgl. Publizistik: 134
(21) Mitteilung und Herrschaft: 22
(22) Vgl. Mitteilung und Herrschaft: 66-67
(23) Vgl. Mitteilung und Herrschaft: 31-32
(24) Vgl. Mitteilung und Herrschaft: 73-77
(25) Vgl. Publizistik: 129
(26) Mitteilung und Herrschaft: 19
(27) Vgl. Mensch im Mediennetz: 228, 240
(28) Vgl. Mensch im Mediennetz: 80-84
(29) Vgl. Universum der technischen Bilder
(30) Kommunikationstheorie: 125
(31) Memoiren: 330-331
(32) Eitelkeit, Neugier und Langeweile: 83
(33) Vgl. Magie der Massenmedien: 169
(34) Medium „Kitsch“ und Medienkitsch 1983: 7
(35) Medium „Kitsch“ und Medienkitsch 1984: 14-15
(36) Vgl. Magie der Massenmedien. 156-158
(37) Vgl. Terminzwang und Signalökonomie: 247
(38) Magie der Massenmedien: 165
(39) Politik und Publizistik: 260-261
(40) Politik und Publizistik: 15
(41) Terminzwang und Signalökonomie: 253
(42) Vgl. Signalökonomie: 51-53; Ritualismus und Signalökonomie: 11
(43) Vgl. Mensch im Mediennetz: 22
(44) Vgl. Mensch im Mediennetz: 271
(45) Mitteilung und Herrschaft: 52
(46) Die meisten Nachrichten: 14
(47) Vgl. Die meisten Nachrichten: 43-45, 68-69
(48) Vgl. Mitteilung und Herrschaft: 17-18
(49) Entmündigung der Öffentlichkeit: 210
(50) Vgl. Mensch im Mediennetz: 217
(51) Vgl. Was unser Weltbild formt
(52) Vgl. z.B. Terminzwang und Signalökonomie: 247
(53) Mitteilung und Herrschaft: 65
(54) Vgl. Die meisten Nachrichten: 21 u. 42
(55) Kommunikationspolitik und neue Medien: 26
(56) Pross 1972b: 10
(57) Vgl. Politische Symbolik: 83-84; 128-137
(58) Vgl. Kommunikationspolitik und neue Medien: 28-29
Literatur
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