Verstiegen? – Am 1-9. September erschien in der „NZ am Wochenende» der Aufsatz. «Die Neue Linke hat sich verstiegen» von Jean Améry. Darin vertrat Améry die Auffassung, die Neue Linke habe sich durch Irrationalismus, Weltfremdheit und Intoleranz in eine ausweglose Situation manövriert.
Der Artikel hat Widerspruch hervorgerufen. In seiner temperamentvollen Erwiderung nimmt Harry Pross nicht bloss Stellung zu den Ausführungen von Jean Amery, sondern auch gegen Leszek Kolakowski und Gerhard Szcsesny, die ebenfalls Kritik an der Neuen Linken geübt haben. Harry Pross: Nicht die Neue Linke hat sich verstiegen, aber einige Verstiegene werden links genannt. Harry Pross, Ordinarius für Publizistik der Freien Universität Berlin, hat in seinem Essayband «Söhne der Kassandra» die Rolle des deutschen Intellektuellen von Herder bis Grass dargestellt. In seinen Büchern hebt er die Verbindung von Theorie und Praxis in der Kommunikation hervor, so in «Literatur und Politik» (1963), «Moral der Massenmedien» (1967), «Publizistik» (1970), «Protest — Versuch über das Verhältnis von Form und Prinzip» (1971), «Die meisten Nachrichten sind falsch. Für eine neue Kommunikationspolitik» (1971).
Was man so die «Neue Linke» nennt, hat sich die Kritik «alter» Linker zugezogen. Diese «Alten» unterscheiden sich von den Kritikern aus den Parteiapparaten der Linken, deren Unbeweglichkeit die «neue» Linke entsprang, dadurch, dass sie selber von ausserhalb kritisieren. Sie vertreten nicht die Raison der jeweiligen Parteilinien, sondern ihre eigene. Um so mehr sollten sie gehört werden. Jean Amery, penibler Beobachter der Zeitläufte, wirft der Neuen Linken vor; sie habe sich verstiegen, Verstiegenheit gemeint als die Situation eines im Fels weder vor- noch rückwärts gelangenden Bergsteigers. Verstiegen habe sich die Jugend im «Begriffsgeröll». Für dieses Geröll macht Améry Marcuse, Adorno, Hegel verantwortlich. Das verwundert nicht nach Amérys früherer, Polemik gegen das, was man heute die Frankfurter Schule nennt. Er findet, dass deren angebliche Komplizität zur Bewegung irreversibler Zeitabläufe der Nachkriegsgeneration das «fleckenreine linke Gewissen» verschafft habe. Gleichwohl will Améry den Versuch, die Verstiegenen dank besserer Lebenseinsicht und weitläufiger Erfahrung zu bergen, nicht aufgeben.
Zieht Améry die Berge zum Vergleich heran, so der polnische Marxist Leszek Kolakowski das Wasser. «Die gestrandete Linke» heisst, seine Betrachtung im Juliheft 71 des «Merkur». Für Kolakowski ergeben sich die Mängel der «sogenannten» Neuen Linken aus ihrer klassenmässigen Zusammensetzung und der fehlenden Verbindung zur Arbeiterklasse. «Es liegt nicht etwa an der intellektuellen Unzulänglichkeit der Linken, dass sie keine Idee zu formulieren imstande ist, die allen Konflikten auf dieser Welt eine gemeinsame Bedeutung verleiht. Es ist vielmehr genau umgekehrt: Ihr geistiges Fiasko ergibt sich aus der Tatsache, dass eine solche gemeinsame Bedeutung nicht existiert, viele Leute aber damit beschäftigt sind, eine Formel dafür zu finden. Was nur mit Hilfe durchsichtiger Verschleierungen, plumper Lügen und höchst betrüblicher Demagogie zu erreichen ist.»
Gerhard Szcesny tut nach seiner Disqualifizierung des Glaubens den nächsten konsequenten Schritt, indem er das Unvermögen der Ideologien schlechthin darstellt: «Das sogenannte Gute». Er fixiert seinen Essay auf die «neue Linke» und gibt ihr seinen Abschied: «Die Weit der jugendlichen Neolinken ist die alte romantische Welt des Knabenalters: sie wollen spielen oder spektakuläre Taten tun, nicht aber acht Stunden täglich an einer Maschine stehen, an einem Schreibtisch sitzen, irgendeine banale und mühselige Kleinarbeit verrichten.» Romantisch, idealistisch, utopistisch, rigoristisch sind die Adjektive, die Szczesny für die Neue Linke bereit hat — und hat er nicht recht?
Die drei Kritiker stimmen in ihren Ausgangspositionen nicht überein und treffen sich dennoch in ihrem Urteil. Das macht, sie stützen sich auf die nämliche Erfahrung: den Glanz und das Elend des Dritten Reiches; durchlittene Erniedrigung plagt sie, und sie ziehen diese Erfahrung heran für die Nachgeborenen. Auschwitz ist für die Generation, zu der auch der Schreiber dieses Artikels zählt, nicht Vergangenheit, sondern; immer noch eine Möglichkeit von heute. Ist es aber richtig, diese Erfahrung, diese Sorge, unsere Angst und unseren Hass bei den «Neuen» zu erwarten? Sie sind nicht kurz vor, im oder kurz nach dem Ersten Weltkrieg geboren und in den Zweiten hineingewachsen, sondern erst im oder nach dem Zweiten auf die Welt gekommen, auf eine andere Welt. Sind die neuen Linken verstiegen, oder hat man nicht vielmehr juvenile Verstiegenheit links zu nennen sich angewöhnt, weil das Vokabular «links» ist? Ist die Linke gestrandet? War sie denn jemals, konnte sie jemals flott sein? Und schliesslich: Das Unvermögen der Ideologie und der sich daraus ergebende Rigorismus — was haben sie mit links zu schaffen?
Links ist ein vager Begriff von Anfang an. Was links ist, hängt davon ab, wohin man geht. Links ist relativ zur Bewegung. Aber links, ist nicht nur eine. Sache des Fortschreitens. In der Parteienwelt ist links eine Sache des Sitzfleisches: man sitzt links von denen, die rechts sitzen. Darum hört eine links sitzende Partei auch auf, links zu sein, sobald sie soviel Macht hat,: dass rechts von ihr niemand mehr sitzt. Mit anderen Worten: Links ist eine Relation, weiter nichts. In Deutschland aber ist alles links, was missfällt, weil das Sitzen und Besitzen über alles, über alles in der Welt geschätzt wird. Darum ist die Relation zur Qualität erhoben und links und rechts entschweben in die Transzendenz.
Jean Améry sieht wie viele andere die Jugendbewegung in der Rolle des Schrittmachers für die radikale Rechte. Sie bilde durch ihre Verstiegenheit das falsche Bewußtsein, das der Faschismus seinen Zwecken dienstbar mache. Der Vorwurf ist schon gegen Carl von Ossietzky und andere Progressive der Weimarer Republik erhoben worden. Er wird durch seine Aktualisierung nicht besser. Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Ein im Nachnazismus lebendes Volk wie das deutsche zeigt in beiden Staaten noch die Spuren jahrhundertealter Dressur. Wer wollte behaupten, dass die «geistige Verlahmung», die «Verherdung», die Alfred Weber 1946 konstatierte, durch «frei vertiefte Selbstausformung» überwunden sei? Spontaneität, Unbefangenheit des Ausdrucks und natürliche juvenile Arroganz sind dem deutschen Volk gleichermassen zuwider.
Da in der Bundesrepublik eine antikommunistische Ideologie vorherrscht musste das Aufbegehren gegen eben diese Herdenhaftigkeit, wie jegliche Unbotmässigkeit kommunistisch erscheinen, und sie hat sich auch prompt darauf festlegen lassen. Da in der DDR eine antikapitalistische Ideologie vorherrscht, musste die antiautoritäre Regung dort als westlich dekadent und klassenfeindlich erscheinen, und sie hat sich auch prompt darauf festlegen lassen.
Zu sagen, dass die Rechte nur darauf lauere, das von den jungen Leuten «falsch» gebildete Bewußtsein auszunützen, tut den Jungen Unrecht. Sie bilden kein Bewußtsei. Es ist das vorhandene Bewusstsein, das mit ihnen spielt. Jean Améry schiebt der Frankfurter Schule die Verantwortung in die Schuhe. Ach, diese armen Esoteriker. Es ist wahr: Sie kamen eine Weile ins Rampenlicht, und der Aufruhr hat sie umtanzt. Der sensible Theodor W. Adorno ist daran zerbrochen. Aber ihre «Hegelei» ist weit davon, zur Staatsphilosophie der Bundesrepublik zu werden, wie die Hegels zu seinen Lebzeiten in Preussen, als das «Geröll» von jedem Philosophiekatheder kollerte.
Man muss schon ein bisschen weiter zurückgehen als zu den parsifalesken Demonstrationen, die Améry offenbar meint, wenn er vom «fleckenreinen Gewissen» spricht. Davor liegen zwei Jahrzehnte restaurativer Politik in Deutschland, deren Dialektik in einen kompletten Machtwahn mündete, einen Wahn, der alles angriff, auch diejenigen, die ihm opponierten. Davor liegen vergeblicher Kampf für Sozialisierung der Schlüsselindustrien (1947), gegen Wiederaufrüstung (1950), für bessere Bildungschancen (1955), gegen den Übermut der Ämter allgemein und gegen die Parteien (1960), schliesslich gegen die «Notstandsgesetze». Die Aussöhnung mit Polen, der Frieden im Osten waren runde fünfzehn Jahre lang die Sache der ausserparlamentarischen Opposition, ehe die grossen Parteien des Bundestags sich an das heisse Eisen wagten, Szcesny weiss es. Lange ehe Horkheimer und Adorno und Marcuse ins politische Gespräch kamen und ehe die Universität sich politisch regte und dort die Neue Linke entdeckt wurde, hatten wir es mit den Globkes, Oberländers, Seebohms zu tun und mit anderen Repräsentanten der Mehrheitspartei. Sie bildete von 1949 bis 1969 das Bewußtsein der Bundesrepublik, wenn man das irre Gemenge von Phrasen, das gültig war, Bewusstsein nennen will.
Als die Studenten auftraten, war diese Ordnungsmacht, von den Sozialdemokraten mit Hilfe der Grossen Koalition vor dem Bankrott bewahrt, noch stark genug, um mit der Lust einer alternden Katze die neue Maus zur Ablenkung tanzen zu lassen. Es ist nicht verwunderlich, dass die Studenten glauben, sie können ihrer Stärke wegen in die Zeitungen und ins TV; aber ein erfahrener Schriftsteller wie Jean Améry durfte diesem Irrtum nicht erliegen. Wer sich grün anstreicht, den fressen die Ziegen. Was hätte der derangierten Rechten der Bundesrepublik gelegener kommen können, um von der eigenen Misere abzulenken, als Studenten mit roten Fahnen? Von der Inflation abzulenken, von den mehreren Dutzend abgestürzten Starfighters, von der totalen Hilflosigkeit der neuen amerikanisch-russischen Politik gegenüber, von der Agrarpleite der EWG? Und auch das muss gesagt werden: War es nicht leichter für die Rundfunk- und Fernsehleute, polternde Studenten hochzuspielen, hinter denen nichts stand, aber auch gar nichts, als sich, wie es die Verknüpfung der Geschäfte mit sich brachte, die Finger an fast jedem anderen Thema zu verbrennen?
Es gab einen Moment, in der die «Neuen» eine Chance hatten, Bewusstsein zu bilden. Das war, nachdem das war, nachdem der Polizist Kurras den Studenten Benno Ohnesorg erschoss, im Sommer 1967. Sie hatten das Recht auf ihrer Seite, und sie hatten es noch beim Attentat auf Rudi Dutschke. Aber indem die Massenmedien die Studenten zur «APO» schlechthin stilisierten, belasteten sie sie auch mit den Brocken, mit denen schon die ausserparlamentarische Opposition seit 1949 nicht fertig geworden war, und gerade wir nicht, die Intellektuellen der ersten Stunde: Erich Kästner. Alfred Andersch, Gerhard Szczesny darunter, die Gruppe 47, der Nauheimer Kreis, der Linkskatholizismus, der Grünwalder Kreis, die Niemöller, Abendroth, Kogon, Guggenheimer, Mitscherlich, Ridder bis hin zu Rudolf Augstein, Klaus Bismarck und Golo Mann. Die Studenten mussten zum Sündenbock werden, auch wenn ihre reduzierte «APO» nicht der Schuss ins Genick getroffen hätte, den blanker Unverstand zur Befreiung des Herrn Baader 1970 abzugeben für nötig hielt.
Das war das Ende. Als der Berliner Polizeisenator den Steckbrief gegen die mit Baader liierte Ulrike Meinhof anschlagen liess, verkündete er, dies sei der erste (!) Steckbrief, der in Westberlin aushänge. Keine Frage kam auf nach etwaigen früheren Versäumnissen. Kein Sturm der Entrüstung fegte den Steckbrief weg. Und seitdem spukt die «Baader-Meinhof-Gruppe» durch den deutschen Blätterwald wie weiland der Räuber Oleska Dovbush durch die Phantasie der Karpatenbauern. Die Industriegesellschaft hat zur Automatisierung ihre Sozialrebellen dazubekommen, und sie zeigt sich hochbefriedigt. Offenbar hat ihr etwas gefehlt: Zurück in das Dschungel-Gefühl. Auch in diesem Falle sind die vermeintlichen Täter die Getätigten. Die Legende, zu der sie werden, ist nicht die ihre, sondern die der Konsumenten. Gut zu verfeaturen und zu verfilmen; aber nach links führt das nicht, sondern zurück in den Atavismus.
Inzwischen bewegt sich juvenile Arroganz zwischen der Auflösung ihrer heutigen Wirklichkeit und deren dialektischer Strapazierung. Kolakowski sieht, scheint mir, die Klassenprädisposition richtig. Diese verwöhnten Geschöpfe sind spielerisch veranlagt, wie Szczesny, zu Unrecht grollend, aber treffend bemerkt. Sind sie zu bergen, wie Améry will? Wenn ich sie recht verstehe, so wollen sie nicht geborgen sein. Sie sind, obschon sie Proust nicht kennen, kleine Proustiens, soweit man das heute unter erweiterten sozialen Zuständen noch sein kann. Und sie spielen Leninisten, soweit man das, unter erweiterten sozialen Zuständen, noch spielen kann. Gestern anti-autoritär, heute wieder autoritär — auch das führt nicht nach links. Im Ernstfall werden ein paar hundert KP-Funktionäre entstehen, diszipliniert und abhängig, Strammsteher wie eh und je. Das kennen wir schon: Realpolitiker.
Nicht zufällig liegen die Geburtstage der beiden Protagonisten ein Jahrhundert zurück. Das sichert sie vor aktueller Veränderung, und das ist, was der Protest braucht, um sein Potential zu erhalten.
Der Fehler, den die «alten» Linken machen, ist so banal wie ehrenwert. Kolakowski schliesst seinen oben zitierten Essay: «Wer von uns miterlebt hat, wie der Nationalsozialismus entstand, siegte und unterging, der wird einiger bescheidener Wahrheiten eingedenk bleiben, die es sich lohnt, immer wieder einmal auszusprechen:
— Aggressivität und die Bereitschaft, Terror auszuüben, sind nicht unbedingt identisch mit revolutionärem Humanismus;
— eine anti-bürgerliche Phraseologie ist noch kein zwingender Beweis, dass ihre Verkünder die Interessen der Unterdrückten wahrnehmen
— das Anzünden von Bibliotheken ist kein untrügliches Anzeichen dafür, dass die Brandstifter auf einer höheren Kulturstufe stehen;
— das Ausplündern von Individuen ist nicht unbedingt der Weg sozialer Gerechtigkeit;
— die Unfähigkeit zu einer vernünftigen Diskussion und der Gebrauch von Drohungen anstelle von Argumenten sind noch kein schlüssiger Beweis, dass der Betreffende im Recht ist.
Eine Linke, die nicht die Vernunft, das Wissen, die Toleranz, die Überzeugungskraft und die Unterstützung sowohl der Arbeiter wie der Intellektuellen für sich hat, wird im Falle ihres Sieges nichts weiter sein als ein mit sozialistischen Spruchbändern ausgeschmückter Faschismus.»
Das ist wahr. Wer es weiss, muss es sagen. Aber es ist zugleich das Bekenntnis einer Generation, die gelernt haben sollte, dass darin keine Hoffnung sein kann, jemanden zu bergen. Schon die ersten Bücher von Albert Camus, «Der Fremde» und «Der Mythos von Sisyphos», haben diese Erfahrung verarbeitet. Haben wir nicht gelernt, Geduld zu haben? «Die Pest» hat gezeigt, wieweit der Geist die absurde Welt beherrschen kann und inwieweit nicht. Sind wir je darüber hinausgekommen?
Ob die Neue Linke verstiegen, gestrandet oder rigoristisch ist, das können ihr nicht die Alten sagen. Das muss sie selber erkennen. Jede Generation hat ihre eigene Pest. Die Krankenpflege, mit der Camus gegen unsere Pest revoltierte, muss nicht die Wahrheit der Jungen sein. Sicherlich ist sie die unsrige. Aber wir sind nicht das Weltgericht. Wir wissen, dass man nicht viel tun kann. Wir sind allenfalls ein Club Camus, dessen Revolte im Schreiben besteht. Tausendmal missglückter und tausendmal erneuerter Versuch ohne Hoffnung, Jedenfalls kann die Revolte nicht gegen die Jungen enden. Sie unterliegen dem Irrtum, sich für Realisten zu halten. Wir sehen, dass sie sich unterwerfen, indem sie vorgeben, zu verändern.
Arbeiten wir also weiter.