Ernst Cassirer, geboren 1874 zu Breslau, gestorben 1945 in Princeton, ist einer aus der großen Generation, die um 1900 zu voller Entfaltung kam. Zehn Jahre jünger als Max Weber, etwas gleichaltrig mit Lenin, fünf Jahre älter als Einstein, wuchs der Berliner Jura-Student in den, Konflikt zwischen hegelianischem Idealismus und materialistischem Positivismus hinein, der das Fin de siecle kennzeichnete.
In Berlin hörte Cassirer den Privatdozenten Georg Simmel. Er lehrte, daß wir das Äußere der Menschen nur nach untergelegten Innerlichkeiten verstehen, daß aber die Analogie aller praktischen und Erkenntnisbeziehung, die damit zwischen den Subjekten vorgenommen wird, hypothetisch bleiben muß. Denn die Verknüpfung der inneren Vorgänge mit ihren Äußerungen ist nur ein Schluß auf die Erfahrung, dem Irrtum wie der Täuschung ausgesetzt. Simmel las auch über Kant. Dabei sagte er, die besten Bücher über den „Alleszermalmer“ habe Hermann Cohen in Marburg geschrieben, er müsse jedoch bekennen, daß er sie nicht verstehe. Cassirer wollte sie verstehen. Er wechselte das Fach. Er zog nach Marburg.
Hermann Cohen hat mit „Kants Theorie der Erfahrung“ (l871) als Nachfolger von P. A. Lange und als Gefährte von Paul Natorp, die „Marburger Schule“ des Neukantianismus getragen. Er fand bald, der junge Cassirer könne von ihm nichts lernen – das beste, was ein Lehrer an seinem Schüler finden kann. Aber, wer war da in der zweiten Hälfte der 1890er Jahre nicht im Studentenalter? Die Brüder Mann, Hofmannsthal, Karl Kraus, Chesterton, Buber, Schönberg, Paul Valery, Rutherford und Else Lasker-Schüler — die Zusammenhänge müssen noch erschlossen werden.
Das exoterische Verdienst der neukantianischen Schulen in Marburg und Heidelberg (Windelband, Rickert, Lask— mit der Blüte uni 1910: Bloch, Lukacs, Plessner, Radbruch, Mannheim…) scheint mir in zwei Sätzen formulierbar: Erstens, die Vernunft ist der Grund unserer Erkenntnis der Dinge, aber nicht der Dinge selbst. Zweitens, die Wissenschaft. nähert sich den Objekten in einem mühseligen Prozeß, ohne sie je zu erreichen.
Von hier aus bieten sich zwei Wege an, weiter zu forschen. Man kann versuchen, doch noch das „Wesen“ oder das „Ding an sich“ auszumachen, das dem menschlichen Verkehr Halt gibt. Lenin der vom Neukantianismus und dem Empiriokritizismus von Avenarius
ausging, hob in seiner Abbildtheorie Logik, Erkenntnistheorie und Dialektik auf. Die Erkenntnisse „spiegeln“ die Wirklichkeit wider. Die Praxis wird zum Kriterium der Erkenntnis. Was freilich bei ihm noch nicht heißt, daß die Erkenntnis stimmt, wenn die Praxis von den Beschlüssen des ZK der KP dirigiert wird. Immerhin führt dieses Denken über Marburg wie über Marx und Engels hinaus, indem es Begriffe für denkerische Nützlichkeit gibt.
Ernst Cassirer ging den anderen Weg, hinter Kant zurück auf Leibniz, von dort vorwärts zur Frage der Gültigkeit von Begriffen. Theorie denkt sich Inhalte in der Form einer geordneten Mannigfaltigkeit, wenn sie Gegenstände angeht. Der „Begriff“ ist nicht abgeleitet, sondern vorweggenommen: ,Die Totalität der Wirklichkeit läßt sich nur mit Hilfe geistiger Bilder, symbolischer Formen ergreifen, und es ist die Aufgabe der Philosophie, jene geistig-seelischen Funktionen zu beschreiben, welche die Struktur dieser symbolischen Formen bestimmen“, erläutert sein Freund und Schüler Dimitrov Gawronsky. Cassirers Position traf auf den Widerspruch der Metaphysiker und Materialisten. Nur durch das Eintreten Wilhelm Diltheys erhielt er eine Venia legendi an der Berliner Universität, und erst spät, 1917, erreichte ihn ein Ruf an die neugegründete Universität Hamburg.
Wenn, wie Cassirer anzunehmen guten Grund hatte, die Symbolik das unentbehrliche Mittel der Begriffsbildung ist, so unterhält sich der Mensch in seinem Umgang mit der Welt ständig mit sich selbst. Gesetzlichkeit und logische Struktur der Erfahrung binden Begriffsbildung und Ausdrucksformen eng aneinander. Nicht das Ich, noch sein Verhältnis zu den äußeren Gegenständen, bestimmen die Lehre Kants, sondern die Suche nach der logischen Grundform der Erfahrung überhaupt. Cassirers logistische Erkenntnistheorie geht darüber hinaus. Sie trennt das an die Sprache gebundene Denken von den mimischen, gestischen, bildlichen Medien der Erfahrung, wie Cohen der Ratio zwar den Primat, dem Wollen und Fühlen aber eine zentrale Rolle für das Erkennen zubilligte.
Cassirers Symboltheorie enthält den Verdacht der Machbarkeit symbolischer Formen bis hin zu Ritual und Mythos. Der Glaube an Wort-, Schrift- und Bildzauber kommt dieser Machbarkeit entgegen. So sah Cassirer die politische Mythenbildung in den zwanziger und dreißiger Jahren mit Sorge, sein letztes Buch „Vom Mythus des Staates“ (1945) summiert die Erfahrung In Cassirers negativer Einschätzung des Mythos gründete 1928 die scharfe Kritik Heideggers, für den der neue Mythos, indem er „anwest“, das „waltende Verborgene“ war.
Der polnische Philosoph Adam Schaff hat bemerkt, wo Cassirer ende, fange das Problem erst an. Aber wo endet Cassirer? Wenn, wie er annimmt, Sprache, Wissenschaft, Kunst, Religion, Mythus bei allen ihren Verschiedenheiten Glieder eines Problemzusammenhangs sind, so setzt jede Arbeit an dem verwirrenden Gewebe menschlicher Erfahrung Cassirers Denken fort, sofern sie kritisch bleibt und sich nicht in die Bündigkeit eines Mythus einschließt.