Heute vor fünfzig Jahren ist in seinem New Yorker Exil der deutsche Philosoph Ernst Cassirer gestorben. Eine preisgünstige Werkausgabe und zwei Bücher über Leben und Werk erinnern an den Autor der «Philosophie der symbolischen Formen».
Fünfzig Jahre nach dem Tod von Ernst Cassirer macht der deutsche Philosoph Heinz Paetzold in zwei Büchern deutlich, wie eng Cassirers philosophische Entwicklung mit den politischen Konstellationen seiner Zeit verbünden war. Nicht nur, dass der blauäugige, blonde Grossbürger alle Variationen des deutschen Antisemitismus zu erleiden hatte: Er musste die Heimat verlassen, als er schon einer der berühmtesten Philosophen war.
Schon seine Habilitation vor dem Ersten Weltkrieg hatte sich verzögert. Man wollte 1910 den Schüler des Erkenntniskritikers, Sozialisten und frommen Juden Hermann Cohen nicht haben, so wie die Heidelberger Fakultät Georg Simmel, den Begründer der for-
malen Soziologie in Deutschland, nicht haben wollte. Es war die Zeit, in der jüdische Gelehrte ihren Forschergeist in neue Disziplinen einbrachten, weil alte ihnen verschlossen blieben.
Ernst Cassirer verdankte seine entscheidende Eingebung dem Erforscher der Radiowellen, Heinrich Hertz, und dem Physiker Helmholtz. Beide begriffen gegenständliche Erkenntnis als eine Relation von Zeichen. Das lag für Naturwissenschaftler nahe. Cassirer übertrug das Modell in die Geisteswissenschaften und ermöglichte damit ein neues Verständnis von Kultur. Dass wir es nicht mit Abbildern in unseren Empfindungen und Vorstellungen zu tun haben, sondern mit Symbolen, war 1921, als Cassirer den Ausdruck «symbolische Formen» in die Kulturwissenschaft einführte, nicht so offensichtlich wie 1995, wo konkret wahrnehmbare Zeichen die Menschheit elektronisch mit fremdbestimmten Bedeutungsinhalten vernetzen.
Paetzold vergleicht in seiner Studie «Die Realität der symbolischen Formen» als ungefähr gleichzeitige Publikationen die «Dialektik der Aufklärung» mit Cassirers «Mythus des Staates». Das ist philosophiegeschichtlich interessant, weil Nach-Denker von He-
gel und Marx sowie von Kant hier am politischen Ergebnis zusammentreffen. Beide, Horkheimer/Adorno einerseits, Cassirer andererseits, sehen die Gesellschaft «technisch verschleiert». Cassirer schreibt, dass Mythen hergestellt werden wie Maschinengewehre. Die Differenz ergibt sich für Paetzold aus der Frage nach der «emanzipatorischen Möglichkeit» der Befreiung. Sie bleibt bei den Frankfurtern auf die begriffliche angewiesen.
Cassirer schliesst im «Mythus», es gelte, den Ursprung, und die Technik der politischen Mythen sorgfältig zu studieren, und er fordert zu demütiger Betrachtung auf: «Unsere Wissenschaft, unsere Dichtung, unsere Kunst und unsere Religion sind nur die obere Decke einer viel älteren Schicht, die in grosse Tiefe hinabreicht. Wir müssen immer auf heftige Erschütterungen vorbereitet sein, die unsere kulturelle Welt und unsere soziale Ordnung (…) erschüttern können.»
Die philosophische Biographie, die Paetzold Ernst Cassirer gewidmet hat, zeigt den Denker 1919-1933 auf dem Höhepunkt seiner Wirksamkeit in Hamburg. «Durchbruch zur Kulturphilosophie» überschreibt er das Kapitel. Den Aufsätzen zur deutschen Geistesgeschichte aus dem Kriegsjahr 1917 «Freiheit und Form» folgen ergänzend die zu «Idee und Gestalt».
1923 wird im ersten Band der «Philosophie der symbolischen Formen» erklärt: Diese seien nicht ein für allemal, sondern changierten in ihren Funktionen. Schon zwei Jahre später folgt der Band über das mythische Denken; aber die politischen Mythen der Zeit nimmt der Hamburger Ordinarius kaum ernst, obwohl ihre Symbolik den öffentlichen Raum besetzt.
Hitlers «Mein Kampf» erschien 1925. Cassirers politisches Sensorium war schwächer ausgebildet als sein philosophisches. 1928 verteidigte er «Die Idee der republikanischen Verfassung», als schon Faschisten aller Art die Studentenschaft spalteten, und in einem Vortrag «Wesen und Werden des Naturrechts» stellte er die normative Rückbindung des Rechts auf Prinzipien der
Demokratie dem «Notstandsdenken» der Politik gegenüber. Schneller als gedacht überkommt der Nazismus diese sozialliberale Welt aufgeklärter Bürgerlichkeit. Oxford bietet dem Sechzigjährigen Gastfreundschaft. In Göteborg wendet er sich der Ethik zu. Ab 1941 in der «Neuen Welt» von Yale und New York entstehen dann die sozialphilosophischen und anthropologischen Erweiterungen der Kulturphilosophie, die im «Mythus des Staates» zum politischen Urteil befähigen.
Ethische Freiheit ist für Cassirer wie für Kant keine Tatsache, sondern eine Forderung. Die modernen politischen Mythen befreien den Menschen aus diesem Dilemma, indem sie ihm die persönliche Verantwortung abnehmen. 1995 schliesst Paetzold seine Biographie Cassirers mit der Bemerkung, dass Katastrophen wie der Faschismus aus einer «kurzschlüssigen Fusionierung autonomer symbolischer Formen» resultieren: «Technik und Mythos werden ineinander verzahnt und transformiert, ohne dass eine normative Instanz als Regulativ wirksam werden kann.» Diese Aussage trifft auch den gegenwärtigen Gesellschaftszustand. Cassirer hatte vor Wiederholungen gewarnt.
Heinz Paetzold: Ernst Cassirer. Von Marburg nach New York. Eine philosophische Biographie. Heinz Paetzold: Die Realität der symbolischen Formen. Die Kulturphilosophie Ernst Cassirers im Kontext.
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen.
(Alle Bände bei: Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1994/95.)