Die alte Photographie, rot-bräunlich, noch nicht schwarzweiß, zeigt von links einen zarten Männerkopf mit vollem, in den Nacken sich wellendem Haar. Die Stirn ist hoch und glatt. Ein auffallend großes Ohr. Die Brauen wölben sich. Auf der Nase ein Zwicker, kaum größer als die ernsten Augen. Oberlippe, Mund und Kinn verschwinden in einem schütteren Vollbart, mit Silberfäden durchsetzt. Darunter ein Plastron, weißes Hemd, dunkler Tuchanzug mit eingefaßtem Revers, Weste, die Arme über der eingefallenen Brust gekreuzt. Joel-Heinzelmann, Charlottenburg, Hardenbergstraße 24, hat das Portrait fotografiert. Es stellt Gustav Landauer vor. Es präsentiert ihn, und ich vermute in einem seiner Berliner Jahre, als er mit Frau und Kindern in Hermsdorf lebte und sie mit Kleinhonoraren und Übersetzungsaufträgen ernährte.
Das Bild könnte den Mann erfaßt haben, der am 13. Dezember 1908 an die Sozialistin Auguste Hauschner schrieb: »Der Glaube an die Erreichung des ›Ziels‹ in irgend absehbarer Zeit ist mir nicht mehr nötig; nur der Glaube an die Sache. Wenn man genug Enttäuschungen hinter sich, genug Kenntnis unserer Menschen und Zeiten in sich hat, braucht einen keinerlei Resignation zu hindern, seinen Weg zu gehen.« Es könnte aber auch den Landauer wiedergeben, der an dieselbe Bekannte am 10. Januar 1910 schrieb, ihre traurige Stimmung müßte ihn fast traurig machen; aber sie wisse eben nicht, daß er im Grunde ein fester und heiterer Mann sei: »Ich mache mich von alldem, was mir als Betätigung notwendig ist, nicht einen Augenblick innerlich abhängig; das Motto meiner sozialistischen Versuche könnte sein: ohne Hoffnung. Das wäre Verzweiflung — wenn meine Aktivität Abhängigkeit wäre; so aber ist sie nur meine Notwendigkeit, und wenn die Wirkung nicht kommt, bin ich immer, der ich bin. Wenn Sie es nicht als eitel auslegen wollen, darf ich sagen: auch diese Aktivität ist eine Art der Kontemplation, wie sie mir eben gegeben ist. — Mein Glück habe ich in mir, in der Frau und den Kindern und den wenigen Freunden…«
Gustav Landauer war vierzig, als er das schrieb, und er hatte noch zehn Jahre zu leben. Seine Lebenszeit umfaßt die fünf Jahrzehnte des Bismarckreiches. Er wurde in Karlsruhe am 7. April 1870 geboren; ermordet wurde er in München am 2. Mai 1919. Die großherzoglich-badische Residenz der siebziger und achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts war eine Beamtenstadt mit bescheidenem Gewerbe und einer changierten Bevölkerung, in der sich der alemannisch-katholische Süden des Ländchens mit dem fränkisch-pfälzischen und zum Großteil protestantischen Norden traf, eingesessenes Judentum und zugewandertes Volk dazwischen.
Die Revolution von 1848/49 lag erst zwanzig Jahre zurück, als Landauer geboren wurde, noch hatte das Volk die Niederlage nicht verwunden. Seine Liberalität enthielt einen anti-preußischen Affekt, mit dem das Herrscherhaus rechnen mußte. 18000 Mann Revolutionsarmee hatten 1849 für eine Weile den »Freistaat Baden« ermöglicht. Hunderte von Jahren Zuchthaus, vierzig Todesurteile, großes Elend in vielen Familien bewahrten die Erinnerung an den Sieg der »Ordnungskräfte« unter dem »Kartätschenprinz«, dem jetzigen Kaiser Wilhelm I., für lange Zeit. Die Entwicklung im annektierten Elsaß, ein paar Kilometer vor der Stadt über dem Rhein, wurde aufmerksam verfolgt. Der französische Revolutionismus, der sich so schwer mit der deutschen Philosophie verträgt, war in allen Bevölkerungsklassen überliefert, der Revolutionär Hecker unvergessen. »Heckerisch« bezeichnete in der Umgangssprache einen aufsässigen, eigensinnigen Menschen, und deren gibt es auch in den Gründerjahren noch genug. Die Theater bringen Ibsen und Wagner. Sie beeindruckten den Gymnasiasten Landauer tiefer als die Schule, die ihn für vorzügliche Leistungen auszeichnete, die aber, wie es sich für eine gute Schule geziemt, sich nicht mehr aufdrängte, als unvermeidlich. Das ganze Leben zur Schule machen zu wollen, war ein dem badischen Unterrichtswesen fremder Ehrgeiz. Es wäre auch nicht weit damit gekommen.
1861 war die Gewerbefreiheit verkündet worden. Kammern der Selbstverwaltung entstanden sogleich. Da aber die industriellen Kleinbetriebe überwogen, blieben die Lohnarbeiter auf dem Dorf oder pendelten in die Städte. Das Industrieproletariat blieb unanschaulich, verstreut und ohne den Masseneffekt der englischen, nord- und ostdeutschen Industriezentren. Für Landauers Eltern war die volle bürgerliche Gleichberechtigung für die Juden wichtig, und ihm selber kam die 1876 eingeführte Simultanschule zugute, die anstelle der konfessionellen Schulen Katholiken, Evangelische, Alt-Katholiken und Juden in sich vereinte. Der badische Liberalismus blühte; aber er brauchte noch bis zum Jahre 1904 zum allgemeinen, geheimen und direkten Wahlrecht.
Eine nur undeutliche Vorstellung von den strukturellen Problemen der industriellen Massengesellschaft, die in Baden kaum im Fabrikzentrum Mannheim zu gewinnen war, geschweige denn in der Residenzstadt Karlsruhe, hielt den jungen Landauer von der Sozialdemokratie fern. Andererseits war ihm die Freisinnige Partei nicht frei genug. Er dachte grundsätzlicher, libertär, nicht liberal. Vielleicht darf man sagen, er betrieb für sich Grundlagenforschung, wie zu Landauers Schulzeit die beiden jüdischen Gelehrten Heinrich Hertz und Fritz Haber in ihren Laboratorien an der Technischen Hochschule in Karlsruhe.
Der jüdische Geist hat in den Jahrzehnten seiner bürgerlichen Emanzipation Neuland für jedermann gewonnen, indem er sich selbst Betätigungsfelder erschloß in der Wirtschaft, in den Wissenschaften, in den Künsten. Wie anders hätten die Juden sich gegen die gängige Routine durchsetzen können, wenn nicht durch Innovationen? Darin glichen sie den Handwerkern, die zur gleichen Zeit anfingen, Motoren zu bauen, neue Maschinen, den Kraftwagen. Wie anders, wenn nicht durch Vor-denken, worüber die Christen nicht nach-dachten, sollten sie selber vorankommen? Aus der Not der Nichtanerkennung haben die Juden die Tugend der Erkenntnis gemacht auf fast allen Gebieten, die den wissenschaftlich-techni sehen Sprung des alten verträumten Deutschland an die Spitze der Industriewelt ermöglichten. Was wäre die »elektronische Revolution« heute ohne Heinrich Hertz, ohne die industrielle Elektrifizierung von Emil Rathenau? Wo stünden Industrie und Landwirtschaft ohne Fritz Habers Ammoniaksynthese, wo die Physik ohne Einsteins Relativitätstheorie, wo die Heilkunde ohne Freuds Psychoanalyse — um nur ein paar Namen zu nennen?
Der junge Landauer nahm Nietzsche und Schopenhauer auf. Er vereinsamt sich, in seinem Judentum ungeschmälert, mit Spinoza; aber seine Hoffnung setzte er in Ibsens Gesellschaftskritik. Allein die Entfaltung und Vervollkommnung der Individuen berechtigt dazu, auf eine bessere Gesellschaft zu hoffen. Germanistische und philosophische Studien in Heidelberg 1888/89 und Berlin führten nicht weit. Der Dreiundzwanzigjährige veröffentlichte einen ersten Roman, »Der Todesprediger«, der zehn Jahre später, 1903, sogar eine zweite Ausgabe erleben sollte. Aber nicht als Romancier, sondern als politischer Agitator machte sich Landauer einen Namen. Von 1892 bis 1894 redigierte er ein eher marginales Organ der Anarcho-Syndikalisten in der linken Bewegung, »Der Sozialist«. Sein »Weg zur Befreiung der Arbeiterklasse« orientierte sich nicht an Marx und Engels, sondern an Proudhon und verlief schon deshalb abseits der großen Straße der deutschen Sozialdemokratie. Sie verfolgte die sogenannten »Jungen« mißtrauisch. Für die Obrigkeiten machte er sich damit um so verdächtiger. Das ist ja wohl bis zum heutigen Tage so geblieben, hört man sich die Denunziation der so genannten Chaoten durch die institutionell vereinte Linke und Rechte an. Die Unterscheidung von »links« und »rechts« ist nur im räumlichen Rahmen, innerhalb einer Institution sinnvoll. Sie hängt davon ab, in welche Richtung man blickt. Die Versuchung aber, aus grundsätzlichen Erwägungen entsprechende Konsequenzen zu ziehen, weist über solche Rahmenbedingungen hinaus. Sie muß Widerspruch hervorrufen, denn sie verunmöglicht den Kompromiß, der doch das Politische konstituiert.
Wegen Aufforderung zum Ungehorsam gegen die Staatsgewalt und Aufreizung wurde Landauer 1893 gleich zweimal verurteilt. Die Vorstrafen vereitelten 1895 einen Immatrikulationsversuch an der Medizinischen Fakultät in Freiburg. Vielleicht wäre Gustav Landauer mit seinen diagnostischen Fähigkeiten und seiner therapeutischen Phantasie ein guter Arzt geworden; aber inzwischen war ihm auch bewußt, daß ihm die »lumpigste journalistische Existenz« lieber war, als den Schriftstellerberuf aufzugeben. Eine radikale Entscheidung um so mehr, als er mit seiner ersten Frau, Grete Leuschner, einer Schneiderin ohne Werkstatt, kurz nacheinander zwei Kinder bekam und mit 150 Reichsmark im Monat die Familie samt Schwiegermutter ernähren sollte.
»Ich glaube, daß Du Dich darein versetzen kannst«, schrieb er im Mai 1895 aus Berlin, »vielen Leuten kommt es nur auf eine auskömmliche Existenz an, um im übrigen ihren Neigungen leben zu können; in mir lebt etwas, das mir höher ist als alles andere und das einen guten Teil meiner Zeit in Anspruch nehmen will. Dieser Teil meines Selbst konnte sich ausleben, als ich meinen Roman schrieb; und es war auch in anderer Seite befriedigt in meiner Redaktionstätigkeit.« Dieser Brief an den Vetter Hugo Landauer in Ulm liest sich nicht viel anders als Post von jungen Bürgersöhnen heute, die dem Trott der Eltern nicht folgen wollen. Sie belegen den Wertewandel in einer rasch sich verändernden Gesellschaft. Auch erstaunt nicht mehr, daß der Vater, ein kluger, auf das Nächstliegende achtender Schuhwarenhändler, Karlsruhe, Kaiser-Allee 25 b, sich vom Sohn distanzierte, als dieser einer Brandrede wegen für elf Monate im Strafgefängnis Plötzensee eingesperrt wurde.
Was aber war »das Höhere« außer der Befriedigung des Schreibens? War es »die ohnmächtige Wut der Gernegroß-Studenten, Literaten und literarisch werden wollenden Exarbeiter darüber, daß unsere Partei ihren Siegeslauf ruhig vorangeht, ohne die Hilfe dieser Herrchen im geringsten zu bedürfen«, wie Engels einem der »Jungen«, dem Schriftsteller und Genossenschafter Hans Müller, unterstellte? Jener »Esel« merke nicht, informierte Engels den Genossen Bebel, daß von revolutionärer Gewalt keine Rede sein könne, wenn keine reaktionäre Gewalt da sei, die man umwerfen müsse.
Landauer hätte Engels‘ Taktik unterschreiben können, hätte er dessen Prämisse geteilt, daß die Revolution etwas sei, das gemacht werde, um dann alles zu bessern; aber das glaubte er nicht. Am stärksten beeindruckten der Anarchist Benedikt Friedländer und der Sozialreformer Moritz von Egidy den jungen Sozialisten. Egidy hatte seine Offizierskarriere aufgegeben und in seinem Buch »Ernste Gedanken« seinen Übertritt zum Volk begründet. Das machte Aufsehen. Die Verheißung, daß durch taktisches Verhalten die endgültige Wende eintrete, erkannte Landauer früh als einen Mystizismus. Auch er sprach, fünfundzwanzigjährig, über die »Forderungen der Anarchie an unsere Zeit« und ähnliches in zahlreichen, von der Polizei gut besuchten Versammlungen (bei einem Vortrag im März 1896 waren im Nebenzimmer des Lokals allein 22 uniformierte Schutzleute versammelt, die Geheimen nicht eingerechnet), und er sprach möglichst harmlos, taktierte also. Aber die Revolution, die er meinte, war weder auf den zum Mythos verdichteten Klassenkampf noch auf den famosen Naturprozeß einer unausweichlich kommenden Diktatur des Proletariats gegründet. Sie begann und endete mit der Aufforderung, die Grundvoraussetzungen jeder Ordnung immer wieder in Frage zu stellen, auch diejenigen der rationalistischen und die der persönlichen Ordnung.
Alle Ordnungen tendieren dazu, das Individuelle zu unterdrücken, die »Gewalt des Geistes« zu entkräften. Die Aufgabe war, dagegen anzugehen. »Mein allgemeiner Eindruck«, berichtete Landauer vom Londoner Sozialistenkongreß im August 1896, »war ein äußerst befriedigender, was unsere revolutionäre Bewegung und ihre Fortschritte, aber ein ziemlich katzenjämmerlicher, was die Arbeiterbewegung im allgemeinen angeht. Vor allem auch die Engländer sind in puncto Aufklärung und rebellisches Denken und Fühlen ebensoweit zurück, wie sie in der Organisation voraus sind. Viel Freude haben uns die Franzosen gemacht; der Anarchismus in Verbindung mit der Gewerkschaftsorganisation macht dort enorme Fortschritte; und die Politiker aller Richtungen werden tödlich gehaßt…« In dieser Zeit war die Oligarchisierung der deutschen Arbeiterbewegung schon ihr stärkster Impuls.
Friedrich Engels war zeitlebens ein Bewunderer des großen Strategen Clausewitz. Die allgemeine Wehrpflicht, die »Schule der Nation«, erfaßte auch die Arbeiter. Militärische Disziplin und die Ordnungsvorstellungen bestimmten die Arbeitswelt im Deutschen Reich. Gegen diese soziologischen Bedingungen konnte sich keine Anarchie durchsetzen, wie Kant sie definiert hatte: »Gesetz und Freiheit, ohne Gewalt«, eher schon »Gesetz und Gewalt, ohne Freiheit« — was Kant den »Despotism« genannt hat. Landauers Denken war gegen jede Gewalt.
Als Redakteur des »Sozialist« diktierte Landauer seine Artikel zeitweise dem Setzer Müller direkt in die Maschine, damit die Polizei nicht vorher das Manuskript kassieren konnte. Seine Genossen booteten ihn 1897 aus, weil er zu hohe Ziele in zu hoher Absicht ansprach. Nun ernährte er seine kleine Familie mit Übersetzungen, Zeilenhonoraren und Erlösen aus literarischen Vorträgen.
»Wie eine Mischung von Christus und Don Quixote sah er aus. Leidend und in sich gekehrt. Aber doch verträumt glücklich. Sanft und abgeklärt. Charakteristisch der mächtig weit ausgreifende Gang des übergroßen Mannes, dessen hagerer Körper in einem Pelerinenmantel schlotterte.« So beschrieb ihn sein und unser Zeitgenosse Johannes Fischart (= Ernst Dombrowski) in einem seiner Publizisten-Portraits.
Landauer war ein Be-sonderling mehr als ein bloßer Sonderling. Ein wenig absonderlich schon; aber auch nicht atypisch darin. »Durch Absonderung zur Gemeinschaft« zu kommen, war nicht nur seine Idee, sondern die zahlreicher Intellektueller der Jahrhundertwende. Sie bildeten allenthalben Zirkel von Eingeweihten, um sich im linearen Prozeß der wirtschaftlich-technischen Expansion zu behaupten. Dreißig Jahre nachdem Jacob Burckhardt vorausgesagt hatte, daß in Deutschland die Einheiten zugrunde gehen müßten, »in denen der Geist warm saß«, suchte der fast dreißigjährige Landauer Zuflucht in der »Neuen Gemeinschaft« der Brüder H. und J. Hart. Er fand dort nicht, was er suchte; aber er lernte Martin Buber kennen und zur selben Zeit die Lyrikerin Hedwig Lachmann. Buber hat die ersten Briefe der beiden in den Band »Ein Lebensgang in Briefen« aufgenommen, der 1929 herauskam. Landauers Ehe mit Grete Leuschner wurde aufgelöst, und man hat sich für die letzten zwanzig Jahre Leben und Werk Landauers mit Hedwig Lachmann in eins zu denken. Ihre erste gemeinsame Übersetzung war Oscar Wildes »Der Sozialismus und die Seele des Menschen«, 1903; aber weit wichtiger wurde die Bekanntschaft mit Peter Kropotkin.
Landauer fand, ähnlich wie vorher in den Schriften Proudhons, eigene Vorstellungen in Kropotkins Streitschrift gegen den Darwinismus »Die gegenseitige Hilfe in der Entwicklung«. Er übersetzte sie. Die Arbeiten des fast dreißig Jahre älteren Kropotkin wurden fortan zum festen Bestandteil der Landauerschen Publizistik. Ihn faszinierte, wie ein junger Offizier der Amurkosaken bei der Erforschung der Geographie Sibiriens und der Mandschurei Sachlichkeit, Einfachheit, Genügsamkeit der Stämme und Völker dieses Erdteils kennengelernt und aus einem weitgespannten ethnologischen Verständnis seine anarchistischen Konsequenzen gezogen hatte.
Kropotkin hatte gesehen, daß Disziplin versagt, »wo es auf Wirklichkeit ankommt«, aber Verständigung und Freiheit das Leben schaffen. Er schied aus dem Militärdienst und der fürstlichen Familie und begann, fünfundzwanzigjährig, zu studieren. Er lernte und übte nach dem Zusammenbruch der Pariser Kommune im Umgang mit den Uhrmachern der Jura-Föderation, »daß es keine größere Freude für den Mann des Geistes gibt als Brüderlichkeit und keine größere Scham für den Geist als Mißverhältnis der Herrschaft«.
Revolution hieß ihm der Augenblick, in dem die konstruktiven Kräfte strahlend über den Schlendrian aufsteigen; Landauer verkündete sie später als »ein Bad des Geistes«. Kropotkins Stärke nannte er dessen Begabung, hinter den Verwirrungen das Einfache zu sehen, so wie er das sibirische Hochland erkannt hatte. Der Blick für das Verworrene ging ihm ab. Dostojewski verstand er nicht; er verehrte Tolstoi, von dem ihn doch der tiefe Graben zwischen Relativisten und Absolutisten trennte.
Rebellisches Denken und Fühlen, Aufklärung — dies war für Landauer »das Höhere«, nicht der Tagesstreit um irgendeiner irgendwann kommenden Revolution willen. In Hardens »Zukunft« vom 5. Januar 1895 hatte Landauer dargelegt, was er unter »Anarchismus in Deutschland« verstand. Die Berichte über die Versammlungen, auf denen er sprach, weisen aus, daß Revolution, wie er sie begriff, lebte.
Von Egidy hatte Landauer sich zu einem Leitartikel »Der Dichter als Ankläger« anregen lassen. Er riskierte eine Verleumdungsklage, um die Wiederaufnahme eines — wie er glaubte — ungerechten Prozesses zu erreichen. Die Sache ging übler für ihn aus, als für Zola sein »J’accuse« in der Dreyfus-Affäre. Als der Wahrheitsbeweis angetreten werden mußte, war der Zeuge Egidy tot, und Landauer ging 1899 für sechs Monate ins Gefängnis Tegel:
»Was dem Mittelalter das Kloster, das kann uns Modernen das Gefängnis sein. Die Esel, die uns diese Kur vorschreiben, wissen gar nicht, welche Wohltat sie manchem schon erwiesen haben. Ich habe da innen früher einsame Wonnestunden ohnegleichen erlebt und die Kraft des Leids hat sich mir erprobt… Und was Erinnerungsfreuden und Feste der Seele sind, weiß niemand, der nicht ähnliches erlebt hat.«
Der Vergleich der Gefängnis- mit der Klosterzelle kommt nicht von ungefähr. Der Skeptiker, der den gesellschaftlichen Umständen mit forschendem Mißtrauen begegnete und sich der Sozialdemokratie nicht anvertrauen konnte, weil er ihr politisches Urteil für unzuverlässig hielt, wurde in der Abgeschlossenheit der Zelle zum Mystiker. Wie in Ibsens sozialen Dramen fand der soziale Zweifel seinen Halt im Versenken der Seele in sich selbst; aber damit mußte auch der Zweifel am Unvermögen der Sprache sich verstärken.
Landauer arbeitete im Gefängnis an Fritz Mauthners »Beiträgen zu einer Kritik der Sprache« so intensiv, daß man ihn eigentlich als den Mitautor des ersten Bandes bezeichnen müßte. Gleichzeitig begann er, die mittelhochdeutschen Predigten des Meister Eckhart zu übersetzen. Die 16. Predigt war ihm besonders wichtig. Der Rede vom völlig Unaussprechlichen unterstellte er das Bewußtsein der Skepsis. Die besten Mystiker, schrieb er 1910 an seinen jungen Kritiker Ludwig Berndl, »wissen immer: es ist nicht so, wie wir sagen, wir sagen Unmögliches, und wenn’s einer wörtlich nehmen wollte, käme heilloser Unsinn heraus«. Landauer war ganz mit Mauthner einig, daß man die Menschen hinter den Worten kennen muß, um sie zu verstehen, also Worte erst verstehen kann, wenn man schon sich versteht. Auf Neu-Deutsch also: Kommunikation geht der Information voraus: »Man spricht, um sich zu verstehen; versteht aber nur, was gesprochen wird, wenn man sich schon versteht.« Cohen, Husserl, Jaspers, Heidegger, Löwith sollten ein philosophisches Haupt-Thema der zwanziger Jahre daraus machen, und es beschäftigt uns noch immer, was Landauer selbstverständlich zu sein schien. »Dieser Meister Eckhart, der zu Beginn des 14. Jahrhunderts wirkte«, schrieb er an Hedwig Lachmann, »wird gewöhnlich ein deutscher Mystiken genannt, wobei man sich aber ganz gewiß das Richtige denken kann. Er war nämlich ein sehr klarer, nüchterner, sogar manchmal spitzfindiger Geist, bei dem das Verstandesleben das Empfinden durchaus überwog; ein Pantheist mit außerordentlich tiefen, uns wie modern anmutenden Gedanken und einer entzückenden, schönen und schlichten Prosa.«
Man spürt die Unruhe aus diesen Sätzen, die es Landauer bereitet haben muß, von einer Strömung erfaßt zu sein, die spätestens seit dem 17. Jahrhundert als der überwundene Gegensatz zum herrschenden Rationalismus galt. Tiefer: Wie ließ sich das Unbehagen an der Kultur, die Kritik am niederdrückenden Gewicht mit diesem Verschließen der Augen vor der Sinnenwelt vereinbaren?
Im landläufigen Verständnis von Mystik mußte die soziale Kritik zum hilflosen Monolog jedes einzelnen werden, unüberbrückbar getrennt von dem Glauben an die Verbesserung der Zustände, ohne den zu kritisieren nicht möglich ist. Die Ekstasen in der Zelle konnten als unversöhnlicher Widerspruch zu dem sozialen Rebellentum gelten, das Landauer in humanitärer Absicht lebte. Er fand sich selber im Verdacht, den Übergang vom Humanismus zum Egoismus zu vollziehen, den er an Max Stirner gerügt hat. Befand er sich mit dem gelebten Werk in einem unvereinbaren Zustand, ähnlich wie die Kritik Ibsens Mystizismus abtat?
1903 erschien »Skepsis und Mystik — Versuche im Anschluß an Mauthners Sprachkritik« bei Egon Fleischel in Berlin, der schon die Novellen »Macht und Mächte« herausgebracht hatte. Mit Recht hat Heinz-Joachim Heydorn in seinem Vorwort zur Neuausgabe von Landauers »Aufruf zum Sozialismus« gesagt, daß ohne »Skepsis und Mystik« Landauers spätere Auffassungen nicht zu verstehen sind. Ohne dieses revolutionäre Bändchen von 154 Seiten ist aber auch die Hilflosigkeit des fortschrittlichen Lagers im Deutschland der Jahrhundertwende nicht recht zu begreifen: Niemand hat in vergleichbarer Entschlossenheit sichtbar gemacht, daß »die Revolution« nirgendwohin führen wird, wenn sie in den tradierten Denkgewohnheiten weiterwurstelt und mit dem Gegensatzpaar Persönlichkeit und Gesellschaft sich ständig neue Stolperdrähte zieht.
»Bisher fiel alles auseinander in ein armes, schwächlich aktives Ich und eine unnahbar starre, leblos passive Welt. Seien wir jetzt das Medium der Welt, aktiv und passiv in einem. Bisher haben wir uns begnügt, die Welt in den Menschengeist, besser gesagt: in den Hirngeist zu verwandeln; verwandeln wir jetzt uns in den Weltgeist.«
Die Materie ist starr, schreibt Landauer, kein Wunder, daß die Materialisten es auch sind; aber dann weist er »die Nichtigkeit des Konkretums, des isolierten Individuums« nach, um zu zeigen, daß es »keinerlei Individuum, sondern nur Zusammengehörigkeiten und Gemeinschaften gibt«. Darin ging er mit Feuerbach und Marx einig, der vom Menschen als dem »individuellen Gemeinwesen« schrieb.
Es ist nicht mehr auszumachen, ob die These, die Sprache sei kein Gebilde, sondern Vorgang und Tätigkeit in Verbindung mit anderen Vorgängen und Tätigkeiten, ursprünglich von Landauer oder von Mauthner in das Mauthnersche Werk hineinkam, es ist in diesem Zusammenhang auch nicht erheblich. Sie hat von Bacons Unterscheidung der Idole an manchen größeren Geist bewegt, Wilhelm von Humboldt zumal.
Landauers herzbewegende Auseinandersetzung mit den Marxisten im »Aufruf zum Sozialismus« speist sich aus der schöpferischen Kraft sprachlicher Veränderung, und nicht minder seine Geringschätzung rein verbaler Bekundungen.
Die Frustration des Wilhelminismus ödete sich aus. Landauer hatte sich gegen den Verdacht zu wehren, mit Abgeordneten des Freisinns über ein Gesuch an den Kaiser, gefälligst abzudanken, beraten zu haben. Unter dem Druck der offiziösen Realpolitik, die so realistisch ja dann auch wieder nicht war, wie wir hinterher zu wissen glauben, begriff Landauer seine Revolution als antipolitisch.
Landauers Anarchismus hat keine andere Aufgabe, als zu erreichen, daß der Kampf des Menschen gegen den Menschen aufhöre, daher kann es keine anarchistische Partei geben, ja nicht einmal eine allgemein anarchistisch zu nennende Taktik. Er spricht auch nicht vom rechtlichen Verbot des Privateigentums an Produktionsmitteln und vom zu erzwingenden Gemeineigentum. Er fürchtet dahinter nichts anderes als die »verschleierte Herrschaft einer Beamtensippe«. Die »allerdings verzweifelt mißlichen Zustände, die vom Standpunkt internationaler Politik direkt bedrohlich sind« (1906), lassen sich nicht durch eine Hoffnung auf bessere »Gesamtheit« ändern; sie wird nie für uns sorgen.
Was gibt dann die neue Richtung? Dreißig »sozialistische Thesen«, die Karl Kraus 1906 für seine »Fackel« abgelehnt hatte, weil sie zu lang seien, erschienen im Januar 1907 in Maximilian Hardens »Zukunft«. Sie stellen eingangs fest, daß eine allgemeine und ebenso ins Einzelne gehende Tendenz wie die des Sozialismus vielfach verzweigt, zersplittert und differenziert sein müsse. Er wolle Zustände schaffen, in denen jeder durch seine Arbeit sich und den Seinen ein erträgliches, nicht nur genußreiches, sondern »ein kulturerfülltes Leben« schaffen könne. »Der Sozialist will, daß alle nützlich arbeitenden Menschen innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft die Möglichkeit zur vollen Teilnahme am Kulturleben haben.«
Nützlich nennt Landauer Arbeit, die für Lebenshaltung und Kultur notwendige Güter gewinnt, durch Veränderung herstellt, transportiert oder verteilt. Nützlich ist Arbeit, die Hilfsmittel zur Arbeit gibt oder Hindernisse entfernt, nützlich ist Arbeitsorganisation. Forscher, Künstler und Dichter stehen auf der Grenze der Nützlichkeit.
Arbeit ist eine Lebensbetätigung künstlicher Ordnung, niemand wird das Leben selbst eine nützliche Arbeit genannt haben. Gelehrte, Künstler und Poeten üben eine Lebensbetätigung dritter Ordnung aus, gehören der Religion an. Die Frage zu beantworten, ob sie sich besser nützlicher Arbeit widmen sollten, wagt Landauer nicht, aber er meint: »Mögen sie sich schließlich quälen und leiden: wer Luxus schafft, weil sein Leben luxuriert, muß auch im Schmerzleiden üppig sein.«
Die eigene Rolle in diesem Beziehungsnetz von Organisationen wollte Landauer nicht überbewertet wissen. Als Erich Mühsam, obzwar von der Anklage der Geheimbündelei freigesprochen, dennoch von Zeitungen und Zeitschriften seine Manuskripte ungedruckt zurückerhielt, protestierte er öffentlich. Heinrich und Thomas Mann, Frank Wedekind, Julius Bab unterstützten den Protest gegen diese Art von Zensur. Landauer jedoch verweigerte dem Freund die Unterschrift mit der Begründung, Schriftsteller seien keine Gilde, deren Mitglieder Anspruch auf Beschäftigung hätten. Zwar verkaufe der Schriftsteller seine Produkte um Geld; aber er solle sich selbst verwehren, daraus eine öffentliche Angelegenheit zu machen, lieber »in der Stille verbluten« als sich »durch diese Art Tarifvertrag ganz und gar in die Lohnsklaverei und Geistesprostitution« zu begeben. Brüderlich korrespondierte Landauer mit Mauthner und Mühsam, kühl mit Dehmel, mit dem Bakunin-Forscher Max Nettlau, mit Julius Bab, Richard Beer-Hofmann, ehrerbietig mit Hofmannsthal, mit dem bewunderten Alfred Mombert, mit Bahr, distanziert mit Karl Kraus. Die Gesellschaft wurde ihm »eine Gesellschaft von Gesellschaften von Gesellschaften…«, als er 1909 zum dritten Mal Redakteur des »Sozialist« wurde und bis 1915 blieb. Keine vergleichbare Zeitschrift verband Engagement und Distanz wie diese.
Die Mittel zu vielerlei Luxus der Sinne und Triebe, des Leibes und Geistes gehören zur Kultur eines Volkes; aber es ist nichts Genau eres darüber zu sagen, als daß »Klima, geschichtlich gewordene Bedürfnisse, Technik und Luxusgewohnheit« einander bedingen und sich das Maß vorschreiben. Was ist ein Volk?
»Volk aber ist etwas, das es nicht gibt; und hier läßt sich nur sagen, daß Volk das Gefühl einer Zusammengehörigkeit vieler Menschen im Gegensatz zu anderen solchen Zusammengehörigkeitsgefühlen ist, daß aber Natur und Grundlage solcher Gefühle in jedem Fall ihre historischen Bedingungen hat, die nicht nur keine gemeinsame Wurzel, nicht nur keinen gemeinsamen Gattungsbegriff haben, sondern nicht einmal ähnlich sind. Volk nämlich, wie man es heute meint, ist ein Mischgebilde aus Nationalität, staatlichen Grenzen und Wirtschafts- oder Kultureinheiten. Der Staat und seine Grenzen sind elende Zufallsprodukte der erbärmlichsten Erscheinungsformen sogenannter Geschichte…«
Bei dieser Abrechnung mit dem herkömmlichen Vokabular und den in ihm umgehenden Kollektivinteressen hält der Sozialismus nicht ein: »Die Nationalität ist eine schöne und liebenswürdige Wahrheit; ihre Verbindung mit dem Wirtschaftsleben ist eine Lüge.« Daß der Anschein entstand, die Suche der Arbeit nach größeren Märkten und das Heranwachsen der Sprachen zu nationalen habe etwas miteinander zu tun, komme nur daher, daß die beiden getrennten Erscheinungen »mit dem Staat verquickt und umschlossen wurden«.
»Der Staat hat Bräuche, Sitten und Sprachgewohnheiten der Heimat nicht hindern können, zu großer Kunst und umfassendem Sprachgebrauch zu wachsen«, aber die Entwicklung der großen Wirtschafts- und Kulturgemeinschaften, wie sie dem Prozeß der Produktion der Technik, dem Austausch entsprechen, hat er verfälscht, gehindert, und, wo sie wollten, zurückgedrängt und vernichtet.«
Darüber muß der Sozialismus hinauskommen. Volk wird möglich als Kulturgemeinschaft und Wirtschaftsgemeinschaft über die falsche Auffassung von Nationalität hinweg, es wird mit Staatsgrenzen und Nationalitäten gar nichts mehr zu tun haben.
Der Sozialismus kann nur in der Arbeit realisiert werden, nicht im Staat, sondern draußen, »außerhalb des Staates, zunächst, solange diese überalterte Albernheit, dieser organisierte Übergriff, dieser Riesentölpel noch besteht, neben dem Staat«. Die Leute finden sich im Produktions- und Zirkulationsprozeß zusammen in unzähligen Gliederungen und Organen, in einem Gefüge höherer Ordnung. Darum ist das sozialistische Organisieren etwas ganz anderes, »als heute die Oberflächlichkeit meint«.
Da der Staat ein Zweckgebilde ist, das unsinnigerweise Formen und Grenzen eines Raumgebildes hat, muß man sich auf das einzig zweckmäßige Raumgebilde besinnen, die Gemeinde. »Der Staat ist nicht zur Verteidigung des Landes da; vielmehr muß umgekehrt immer noch ab und zu das Land und der heimische Herd verteidigt werden, weil Staaten da sind.«
In seiner Warnung vor dem drohenden Krieg, »Die Abschaffung des Krieges durch die Selbstbestimmung des Volkes« (Berlin 1911), hebt er auf die Internationale der Arbeiter ab: »Haben wir vorher internationale Vereinbarungen und werden sie, wohlgemerkt, auch gehalten, gut. Aber wichtiger ist das Beispiel. Daß unser Vorgehen, wenn wir das Rechte tun, nachgeahmt wird, daß dann gar keine Regierung den Massenmord loslassen kann, das ist kein Zweifel.
Du sprichst von internationalen Vereinbarungen, aber du scheinst keinen großen Wert darauf zu legen. Warum? Antwort: Weil ich keine Großspurigkeit leiden kann. Das ist bequem, wenn ein paar Bürokraten in irgendwelchen Parteiämtern unverbindliche Redensarten austauschen. Aber es hat kaum mehr Wert als das Geschwätz auf den internationalen Friedenskongressen und die Beschlüsse für den Frieden, die von den Regierungen in Haag gefaßt worden sind. Erst müssen die Arbeiter einer Nation, eines Volkes ihre Vereinbarungen nach klarer, fester gegenseitiger Verständigung treffen und halten…«
Landauer setzte auf die »Lebendigmachung des toten Buchstabens«. Er verlor, wie wir wissen; aber als er 1914 zum Offenen Brief von Romain Rolland an Gerhart Hauptmann Stellung bezog, führte er eine Anekdote aus zwei badischen Judengemeinden an, die er Ahausen und Beheim nannte; »als nun ein freundlicher Christ im Streit mit einem Ahausener Juden schließlich seine Zuflucht dazu nahm, auszurufen: ›Ihr habt unseren Heiland gekreuzigt!‹, erwiderte der bedrängte Ahausener unter der Wucht dieser Anklage: ›Nein, wir waren’s nicht, das waren die Beheimer.‹« Rolland aber schulde der Menschheit keinen Aufruf über die Nationen, sondern einen Aufruf an die eine »Menschheit in den Nationen, eine Menschheit, die jedem einzelnen Glied eines Volkes einverleibt und eingeseelt sein wird«.
Landauers Sozialismus war eine intellektualisierende Bewegung für alle, nicht nur für eine durch die Vorsehung dazu ausersehene Klasse, und eine Bewegung außerhalb des Staates und gegen ihn. Darin unterschied er sich prinzipiell von der Sozialdemokratie seiner Zeit und vom Kommunismus. Er konnte seinen Freunden weder »die Kapitalherren« als Sündenböcke apportieren, noch ihnen einbleuen, die Staatsmacht werde nicht mehr unterdrücken, hielten die Revolutionäre sie erst in Händen. Er wollte jene Gerechtigkeit, die im Frühsozialismus — den Toleranzangeboten der Aufklärung noch nahe — nicht so sehr als politische, sondern als Kulturrevolution gefordert wurde. Dem Mangel an Kultur, der heute in der gängigen Forderung nach »politischer Kultur« sich ausdrückt, gilt die Sorge des Ethikers Gustav Landauer. Keine Reform nur am Haupt oder nur an den Gliedern kann retten, sondern nur die »abgeschmackte Klotzigkeit der Gesinnung«, die Landauer an Leo Tolstoi rühmt, »dem es um die Übereinstimmung von Vernunft und Leben« ging.
Als die Zensur im Ersten Weltkrieg Landauers publizistische Wirksamkeit einschränkte, wandte er sich zwei literarischen Projekten zu, die er für die kommende Revolution für bedeutungsvoll hielt: den Dramen Shakespeares und der Französischen Revolution. Mit Hedwig Lachmann übersetzte er Briefe von Zeitgenossen der Revolution und hielt Vorträge über Shakespeare.
Man vergißt heute, da Radio und Fernsehen in jedem Haus zu finden sind, was die Vortragsabende für die Kommunikation seiner Zeit bedeutet haben. In einem Nachruf hat die Sozialistin Auguste Hauschner über Landauers Vorlesungen geschrieben: »Vor Beginn seiner Kollegien hat stets ein seltsam wehmütiger Gegensatz zwischen ihm und seinem Auditorium bestanden. Er kam immer wie vom Berge Sinai zu uns herunter — wir kamen zu ihm aus den Niederungen der Alltäglichkeit, beladen mit der Sorge um die Dinge. Nicht ohne Bitterkeit mag er die Fahnenflucht so mancher Dame wahrgenommen haben, die gesellige und wirtschaftliche Pflichten zwangen, die der Bildung zugedachte Zeit zu kürzen. Nach Beendigung der Rede pflegten sich die Unterschiede etwas auszugleichen. Die Luft war so getränkt mit Geistigkeit, daß es schwer gewesen wäre, festzustellen: ob sie vom Rednerpult herunterströmte, ob sie aus den Reihen der im Saal Vereinten stieg.«
In den Shakespeare-Vorträgen versuchte Landauer, seinen Zuhö-rerinnen und Zuhörern die Bedingungen ihrer eigenen Erfahrungen an Shakespeares Gestalten bewußt zu machen. Es muß im Saal geknistert haben, wenn er 1918 in Deutschland aus »Coriolan« die Antwort des Plebejers auf die patrizische Mahnung des Menenius Agrippa zitierte: »Für uns Sorge tragen! — Ja, fürwahr! — Sie haben noch niemals für uns gesorgt: sie leiden es, daß wir verhungern, wenn ihre Speicher vollgepfropft sind von Getreide; geben Gesetze wegen des Wuchers, mit denen sie den Wucherern auf die Sprünge helfen; heben täglich eine heilsame Einrichtung gegen die Reichen auf und setzen täglich mehr lästige Verordnungen fest, um die Armen zu fesseln und zu hemmen. Wenn uns der Krieg nicht aufzehrt, so werden sie’s tun. — Und das ist die ganze Liebe, die sie für uns haben.«
Woher hat, fragt Landauer, der unergründliche Shakespeare das alles gewußt? Enthüllt er doch Zusammenhänge, die wir »erst im Gefolge der Französischen Revolution zu wissen anfangen«. Aber Shakespeare habe — im Gegensatz zu Mommsen in seiner Römischen Geschichte — auch den seelischen Rang des Patriziers Coriolan gekannt. Niemand gleiche diesem Coriolan so wie der Graf Mirabeau in seinem Verhältnis zur Revolution. Mit beider Stolz und Freiheitswillen hat Landauer sich einig gesehen. Als die Vorträge nach seiner Ermordung in einer giftigen Atmosphäre früh nazistischer Umtriebe als Buch erschienen, hatte sich an Landauer selbst erfüllt, was Coriolan und Mirabeau gemeinsam hatten. Er war, wie seine beiden Helden, »gerade bei denen, deren politischer Führer er heute sein müßte, als Landes- und Volksverräter, als Verräter seiner Sache in Acht und Bann getan wie Coriolan«.
Stefan Zweig hat sich damals zu Landauer bekannt und gegen das »feige Geducktsein der deutschen Geistigen« geschrieben, er habe Shakespeare nie stärker, intensiver und besser gelesen »als dank der bedeutenden Geleitschaft dieses freien und edlen Menschen«.
»Geleitschaft« ist ein gutes Wort für Landauers Schriftstellerei. Es besagt, daß er nie dogmatisch wird, auch dort nicht, wo er andere Autoren wegen ihrer Glaubensmoden angreift, wie im Tolstoi-Essay von 1918 zugleich so verschiedene Charaktere wie Hofmannsthal, Paul Kornfeld, Walter Hasenclever und Gerhart Hauptmann. Wenn Hauptmann »heute den schlesischen Christus und morgen den Tessiner Antichrist, vorgestern das kosmopolitische Festspiel und gestern nationalistisch kriegerische Schnadahüpfl und regierungsoffiziöse Kundgebungen zu dichten vermag«, so erklärt Landauer diese Flexibilität für »Symptome einer Zeit, in der die Dichter eher jeden als einen Glauben haben«. Demnach wären sie Gegenstücke zu den tragischen Helden Shakespeares, die aus Charakterfestigkeit widersprüchlich handeln. »Metaphysizieren Sie nicht aus ethischen Bedürfnissen!« warnte er 1910 den jungen Berndl, und bis zu seinem Tode war er dagegen, Gott oder die Welt für die »Nöte und Elendigkeiten« verantwortlich zu machen, die sich Menschen einander antaten.
Landauer vereinigte Engagement und Distanz, indem er die gängigen »Wort-Systeme« entlarvte und die Besonderheit jedes einzelnen Menschen als das Gemeinsame lehrte. Das war sein Ruhm und seine Vorgabe für unsere Zeit globaler Kämpfe ums Menschenrecht. Als er 1918 Landauers Flugschrift »Die vereinten Republiken Deutschlands und ihre Verfassung« gelesen hatte, schrieb Hugo von Hofmannsthal an Efraim Frisch: »Seine Flugschrift in die Hand zu bekommen, hat mich wirklich belebt. Vielleicht ist es Träumerei, Vagheit, — ja, aber es ist das Einzige, das Einzige, dem das ermüdete Herz zufliegt. — Vielleicht sehen Sie ihn. Dann grüßen Sie ihn vor mir.«
Landauer lebte, nachdem ihm 1917 Hedwig Lachmann gestorben war, in Krumbach in Schwaben. Von dort eilte er ins Münchner Revolutionsgetümmel, schon mit der Angst, der Fortgang werde dem »Neuen«, »Werdenden« nicht genug Zeit lassen, sich zu profilieren. Er behielt recht. Den jungen Ernst Toller an der Seite, als einzigen einer Gruppe unsicherer Kantonisten, übernahm er das Amt des Beauftragten für Volksaufklärung in der Räterepublik. Sie brach zusammen, als die Kommunisten mit ihren Gewalttaten die Gegengewalt vor dem Volke rechtfertigten, die in der Folge die bayerische Metropole zur »Hauptstadt der Bewegung« rückwärts machte. »Wir haben in Deutschland keine Revolution gehabt — aber wir haben eine Gegenrevolution«, schrieb Tucholsky in der »Weltbühne« vom 8. Mai 1919 in einem Bericht über die Lage an den Hochschulen. Da war Landauer schon ermordet.
Nach dem Ende der ersten Räterepublik wohnte er im Hause der Witwe seines Freundes Kurt Eisner, wo er am 1. Mai nachmittags verhaftet wurde. Einige seiner Freunde hatten ihm schon einige Tage vorher geraten, sich in Sicherheit zu bringen, als er sich noch leicht hätte retten können. Doch er hatte alle Vorstellungen in den Wind geschlagen und blieb. Er hatte nichts zu verbergen. Shakespeares Coriolan blieb auch, bis man ihn verbannte.
Der Augsburger Revolutionär Ernst Niekisch erinnerte sich, daß Freikorpsmänner den gefangenen Landauer ins Gefängnis Stadelheim transportierten. »Als er dort eingeliefert worden war, drangen aufgehetzte uniformierte Studenten auf ihn ein und mißhandelten ihn. In seiner ruhig überlegenen und gemessenen Art sagte er ihnen mit tapferer Offenheit, wie irregeführt sie seien und wie sie sich zu Werkzeugen einer sehr schlechten Sache machten. Ein Major von Gagern, der zuhörte, wurde erbost. Er trieb die Studenten dazu an, den Mann, der sich bereits im Schutz der Gefängnismauern befand, zu ermorden. Die Horde fiel über Landauer her, schlug ihn zu Boden, ein Sergeant setzte das Gewehr auf seine Brust und erschoß ihn. Dann plünderten die Freikorpsleute den Toten bis auf die Haut aus und warfen den nackten Leichnam in die Waschküche.«
»Wir wollen nicht Revolution, wir sind Revolution«, sagte Martin Buber in einem Vortrag vor der »Neuen Gemeinschaft« der Jahrhundertwende, den wenig älteren Gustav Landauer variierend. Wie jener den Meister Eckhart, hob er den Chassidismus neu ins Bewußtsein. Die beiden jungen Männer wurden Freunde, und »Bubers Anschauungen über das gemeinschaftliche Leben der Menschen sind von Landauer beeinflußt worden« (Hans Kohn).
Das Werk Landauers aber wäre nicht nur vergessen, sondern auch verschollen, hätte sich Buber seiner nicht angenommen. Die anhaltende intellektuelle Spannung, die beide als Lebensprinzip anerkannten, ließ sich in der sozialistischen wie in der zionistischen Bewegung umsetzen, die durch Theodor Herzls »Judenstaat« eben ihre politische Utopie erhalten hatte. Aussiedlung aus der Gewaltgesellschaft und Neubeginn waren gemeinsame Ziele, und die Versuche der Verwirklichung gingen ähnliche Wege. Welche Rolle der Staat in ihr spielen sollte, mußten Zionismus wie Sozialismus für sich entscheiden.
Landauer erwartete nicht, mit seiner antistaatlichen Propaganda im Deutschen Reich durchzudringen, über dem noch die Schatten der Theokratie lagen. Etwas anderes war es mit dem Geistesverband des Judentums. Wenn er sich zu gemeinsamer Siedlung niederließ, brauchte die Staatlichkeit nicht beseitigt zu werden, man mußte nur darauf verzichten, sie herzustellen.
»Der Staat ist kein Land. Land ist Boden, nichts anderes; die übertragene und lügnerische Bedeutung ist erst entstanden und geglaubt worden, als die Landesherren keine Landesherren mehr waren, aber immer noch Landesherren sein wollten. Mit dem Boden zu tun haben die Landwirte und ihre Vereine, die Hausbauer und Bewohner, die Grundbuchvereine (wenn es welche gäbe; aber um des Grundbuches willen braucht man wahrhaftig keinen Territorialstaat) und die Gemeinden. Alle diese Einzelwesen sind vereinigt in dem, was man in gutem Deutsch ein Amt nennt. Amt oder Amtsbezirk ist ein Gemeindeverband. Der Staat ist nicht zur Verteidigung des Landes da…«
Diese These Landauers war auch zu den Zionisten gesprochen. Sie stand in vollem Widerspruch zum »Judenstaat«. Bis zur Gründung des Staates Israel war die zionistische Bewegung nicht nur ein Verlangen nach dem Staat, sondern in einer heute überspielten, aber lebendigen Strebung ein Kampf gegen ihn.
Das Judentum hat der Welt das Beispiel nicht gegeben, auf der Basis sozialistischer Produktionsgenossenschaften seinen erhabenen Traditionen zu leben, wie die kulturell-demokratische Opposition gewollt hatte. Der geistige Zustand der Welt wäre vielleicht ein anderer, besäße sie jenes Modell. Statt dessen taumelt sie von einem Umsturz in den anderen, und die Revolutionäre errichten allenthalben das Alte. Indem sie gegen Staaten andere Staaten setzen und Gewalt mit Gegengewalt beantworten, bringen sie die Menschheit nicht einen Schritt weiter. Wer aus der Gewaltgesellschaft heraus will, muß bei sich beginnen. »Sozialist ist nicht, wer infolge von Not nötigt, wer infolge von Unterdrückung unterdrückt, wer infolge von Gewalt vergewaltigt«, formulierte Landauer 1912. In seinem Vortrag über Shakespeares »Julius Cäsar« charakterisierte er den Brutus als eine von Haus aus private Natur, die aber ihrer noblen Anlage entsprechend »privat zu sein nur ertrüge, wenn draußen die Menschen frei und glücklich wären. Er ist der Politiker, der aus der Philosophie in die Politik kommt; aber aus einer Philosophie, die mit seinem Leben verwachsen ist. Nicht so bloß, daß er mit dem Herzen denkt, so vielmehr, daß sein Denken sich nicht zufrieden gibt, ehe die äußere Wirklichkeit ihm entspricht. Aus einem stillen, sanften, aber zähen Sinn heraus kommt er zur Aktivität.«
»So oder nur so« — bemerkt Stefan Zweig hierzu — »war auch Landauers Charakter.« Ich glaube, Zweig hat recht.