Auf einem begrasten Altgemäuer eine Touristenfamilie, wie sich millionenfach Familien ablichten lassen; Vater in der Mitte, ein Bein vorgestreckt, leicht überschlagen, Arme um die Schultern der Frau Gemahlin und einer leicht zerzausten Tochter. Schöner könnte das Bild fürs Familienalbum nicht gestellt sein. Aber das Trio ist nicht irgendwer. Es übt einen Staatsakt auf der chinesischen Mauer aus, dem historischen Bollwerk des „Reiches der Mitte“. Das Bild zeigt den Präsidenten der Vereinigten Staaten mit Frau und Tochter. Das TV übertragt die Familie im Freizeitlook weltweit, und auch ca. 800 Millionen chinesische Bauern können diese Bilder sehen.
Ob und was sie damit anfangen können, weiß ich nicht. Vom Freizeittourismus sind sie weit entfernt. Der Staat vergibt nicht nur die Produktionsmittel. Er hat auch die durch natürliche Fortpflanzung jahrtausendelang sich erneuernden und ständig verzweigenden Geschlechtergenossenschaften seiner Kontrolle unterworfen, nicht unähnlich Hochreligionen, die Heirat mit anderen Konfessionen ausschließen, um ihre Blutsbande zu stärken. Das Verbot, mehr als ein Kind zu haben, hat zu einer Selektion geführt, in der die Töchter auf dem Altar der Staatsräson geopfert werden. Die Clinton-Familie demonstriert also nicht nur einen Staatsbesuch. Sie spricht ein gesellschaftliches Problem an, das bis in die Fortpflanzungspraktiken der chinesischen Familien reicht.
Daß das Trio so ganz nebenbei von den heimatlichen Aufmerksamkeiten für das sexuelle Verhalten des Präsidenten ablenkt, ist ein Nebeneffekt. In den USA richtet sich das Interesse nicht auf staatliche Gebote und Verbote, sondern auf die Angebote der florierenden sexuellen Marktwirtschaft. In China ist die öffentliche Gewalt bei der Kommunistischen Partei. In den USA ist der höchste Repräsentant im Angebot der „Spannungsindustrie“ (Hermann Broch), das die voyeuristische Nachfrage bis in das letzte Schlüsselloch treibt. Angebot schafft Nachfrage. Das war schon beim ältesten Gewerbe der Welt so und ist im Internet nicht anders.
Bill Clintons Präsentation der amerikanischen Mittelklassefamilie im fernen China wurde auch zuhause gern gesehen. Der tausendköpfige Hochstaat des Präsidenten blieb diskret im Hintergrund. Protest gegen den obszönen Widerspruch des Staatsbesuchs zu den eigenen Verfassungsgrundsätzen spielte daneben fast keine Rolle. Staatsräson und Menschenrecht sind zwei Paar Stiefel. Daran hatten schon die Bündnisse mit Diktaturen in den Stellvertreterkriegen gegen die Sowjetunion seit 1945 gewöhnt, von den kolonialistischen Praktiken der USA in Lateinamerika abgesehen und den offenen Bürgerrechtsfragen im eigenen Land. Die Forderung nach Menschenrechten soll humanere Umgangsformen für alle herbeiführen. Staaten hingegen sind formale Rechtsinstitutionen, um mit Gewaltmonopol inhaltlich Konflikte auf ihren Territorien zu regeln. Der marxistische Traum, der Staat könne durch Demokratisierung im Intersse der Mehrheit „absterben“, hat sich als Irrtum erwiesen, weil Mehrheiten immer neue Minderheiten erzeugen, die mittels Signaltechniken die Lebenszeit ihrer Mitmenschen zerteilen und Macht auf sich konzentrieren.
Clinton hat deshalb auch sofort nach seiner Rückkehr die amerikanische Medienindustrie für ihr Wohlverhalten entlohnt, indem er aus Steuergeldern ein Milliardenprogramm gegen Drogenmißbrauch auflegte, das – wie sonst? – über diese Industrie abgewickelt werden muß. Sein Auftreten in China entsprach dem Schema des Hollwood-Films vom verläßlichen Amerikaner, den Disney in seinem Nationalhelden Mickey Mouse schon seit 1926 über die Welt verbreitet hat. Ein Schelm, wer sich Schlechtes dabei denkt, das alles habe etwas mit der Macht der Kommunikationslobby im politischen System der USA zu tun, oder könne die Freiheit der Berichterstattung einschränken, gar die Meinungsfreiheit des Medienpersonals tangieren.
Wie die Reisen anderer westlicher Staatsmänner in die weite Welt, wird auch diese nach den abgeschlossenen Handelsverträgen und Kreditgeschäften bewertet. Clinton machte dem Markt von 1 218 700 000 Staatsangehörigen der Volksrepublik China sein Angebot. Gemessen an deren Zahl sind die 265 455 000 Amerikaner (1996) eine Minderheit. Im Hinblick auf die Industriezentren Europa, Nordamerika, ist Ostasien der Beachtung wohl wert. Der deutsche Bundeskanzler war ja auch schon dort, um seien Kotau zu machen. Die Rückkehr des 1842 von den Briten erkämpften Hongkong belegt die lange Tradition westlicher Versuche, China zu öffnen. Im Krieg 1840-1842 wollten die Briten zollfrei Opium einführen. Vor hundert Jahren eroberten sie gemeinsam mit Russen, Deutschen, Franzosen Küstenplätze als „Pachtgebiete“. Der Revolutionär Sun Yat Sen (1912) hatte in den USA studiert und modernisierte den jahrtausendealten Hof- und Beamtenstaat. Die Kommunisten, die den Nationalisten den Garaus machten, beriefen sich auf Marx, Engels, und Lenin. Heute sind sie Malthusianer und verfolgen die internationalen Börsenkurse auf dem Bildschirm. Sie lernen, daß die Kurse steigen, wenn die Lohnkosten fallen. In Deutschland hält der Bundeskanzler mit den höchsten Börsenkusen auch den Höhenrekord in der Arbeitslosenzahl.
Was ist geschehen? Kulturverschiebungen überlagern seit Jahrtausenden durch neue Kommunikationstechniken Kontinente. Abgründe tun sich auf. Sie verschlingen Menschen, Bauten, Literaturen, Sprache, Schriften, Produktionsweisen. Kurz vor Erscheinen des Kommunistischen Manifests (Februar 1848) hielt Marx in Brüssel eine Rede über den Freihandel als „die Freiheit des Kapitals“. Darin zitierte er die Verelendung ostindischer Kattunweberei durch die englische Konkurrenz des Dampfwebstuhls. Frauen- und Kinderarbeit sollte mit Hungerlöhnen das Handwerk retten.
Seitdem verloren Millionen Ihr Subjekt und wurden zu Objekten fremder Gewalten. Die Arbeit fällt aus dem gesellschaftlichen Mythos heraus, der Religion, Ökonomie und Politik einbindet. Verlust demoralisiert, weil er kränkt. Ideologien kompensieren Mängel der Praxis durch illusionäre Überhöhung. Eine malade Praxis, die niemanden nährt, außer ihren Parasiten, sucht sich ideologisch zu heilen. Über staatlich schlecht zu kontrollierende Vertriebswege steigt die Zahl der Süchtigen. Sie greifen nach den angebotenen Opiaten wie die amerikanischen Indianer beim Einbruch der Weißen nach dem Feuerwasser. Andere Gekränkte haben die Flucht ins Virtuelle angetreten; nur weg vom Boden der Tatsachen in die Illusion der billigen Preise.Sich selbst bestätigen in beliebigem Konsum. Erst wo psycho-physische Bedürfnisse gedeckt sind, differenziert sich der Markt.
Auf ihre frühen Beobachtungen begründeten Marx/Engels im „Manifest“ die Prognose, die Bourgeoisie werde durch die „unendlich erleichterten Kommunikationen“ auch die „barbarischsten Nationen“ in die Zivilisation reißen, und ihre „schwere Artillerie der billigen Preise“ werde die Chinesischen Mauern in Grund schießen. Anders als die „Demokratische Gesellschaft zu Brüssel“ im Januar 1848 setzt die heutige Brüsseler Bürokratie diesen Mechanismus voraus, denn sie funktioniert als staatliche Restinstutition zugunsten der expandierenden Märkte. Im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts hat die Ökonomie im Hin und Her zwischen Schutzzollpolitik und Freihandelsaktivismus die Staaten überholt. Nicht Bismarcks Rückkehr zur Schutzzollpolitik, sondern die von Siemens im selben Jahr 1879 gebaute Elektrolokomotive und Edisons Glühbirne machten das Rennen. Inzwischen ist Bismarcks „Reich“ seit 1919 dahin; aber die Elektroindustrie führt nach wie vor die Globalisierung an, und die Saaten sind außer Stande, sie zu kontrollieren. Weder der atomare noch der elektronische Fortschritt lassen sich aufhalten. „Globalisierung“ heißt Fortsetzung des Freihandels mit anderen technischen Medien. Dem „klingenden Spiel“ militärischer Imponierstaaten konnte das Publikum hinterherlaufen, der pausenlos Beschallung elektaktschlagender Multis kann es nicht mehr entkommen. Stille ist unbezahlbar geworden.
Gesellschaftliche Umbrüche kündigen sich häufig im inneren Aufbau von Kunstwerken an und Stilisierungen, die nicht verstanden werden, weil die Menschen ihre Subjekte durch Rückkehr in die verlorenen Mythen oder begeisterte Hingabe an die Ideologien der neuen Technik suchen. Als im 19. Jahrhundert sich Künstler, Schriftsteller, Musiker aus dem Imponiergehabe der Staatsgewalten in gesellschaftlichen Formen befreiten, die viel älter waren als die Staaten, wurden ihre Siedlungen als staatsfeindlich verfolgt und die nicht seßhafte „Boheme“ kriminalisiert.
Inzwischen klammern sich die Staaten an die Überreste ihrer untergehenden Gewaltmonopole. Sie „privatisieren“ ihre öffentlichen Aufgaben und können doch nicht verbergen, daß ihre Epoche zu Ende geht, denn was sie abgeben, fällt der Ökonomie zu. Der Ausverkauf füllt die Kassen anonymer Machthaber, die im Dunkel bleiben, wie das Wirken der deutschen Treuhand gezeigt hat – nur eines unter packenden Beispielen des Umbruchs.
Nicht zufällig übernehmen an privatem Profit orientierte Unternehmen die Symbole der kulturellen Legitimation. Nach den Tempelbauten von Gottkönigen, den Kirchen der christlichen Staatsreligion, den musealen Überresten versippter Herrscherhäuser und bourgeoiser Mäzene dirigieren globale Kapitalflüsse den Lauf der Kultur. Wie das Haus Medici vor dem modernen Staat Michelangelo für sich arbeiten ließ, sponsern auf sein Ende hin Marketingexperten kulturelle Anlässe. Sie diktieren mit einer Klerisei hochbezahlter Gladiatoren dem Publikum das Erste Gebot unersättlicher Beschleunigung der Umsätze.
Das „Weltsyndikat“ (Alfred Weber, 1945) verheißt, alle zu beteiligen und übereignet auf Dauer einer verschwindenden Minderheit Gewinn aus dem Arbeitsertrag der von ihr manipulierten Minderheit. Da darf dann auch der Staatspräsident von Kroatien seinem Volk einblasen, es sei eine Supermacht, weil das Fußballteam – die Marken multinationaler Konzerne auf dem Leib – in der Arena gleichartiger Markenzeichen den dritten Platz in der „Weltmeisterschaft“ gewonnen hat. Ein treffliches Beispiel für ethnonationalitische Propaganda als Ersatz mythologischer Stammesverknüpfung vorstaatlicher Perioden.
Es blieb dem 20. Jahrhundert vorbehalten, diese Hordenmoral durch die Clans imperialistischer Herrscherhäuser in zwei Weltkriegen zu überführen, in denen dann die Materialschlachten des ersten mit der fortschreitenden Ökonomie von Vernichtungswaffen im zweiten die moralische Qualität der Gegenseitigkeit, „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ (Mose 2,21,24) ein für allemal erledigte und nur noch das Quantum übrig ließ.
Heute fehlen zahllosen Neugründungen überhaupt die institutionellen Rechtsgarantien, die Staaten von Räuberbanden zu unterscheiden pflegte. Sie werden von Connections regiert, die am Tropf irgendwelcher anonymen Gesellschaften hängen. In alten Demokratien zersetzten Lobbyismus und Korruption die Staatsidee. Solche Heuchelei zu entlarven, wäre wohl ein Beitrag zur ewigen Kunst menschlicher Mitteilung.