Heimat ist das letzte Wort von Ernst Blochs Hauptwerk Das Prinzip Hoffnung. In einer Welt, in der alles Stückwerk bleibe, findet Bloch das Vermögen zu einem absoluten Zielbegriff das Ungeheure. Habe der Mensch sich erfasst „und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“
Die Werbefachleute des Suhrkamp-Verlags haben die Sentenz auf die Rückseite des ersten Bandes der dreiteiligen Taschenbuchausgabe platziert, die Hoffnung auf Heimat konkretisierend. Bloch hat das Buch im amerikanischen Exil 1938 bis 1947 geschrieben, als die Heimat fern und von Not und Mord beherrscht war. Die reale Heimat hatte den Philosophen verstoßen, wie sie mit und vor ihm Ungezählte verstoßen hat, von denen wir nur die großen Namen der Literatur und der Kunst kennen, die ausdrücklich politisch Verfolgten, die Flüchtlinge und die Vertriebenen, nicht aber die Namenlosen, die durch die Jahrhunderte ihren Wohnsitz gewechselt, ihren Aufenthalt verändert, irgendwo anders als dort, wo sie geboren sind, „eine neue Existenz“ gesucht haben. Unser Geschichtsbild
macht sich an den sichtbaren Denkmälern der Vergangenheit fest: an Dörfern und Städten, an religiösen und profanen Bauten, an Herrschaftsbezeichnungen, Landschaftsnamen und anderen stabilen Elementen, nicht an den fluktuierenden Massen der Menschen, die das belebt und als Kultur geschaffen haben.
Heimat war im Religiösen immer mit dem verbunden, „worin noch niemand war“, wie der Sozialist Ernst Bloch formuliert. Der fromme Mensch als Pilgrim und Wandersmann ist auf dem Weg in die himmlische Heimat. So der evangelische Dichter Paul Gerhardt 1666:
Meine Heimat ist dort droben, Da aller Engel Schar Den großen Herrscher loben, Der alles ganz und gar In seinen Händen traget Und für und für erhält, Auch alles hebt und leget Nach dems ihm wohl gefällt.
Paul Gerhardt dichtete angesichts der irdischen Verwüstungen des 30-jährigen Krieges, der Millionen von Menschen auf die Straßen geworfen hatte, Millionen, die Trost suchten:
So will ich nun zwar treiben Mein Leben durch die Welt, Doch denk ich nicht zu bleiben In diesem fremden Zelt. Ich wandre meine Straßen Die zu der Heimat führt, Da mich ohne Maßen Mein Vater trösten wird.
Der Widerspruch zwischen der Weltflucht des Paul Gerhardt, 1666, und dem Aufruf des Ernst Bloch, 1947, die Welt zur Heimat zu machen, ist offensichtlich. Der eine lässt die Welt hinter sich und sucht den Vater, die Heimat, den Trost „dort droben“. Der andere holt die Heimat herunter auf den Boden der politischen Demokratie; aber beide Schriftsteller verbinden mit dem Begriff Heimat die Hoffnung von Millionen auf eine friedliche Bleibe, wo die Hetze und das Getriebensein aufhören, wo der Mensch sein kann, wie er gedacht ist.
Auch heute steht das Wort Heimat für metaphysische Bedürfnisse, und das wird wohl bleiben, solange große Teile der Menschheit um ihren angestammten Aufenthalt bangen müssen und sich dahin zurücksehnen, woher sie kamen. „Heimat ist, wovon wir ausgehen“, hat T. S. Eliot formuliert, und Novalis beantwortete die Frage: „Wo gehen wir denn hin?“ mit den drei Worten: „Immer nach Hause.“ Das Wort Heimat kündigt den mythischen Kreislauf, indem es die befremdlichen Fragen nach Woher und Wohin ausschließt und nur das Vertraute zulässt, das fraglos ist. „Das fremde Zelt“ des Paul Gerhardt symbolisieren heutige Kirchenneubauten in Zeltform, und die profanen Wandervögel sind zahlreich, genug, ganze Industrien zu ernähren.
Die Metaphysik des Pilgerns in eine ferne, utopische Heimat hat ihren sozialen Hintergrund in der natürlichen Verletzlichkeit des Menschen. Sie zwingt ihn zu fliehen. Sie erlaubt ihm nicht, fest wie ein Stein zu sein und auch nicht, zu stehen wie ein Baum. Ein Baum steht oder fällt, ein Mensch bewegt sich fort. Elias Canetti hat mit Recht auf die verhängnisvolle Propaganda des Mensch-Baum-Vergleichs im deutschen Nationalismus hingewiesen: die Armee als marschierender Wald verstanden. Aus der Heimatliteratur kennen wir das „Niedersachsen-Lied“:
Fest wie unsere Eichen halten
alle Zeiten wir stand,
wenn Stürme brausen,
übers deutsche Vaterland… usw.
Standhalten, aushalten, durchhalten; aber halten, denn der Mensch, vergänglich, wie er ist, flieht gerne. Die Durchhalteparolen protestieren gegen die Flüchtigkeit gesellschaftlicher Abläufe. Sie machen Helden aus denen, die nicht fliehen, und aus anderen, die Haltbares schaffen.
Vermutlich sind die Halteparolen ein Reflex des Ortswechsels als Massenerscheinung. Häufiger Ortswechsel ist durch die erleichterten Kommunikationen im 19. Jahrhundert zur Regel geworden. Für das Jahr 1900 schätzte der Nationalökonom Werner Sombart im Deutschen Reich etwa 1 Milliarde Fahrten auf öffentlichen Verkehrsmitteln und eine halbe in Privatfuhrwerken. Das war, noch ehe das Automobil den Individualverkehr revolutionierte, indem es Millionen mit eigenem Fliehgerät ausstattete. Sombarts Angaben beziehen sich auf Eisenbahnen, Postkutschen, Dampfschiffe und Droschken.
Zu den Reisenden sind Umzügler hinzuzurechnen, die ihre Wohnsitze verlegen, zumeist vom Dorf in die Stadt. Ihre Binnenwanderung verwandelt Ansässige in Neukommer, die nicht wissen, was ihnen am neuen Platz bevorsteht, ja nicht einmal, ob sie dort bleiben können. Sie bleiben auf der Flucht von Niederlassung zu Niederlassung.
Heimat war damals und ist heute ein politischer Begriff. Er unterscheidet die Ansässigen von denen, die keinen festen Wohnsitz haben. Heimat gibt Halt, indem sie Grenzen setzt. So war das Wort ursprünglich gemeint, und alle Romantik hat diesen harten Kern nicht verschleiern können. Mutterschoß, Zuwendung erfahren,
aber auch Heimatrecht und Heimatschein, zuständig sein, der Behörde bekannt, von Amts wegen, „alles hat seine Grenzen“, so hat es Bloch wohl auch empfunden im fremden Amerika. Heute macht die Heimat den Arbeitsämtern zu schaffen, wenn Arbeitslose sich weigern, andernorts offene Stellen zu besetzen.
Die Binnenwanderung von Ort zu Ort führt bei den Zuwanderern in Großstädten nicht unbedingt zu einem festen Sitz in einem überschau- und kontrollierbaren Nahraum, wie ihn der Haus- und Grundbesitz bietet. 1899 lagen in den Großstädten Berlin, Breslau, Hamburg die Zuzüge zwar über den Abzügen; aber innerhalb der Städte wechselte etwa die Hälfte der Bewohner jährlich die Wohnung, also den Raum der Geborgenheit, die „dritte Haut“, wie die Kölner Kunstpädagogin Irmgard Zepf 1985 formulierte. Die Beschaffenheit dieser Wohnungen genügte häufig nicht dem Bedürfnis, sich privatisieren zu können. Ein Hinterstübchen, die „derriere boutique“, aber hat der Mensch für sein Wohlbefinden nötig, befand schon im Zeitalter der Religionskriege der Essayist und Kulturkritiker Montaigne in Bordeaux. Die Suche nach einem festen Platz, „wo es sich aushalten lässt“, weil man „sich auskennt“, gehört zur Industriegesellschaft, wie die zumeist ökonomischen Zwänge, die den Ortswechsel verursachen.
Man kennt sich aus, wo die Bedeutungen der Zeichen, die uns umgeben, vertraut sind. Jeder Ortswechsel ist eine kürzere oder länger dauernde Orientierungskrise. Sie spannt unsere Aufmerksamkeit, die sich auf das Fremde richtet, um es zu erkennen. Sie strapaziert das Wahrnehmungsvermögen und zieht Energien von uns selbst ab. Wenn er sich nicht mehr auskennt, gerät der Mensch „außer sich“. Das kann bis zur Panik führen. In jedem Fall stört es das Wohlbefinden. Der seelische Haushalt will, das „alles in Ordnung“ sei. Dann fühlen wir uns „heimisch“ und „heimelig“ oder „daheim“. Die deutsche Sprache hat eine ganze Reihe solcher Wortbildungen, die allesamt den psychologisch fassbaren Zusammenhang von organischem Wohlbefinden und unmittelbarer Umwelt benennen. Heimat heute heißt also auch, sich in der Umwelt, in die man hineinkommt, Wohlbefinden, und es ist die Spekulation auf solches Wohlsein, das die Verheißung einer jenseitigen Heimat so dauerhaft macht. „Was jedem in die Kindheit scheint“, wie Bloch schrieb, ist die unangefochtene Selbstdarstellung, die Übereinstimmung des Selbst mit der Umwelt.
Heimat ist, abgesehen von allem anderen, immer ein vertrauter Raum, ein Raum der Geborgenheit, der durch seine Selbstverständlichkeit die Selbstdarstellung freigibt. „Hier bin ich Mensch, hier kann ich’s sein …“ Ist dieser Raum bedroht, sind wir persönlich beleidigt, weil unser subjektiver Wert infrage gestellt wird, wenn sein Spielraum sich verringert. Alle Kriegshetze spricht deshalb von der bedrohten Heimat. Sie sucht Abwehrkräfte zu mobilisieren, die in der Kindheit sich bilden, in der wir mit der unmittelbaren Umwelt uns die Welt aneignen. Heinrich Böll erzählte mir, dass seine Kinder, in die Trümmer Kölns hineingeboren, diese Trümmer-Welt als ihre Heimat liebten und irritiert waren, als sie vom Wiederaufbau verdrängt wurde. So ist es einer Generation von Kindern ergangen, die ihre „Heimat in Trümmern“ hatten. Böll selbst hat 1975 (Drei Tage im März) beschrieben, wie er als junger Mensch in den 1930er-Jahren die Heimat seiner Jugend verlor: „Ich habe vor dem Krieg schon ein heimatliches Gefühl gehabt gegenüber der Stadt Köln; die hatte damals etwas sehr Gemütliches, wie ein Wohnzimmer, nicht ganz so sauber, ein bisschen verkommen, aber man konnte drin spazieren gehen. Diese Heimat habe ich eigentlich doch in Erinnerung. Sie ist dann allerdings zerstört worden durch die Nazis. Sie können sich gar nicht vorstellen, was das bedeutet: Sie gehen auf der Straße spazieren, plötzlich kommt eine Kolonne SA oder Hitler-Jugend, und Sie müssen grüßen. Was haben wir getan? Wir sind in
die nächste Haustür gegangen. Wir sind regelrecht geflohen… Es war die Zerstörung der Straße als Heimat, und Straßen sind Heimat. Weil man einfach rausgehen und spazieren gehen kann, guckt sich etwas an, wenn man ein paar Groschen in der Tasche hat, trinkt man einen Kaffee oder geht ins Kino.“
Straßen sind Heimat in der als Einheit gesehenen Nahwelt: „Unsere Straße, in der wir wohnen und zu der die gehören, die auch da wohnen. Fernstraßen sind Heimat für den Fernfahrer, der sich auf ihnen auskennt, ihre Tücken und Kurven, ihre Steigungen und Kreuzungen oft befahren hat und die Wirtshäuser kennt, in die er einkehrt, weil man ihn dort kennt.“ Alexander Mitscherlich hat 1965 in seinem Essay über Die Unwirtlichkeit unserer Städte auch danach gefragt, was eine Wohnung zur Heimat mache, and geantwortet, es seien die menschlichen Beziehungen, die an einen Ort geknüpft sind, die ihn zur Heimat machen. Die Wohnung wird durch „Verzahnung mit der Mitwelt zur wirklichen Heimat“. Und: „Wer nie die Grunderfahrung einer Umwelt hatte, in der er sich aufgehoben fühlte, entwickelt diese Fähigkeit, Erfreuliches zu entdecken, kleine Freundschaften zu entwickeln, kurz diese Leichtigkeit im Umgang später nur mit Schwierigkeiten. Denn um sich beheimaten zu können, bedarf es doch einer Verzahnung mit der menschlichen
Umwelt insbesondere, ich will mich niederlassen und die anderen müssen mir den Platz dazu mit freundlichen Gefühlen abtreten.“ Dass die Ansässigen den anderen einen Platz abtreten, ist ein jüdisch-christliches Gebot seit Moses: „Die Fremdlinge sollt ihr nicht unterdrücken; denn ihr wisset um der Fremdlinge Herz, dieweil ihr seid auch Fremdlinge in Ägyptenland gewesen.“ (2. Moses 23, 9 o. ö.) Ein sehr aktuelles Gebot in der europäischen Binnenwanderung der Gegenwart und bei den vielen Asylanten aus Übersee. Die Bibel fordert, den Fremdling am 7. Tage zu Tisch zu laden, damit er „sich erquicke“.
Zur Heimat als Utopie, als „himmlisches Jerusalem“ oder irdische Idealordnung, und zur Heimat als unbegrenzter Raum der Wohnung, des Hauses, der Gemeinde und des Landes kommt als dritte Bedeutung heute Heimat als soziales Netz. Ein Netz sichert, indem es gefangen hält. Das Gefühl des Aufgehobenseins in der heimatlichen Umwelt kann leicht zu viel werden. Dann wird aus dem Aufgehobensein Gefangenschaft, der vertraute Stallgeruch wird zum Gestank, die Geräusche der Umwelt werden zum Lärm und
unerträglich. Die vertrauten Gesten der Familien und Nachbarn erscheinen albern oder bedrohlich oder beides. Wir erkennen: Heimat hat ihre Zeit.
Die Auseinandersetzung mit der vertrauten Umwelt führt über deren Grenzen notwendig hinaus, wenn wir bewusst oder unbewusst mit ihr „fertig“ sind. „Die Dinge, die dem Menschen heimatlich vertraut werden“, sagte der Berliner Semiotiker Ivan Bystrina beim Internationalen Kornhausseminar Weiler/Allgäu über Heimat und Heimatlosigkeit 1985, „sind diejenigen, die er greifen, also auch be-greifen, fassen, also auch er-fassen, verändern, bearbeiten, sezieren, untersuchen, verbrauchen, vernichten kann. Demgegenüber stehen die Bereiche des Fernen, Unerreichbaren, Unbekannten, Rätselhaften, Unbegreiflichen, Gefährlichen und Heimlichen, wie das Meer, der Wald, die Sterne, der Tod.“
Wir entwachsen der Heimat, indem wir sie als solche in ihren Grenzen und ihrer Enge begreifen. Der junge Nietzsche hat in seinem Frühgedicht Ohne Heimat das lyrische Muster dieses Entwachsens für ungezählte Nachfolger geliefert bis zum heutigen Tage:
Flucht’ge Rosse tragen
mich ohn‘ Furcht und Zagen
durch die weite Fern.
Und wer mich sieht, der kennt mich,
und wer mich kennt, der nennt mich
den heimatlosen Herrn.
Heidideldi!
Verlass mich nie,
mein Glück, du heller Stern!
Niemand darf es wagen, mich darnach zu fragen,
wo meine Heimat sei.
Ich bin wohl nie gebunden
an Raum und flucht’ge Stunden,
bin wie der Aar so frei.
Heidideldi!
Verlass mich nie,
mein Glück, du holder Mai!
Die Freiheit ist beim jungen Nietzsche außerhalb der Heimat. Niemand darf wagen, den „heimatlosen Herrn“ nach seiner Heimat zu fragen. Der könnte sonst identifiziert werden, und dabei würde
sich herausstellen, dass der Dichter, „wie der Aar so frei“, ein Gymnasiast in Schulpforta ist und eben kein „heimatloser Herr“, überhaupt kein Herr, sondern dabei, einer zu werden. Die Heimat nimmt es mit den Unterschieden Deshalb drängt die Pubertät aus ihr hinaus neuer Vermessung zu. feiest zurückzukehren, wenn „in der Welt“ etwas aus dem geworden, der im Hause klein war. Klein kommt die Heimat jedem vor, der in sie zurückkehrt. Die Räume und Sachen erweisen sich als kleiner, als sie in der Erinnerung leben. Klar: Sie waren größer dem Kind gegenüber und belebt von Mächten, die heute keine mehr sind. „Heimat ist, wovon wir ausgehen- zitierte Dolf Sternberger 1947 den Dichter T. S. Eliot, als er sich in der Zeitschrift Die Wandlung um den „Begriff des Vaterlandes“ bemühte. Mehr als das, wovon wir ausgehen, sei Heimat nicht, fügte er hinzu: „Aber das ist auch schon sehr viel, denn die Spur des Ausgangs ist unverwischbar. Es ist die menschlichste Bestimmung der Heimat, die sich finden lässt.“
„Heimat ist: wovon wir ausgehen.“ Wenn wir diese Bestimmung von T.S. Eliot annehmen, liegt nahe zu fragen, wovon gehen
wir aus? Jeder wird in eine Umwelt hineingeboren, die er sich nicht wählt, die er aber sogleich mit Geschrei erfüllt, um auf sich aufmerksam zu machen, und die er sich auf diese Weise aneignet. Zuwendung, Rücksicht, Vertrauen — das ist, was „allen in die Kindheit scheint“, wie Bloch sagt, und es ist animalisch mit Geruch und Geschmack, eine bleibende Imprägnierung sozusagen. Für Heinrich Böll war es „der bittere Geruch von Rohkakao, der den Häuserblock (…) frühmorgens umzingelte“, wenn er zur Schule ging, und der Geruch der väterlichen Werkstatt. So hat jeder seinen „Stallgeruch“. „Solche Heimat-Assoziationen sind unauslöschlich wie unzählige andere“, schreibt Böll, „ich brauchte nicht am Ort zu wohnen, um sie wiederzufinden, im Gegenteil: mit dem Quadrat der Entfernung wächst ihre Intensität, bei gegenseitiger Annäherung ergibt sich die peinliche Differenz zwischen Erinnerung und Sentimentalität; nah besehen wird das alles schal und peinlich, man stelle sich vor, ein Maler würde Apfel und Birne aufheben, konservieren, die ihm einmal Modell zu einem Stilleben gewesen sind. Natürlich verliert einer Kindheit und Jugend, wenn er auszieht, das Fürchten zu lernen, und damit hört alles auf, so zu sein, wie ,es einmal war‘.“
Pubertät, Auszug, Erwachsen als natürliche Formen des Kindheitsverlustes durch Ortsveränderung und Heraustreten aus dem vertrauten Netz der Familie auf die Straße, in die Öffentlichkeit, erschließen den Jungen die Welt um den Preis der Heimat. Heimat als Passage für Millionen, die anderswo ihr Leben machen.
Böll hat 1975 die Zerstörung der Heimatstadt Köln beschrieben durch Rückverwandlung der Urbanität in ein Jagdrevier in den 1930er Jahren. Eine Regression, die auch nicht durch die heutigen Fußgängerzonen und Spielstraßen überwunden ist. Sie sind in die Städte eingelassen worden wie gute Stuben als Straßen zum Flanieren und Sichniederlassen auch und gerade für jene Bürger, die ihre Fenster nicht mehr öffnen können, weil der Lärm und Gestank der Autos ihre Wohnstraße längst unwirtlich gemacht hat. Heimat als Zuflucht der Gejagten und als Ausgangspunkt der Jagenden?
Wovon gehen wir aus? Vom Raum? Von den Mitteilungen, die wir geben und empfangen, vom Kollektiv also? Von der Zeit? Heimat in der „peinlichen Differenz zwischen Erinnerung und Sentimentalität“ ist zwar nicht so, wie wir sie uns vorstellen; aber mit ein wenig „so tun als ob“ könnte sie doch so sein, wie sie nicht wahrgenommen werden kann. Die räumliche Heimat mit utopischen Qualitäten auszustatten, liegt nahe, weil nur wir sie so gut kennen, als kundig gelten, aber schlecht überprüfbar sind. Die große Flunkerei mit der Geschichte der Heimat und des Vaterlandes nützt die Unfassbarkeit des Vergangenen. In Sachen unserer Heimat sind wir womöglich die einzigen Zeugen, und wir kennen sie so gut. Tonlage und Gestus der Heimat haben wir gelernt, ehe wir die logische Struktur der Sätze und lange ehe wir die sozialen Ursachen zu bedenken begannen. Das Heimatliche „sitzt“ und verführt dazu, es so zu beschreiben, dass die Herkunft die gegenwärtige Stellung stützt: Herkunft und Heimat als Legitimation, schon in Hölderlins Versen:
Ihr teuren Ufer, die mich erzogen einst, Stillt ihr der Liebe Leiden, versprecht ihr mir, Ihr Wälder meiner Jugend, wenn ich Komme, die Ruhe noch einmal wieder?
Nicht nur die soziale Herkunft, der heimische Herd und das Ambiente müssen herhalten, um das Subjekt zu stützen, auch die Landschaft, ihr Himmel und ihre Zeiteinteilungen. Weihnachten ist ein solches Heimatfest zwischen Erinnerungen an die Kindheit und Sentimentalität. Da tritt das alltägliche Maß für die Dinge für ein paar Stunden außer Kraft. Was uns die Fremde zu sehen gelehrt hat, weicht dem Kinderblick für eine Weile. Heimat als emotionale Stütze der Person: Heimatliteratur, Heimatkunst, Heimatzeitung, Heimatfilm. Wir sind wieder in der Metaphysik: Wahrnehmung und Vorstellung gehen in eins.
Das ist der Moment des Magischen auf der „Sentimentalitätsklippe“ (Hermann Broch) — von der man in den Kitsch abstürzt. Ach ja, es ist rührend — und warum soll ich mich nicht rühren lassen?
Heinrich Heine begegnete 1833 auf der Landstraße bei Le Havre einem Zug deutscher Auswanderer, und es blieb ihm „durch jene Begegnung ein Kummer, eine schwarze Traurigkeit, eine bleierne Verzagnis im Herzen dergleichen ich nimmermehr mit Worten zu
beschreiben vermag. Ich, der eben noch so übermütig wie ein Sieger taumelte, ich ging jetzt so matt und krank einher wie ein gebrochener Mensch. Es war dies wahrhaftig die Wirkung eines plötzlich aufgeregten Patriotismus. Ich fühlte, es war etwas Edleres, etwas Besseres. Dazu ist mir seit langer Zeit alles fatal, was den Namen Patriotismus trägt. Ja, es konnte mir einst sogar die Sache einigermaßen verleidet werden, als ich den Mummenschanz jener schwarzen Narren erblickte, die aus dem Patriotismus ordentlich ihr Handwerk gemacht.“
Heine hat, wie viele andere politische Tendenzen, auch die Ambivalenz vorausgesehen, die in den hundert Jahren zwischen 1833 und 1933 das Wort „Heimat“ im Deutschen bestimmte. Einerseits die Suche nach Geborgenheit, nach Kindheit, wie sie Bloch in seiner Profanierung des „himmlischen Jerusalems“ ausdrückte, andererseits die Flucht aus den deutschen Regierungsverhältnissen. Es ist ja in den friedlichen Zeiten, als die deutsche Politik „noch in Ordnung“ war, auch nicht so gewesen, dass die waltenden Zwänge niemanden bedrückt und unterdrückt hätten. Da sprechen die Auswandererzahlen eine deutliche Sprache. „Das Wesen des Frühlings erkennt man im Winter, und hinter dem Ofen dichtet man die besten Mai-Lieder. Die Freiheitsliebe ist eine Kerkerblume und erst im Gefäng-
nis erkennt man den Wert der Freiheit“, schreibt Heine 1833, und weiter: „So beginnt die deutsche Vaterlandsliebe erst an der deutschen Grenze, vornehmlich aber beim Anblick deutschen Unglücks in der Fremde.“
Fast hundert Jahre später, 1929, beendete Kurt Tucholsky, nach Schweden ausgewandert, seinen negativen Befund „Deutschland, Deutschland über alles“ mit dem Bekenntnis: „Der Staat schere sich fort, wenn wir unsere Heimat lieben … Ja, wir lieben dieses Land … Im Patriotismus lassen wir uns von jedem übertreffen — wir fühlen international. In der Heimatliebe von niemand — nicht einmal von jenen, auf deren Namen das Land grundbuchlich eingetragen ist. Unser ist es.“ Die Staatspropaganda hat aber immer die Heimatliebe und die Emanzipationsbedürfnisse der Jugend zugleich ausgeschlachtet.
Dass man hinter dem Ofen die besten Mai-Lieder dichtet, haben außer Heine auch andere Emigranten erfahren. Viele leiden, wenn ich Zeitgenössisches richtig lese, noch heute unter dieser allgemeinen Erfahrung. Aber ist es nicht auch nachdenkenswert, dass die
deutsche Vaterlandsliebe auf die Grenze dirigiert wurde, hinter der die Freiheit zu Hause war? Schon Heine hat gesehen, dass der deutsche Patriotismus nicht nur ein Hass gegen die Franzosen, sondern auch gegen „Zivilisation und Liberalismus“ war. „Der Rhein, Deutschlands Strom, nicht Deutschlands Grenze“? „Die Wacht am Rhein“? Kerkerwacht vor humanistischer und humanitärer Revolution? Ein vorverlegter „Eiserner Vorhang“? Erst als das Volk den „Erbfeind“ intus hatte, konnten die Fürsten aufhören, wechselweise mit ihm zu paktieren.
Der Weg wurde frei für des Artisten Bismarck artistische Gründung. Die Schlacht von Sedan konnte geschlagen werden. Sie hat dann den deutschen Patriotismus bestimmt bis Hitlers „Großdeutsches Reich“ 1938 das ältere Traummuster vom Staat aller deutschen Heimaten zu realisieren begann: „Heim ins Reich!“ war die Parole, und das Schlagwort von der „Heimatfront“ verrückte jeglichen Sinn von Heimat ins Kriegerische. Hitlers Restauration des Staates als eines mythischen Kollektivs, das durch den „Führer“ von der Vorsehung gesteuert wird, zwang zurück in mittelalterliche Kollektivsymbolik und ließ für Heimat keinen freien Raum. Der „totale Krieg“ endete mit der totalen Niederlage und allein zwölf Millionen deutschen Flüchtlingen und Heimatvertriebenen. Diese
wurden auf ihrer Suche nach einer neuen Heimat in Deutschland zur klassischen „Reservearmee des Kapitalismus“, die das sogenannte „Wirtschaftswunder“ der 1950er-Jahre erst ermöglicht hat — ähnlich wie die immer neuen Heimatsucher den Wohlstand der Vereinigten Staaten schufen.
Eindrucksvoller kann nicht bewiesen werden, welche Kraft die Heimatlosigkeit entfaltet, um Heimat zu gewinnen, wenn sie Chancen hat, sich zu entfalten und nicht — wie die palästinensischen Flüchtlinge — in Lager gesperrt wird.
Auf dem internationalen Seminar über Heimat und Heimatlosigkeit, das Schriftsteller und Sozialwissenschaftler, darunter Emigranten verschiedener Nationalität, im August 1985 in Weiler/Allgäu zusammenführte, resümierte der römische Kultursoziologe Carlo Mongardini die mythischen, räumlich-zeitlichen und sozialen Bedeutungen von „Heimat“ heute als identitätsstiftende Faktoren kleiner Gruppen in unmittelbarem, bewusstem Kontakt zur von ihnen gepflegten Umwelt. Die zu beobachtende Tendenz zum „Lokalismus, zu dem Heimat gehört“, könne als Zeichen kultureller Er-
neuerung verstanden werden. Dann komme ihr eine „wichtige und vielleicht revolutionäre Funktion in der Zukunft zu. Sollte aber der Lokalismus nur eine tröstende Vorstellung, ein Zufluchtsort gegen die Bedrohungen einer unverständlich und ungastlich gewordenen Gesellschaft und gegen eine unkontrollierbare Herrschaft bedeuten, sollte er die Formen von Egoismus und Privilegien wiederbeleben, sollte er eine Form von Einkapselung und Kampf gegen die Großgesellschaft bedeuten, würde er nur unproduktive Regression schaffen, die allen Manipulierungen und Veruntreuungen der Macht freien Lauf lässt.“