In einem Brief an Daniel Brody, den Freund und Verleger, kündigte Hermann Broch am 28. September 1945 die Fertigstellung seiner Massenpsychologie für den 1. April 1999 an. Zur selben Zeit versprach er sich viel von einem politischen Buch, das im März 1951 fertig werden sollte. Dieses politische Buch betrachtete er als seine „Schuld an die Weltschuld“. Von ihm erhoffte et sich Wirkung, falls der New Yorker Verlag Knopf es bringe, der damals den Bergroman veröffentlichen wollte. Ein Kondensat dieser Politik gab Hannah Arendt im Rahmen der Gesammelten Werke 1955 im Band Erkennen und Handeln heraus, Fragmente zur politischen Thematik Wolfgang Rothe 1959 im Band Massenpsychologie.
Fünfundzwanzig Jahre nach Brochs Tod und bald dreißig, nachdem das Thema mit dem Schriftsteller umging, ist zu fragen, wie sich Brochs „Schuld an die Weltschuld“ heute ausnimmt. Der Fragende weiß sich mit Hermann Broch in dessen Forderung einig: „Humanität muß sich des Relativismus aller inhaltlichen Feststellungen bewußt bleiben.“ Wie Broch nehme ich an, daß alles Inhaltliche bloß relativen Wahrheitswert besitze, und dort Inhaltliches, zum Absolutum erhoben und in seiner letzten Konsequenz verfolgt, Mord und Wahnsinn nötig hat, um sich zu behaupten. Und, wie Broch Ende der 1940er Jahre, beschäftigt mich Ende der 1970er Jahre die Frage, wo dieser Relativismus ende, denn auch er muß relativ bleiben, wenn er der Forderung entsprechen soll, daß Humanität sich des Relativismus aller inhaltlichen Feststellungen bewußt zu bleiben habe. Das Problem ist nicht von Broch erfunden, sondern ein uralter Topos der Philosophie, dem nachzugehen hier nicht der Platz und nicht der Raum ist. Ich nehme an, daß es uns auch in fernerer Zukunft Broch beschäftigen wird, weil die Demokratie, wie Broch sagt, „infolge ihrer spezifischen Konstruktion immer die Neigung hat, sich relativistisch aufzulösen“.
Das philosophische Problem wird zum politischen Problem, sobald es in die Begründung von Machtverhältnissen eingeht, und es wird erst recht politisch, wenn die politische Ordnung der Philosophie entbehrt. Daß Broch den Wertrelativismus in seine politischen Betrachtungen einbezog, war angesichts der Welt, in der er lebte, nicht verwunderlich. Er sah im Nationalsozialismus und Faschismus die Macht um der Macht willen, im Marxismus-Leninismus die absolut gesetzte Philosophie und in der amerikanischen Demokratie, die ihm Exil bot, die Widersprüche zwischen der anarchischen Grundverfassung des Menschen und der Tendenz zur Versklavung. In der Geschichte der politischen Literatur deutschsprachiger Autoren zählen Brochs politische Fragmente zu den Büchern der unmittelbaren Betroffenheit in der faschistischen Epoche, die Titel kennzeichnen, wie Jaspers, Geistige Situation der Zeit, wie Rauschning, Revolution des Nihilismus, Franz Neumann, Behemoth, Ernst Fraenkel, The Dual State, Ernst Cassirer, Vom Mythos des Staates, Alfred Weber, Abschied von der bisherigen Geschichte, Hannah Arendts Totalitarismus-Studien und viele mehr, zieht man so weit auseinanderliegende Szenerien in Betracht wie in Franz Borkenaus The Spanish Cockpit und Paul Lazarsfelds The Academic Mind.
Alle diese Bücher zwischen 1930 und 1950 haben Einfluß auf die wissenschaftliche wie die politische Diskussion gehabt, ja eigentlich den theoretisch-analytischen Zweig der politischen Wissenschaften, wie er sich nach dem Zweiten Weltkrieg kräftig entwickelte, hervorgebracht. Die Essenz dieser unmittelbaren Antworten, das, was sie gemeinsam haben, ist meines Wissens aber nicht formuliert worden. So haben wir einen weitverzweigten Ast der politischen Theorie; aber es ist fraglich, ob alle, die auf ihm sitzen und an ihm sägen, auch begreifen, welchen Stammes er ist. Die libertäre Tradition, aus der diese Antworten hervorgegangen sind, wird von einer neuen akademischen Generation im Lichte absolut gesetzter Inhalte gesehen, und schon mit solcher Verabsolutierung ist das Gemeinsame verfehlt, das Verständigung ermöglicht.
Dieses scheinbar nur ideengeschichtliche Problem ist hochpolitisch. Die Demokratie, soweit sie menschenrechtlich postuliert und naturrechtlich fundiert ist, kann keinen Index verbotener Bücher aufstellen, und ein Index zu lesender Bücher wäre schwer durchzusetzen. Die Antworten, die in den zwei Jahrzehnten von 1930 bis 1950 auf die nationalsozialistische Herausforderung der Humanität gegeben worden sind, bieten insgesamt noch keine Theorie der demokratischen Zukunft, oder der Zukunft der Demokratie; aber ohne die Bücher der Betroffenheit ist eine solche Theorie undenkbar, weil nur sie die Spuren der unmittelbaren Auswirkung der europäischen Katastrophe überliefern.
Hermann Brochs Beitrag umkreist das Verhältnis von Erkennen und Handeln. Durch einen neuerlichen Rückgang auf erkenntnistheoretische und logische Grundlagen der Politik wollte Broch ein metapolitisches System aufbauen, das „den Bedürfnissen des modernen Menschen ebenso zu genügen vermag wie das Marxs, ohne darum wie dieses ins Unmenschliche zu verfallen“. So am 28.7.50 an Friedrich Torberg. Im nämlichen Brief entwickelt Broch die „Fest- und Fragestellungen“, von denen sein Traktat ausgeht. Broch nimmt an, daß vom Moral-Glauben der Menschheit, der in Gott gründete, nur der Glaube an die Gerechtigkeit übriggeblieben sei, weil sich unter deren Flagge (berechtigte) Ressentiments ausleben lassen. Ansonsten werde nur noch geglaubt, was in Gestalt wissenschaftlicher, ‚beweisbarer‘ Überlegungen vorgebracht wird. Der Mensch klammere sich um so mehr an die Wissenschaft, als sie das „technische Dschungel“ hervorgebracht habe, in dem sich der Mensch so verloren fühle. Autoritätsbedürftiger als je mythisiere der Mensch die ihn umgebenden Mächte, nicht zuletzt „das Rationale schlechthin“ in Gestalt der Wissenschaft, und er suche durch unbedingte Unterordnung seiner Unsicherheiten ledig zu werden. Solchen Tatsachen und Wünschen trage der Marxismus Rechnung, er habe sich infolgedessen zur Totalität entwickeln können. „Die Fascismen sind im großen und ganzen bloß seine Nachahmung.“ Und so habe sich im Gegensatz zur Marxschen Ausgangsposition daraus ein Weltzustand ergeben, in dem alles möglich und alles erlaubt sei, der Zustand des Verbrechens an sich. „Soferne man diesen Weltzustand als ’schlecht‘ empfindet, muß man sich sagen, daß der Marxismus ‚Initial-Fehler‘ enthält … Wo Initial-Fehler vorhanden sind, läßt sich nichts ‚weiterentwickeln‘, vielmehr muß ganz von neuem angefangen werden.“
Brochs „Politik“ ist unter diesem Gesichtspunkt ein weiterer Beitrag der liberalen Marxkritik, die so illustre Namen aufweist wie Michael Bakunin, Ferdinand Lassalle, Thomas Masaryk und die der Kathedersozialisten bis hin zu Max Weber, den Broch in Wien gehört haben dürfte. Diese Kritik läßt sich auf den gemeinsamen Nenner bringen, daß unter Mißachtung der menschlichen Natur ein wissenschaftlicher Ansatz zu einer Heilslehre verabsolutiert worden ist, die mit der Drohung eines gesetzmäßigen Ablaufs der Geschichte die Massen schon entmündigt, indem sie in ihrem Namen zu entscheiden vorgibt. Immer unter der Voraussetzung, daß ein „ruhender Zentralwert“ fehle, hält Broch den Marxismus für fähig, die Sicherheit eines einheitlichen Wertsystems zu restaurieren. „Der Kommunismus beläßt dem Menschen keine seiner sonstigen Bindungen, er befreit ihn von allen und konzentriert ihn dort, wo er ohnehin sich schon neigungsgemäß befindet, also im Wirtschaftlichen, und da er überdies wissenschaftlich konstruiert ist und der westliche Mensch nur das ‚wissenschaftlich Beweisbare‘ glaubt, ist die marxistische Heilslehre — mitsamt ihrem Versprechen auf ein wirtschaftlich bedingtes irdisches Gottesreich — strukturell durchaus geeignet, dem westlichen Menschen wieder die Sicherheit eines einheitlichen Wertsystems zu geben.“ Wo der Marxismus seine Abkunft vom Hegeischen „Weltgeist“ nicht verleugnet und in der Revolutionstheorie die „Idee der Wirtschaftsgerechtigkeit“ voranstellt, überschreitet er seinen wissenschaftlichen Rahmen, und er wird „unterwissenschaftlich“, in Brochs Terminologie, wo mit der Verengung der Lehre auf die Sündhaftigkeit aller Nichtproletarier und die Darstellung des „Klassenfeindes“ Propaganda und Terror ineinander übergehen.
Wo die Nationalsozialisten den „arischen Nachweis“ verlangen und die Kommunisten den proletarischen Nachweis, sind sie einander am nächsten. Daß beide politische Praktiken möglich wurden, führt Hermann Broch wiederum auf den Zustand der jeweiligen Wertsysteme zurück. Er unterscheidet zwischen Völkern, die infolge Zersplitterung ihrer bisherigen Zentralwerte „kommunismusreif‘ sind, und solchen, deren stabiles Wertsystem nur durch ein anderes ebenso stabiles ersetzt wird, was in Rußland der Fall war und, so wird man hinzufügen müssen, überall dort, wo keine bürgerliche Revolution sich durchgesetzt hat, wie sie in den westlichen Demokratien stattfand.
Broch geht auf die zeitliche Phasenverschiebung der Demokratisierung nicht weiter ein; aber er sieht deutlich, daß für die vom europäischen Kolonialismus befreiten Völker die Demokratie als die Staatsform ihrer ehemaligen Unterdrücker weniger anziehend sein muß als die im Prinzip vorbildliche sowjetische Minoritätenpolitik, deren Praxis als russische Kolonialpolitik sie ja nicht erfahren haben. Von der europäischen Demokratie kennen sie die überseeische Kehrseite des Imperialismus, vom Sowjetmodell nur die überseeische Schauseite und nicht die russische Konkretion. Wo also die europäische Expansion seit Renaissance und Reformation hinreicht, hat sie mit der Auflösung der vorgefundenen Wertsysteme das Bedürfnis nach einem plausiblen Zentralwert geschaffen, aber nicht befriedigt. Die Hoffnung, die Amerikas Botschaft des „pursuit of happiness“ lange gewesen ist, scheint Broch mit dem Verbrechen von Hiroshima und dem nachfolgenden Paktieren mit tyrannischen Regierungen, wenn nicht erloschen, so doch verringert. Die Entwicklung der neuen Staaten nach seinem Tode und die ideologischen Debatten im Rahmen der UN scheinen ihm recht zu geben. Es ist, als ob die Vereinigten Staaten nach dem Niedergang des europäischen Kolonialismus dessen Politik fortzusetzen hätten, während inzwischen der europäische Imperialismus im engeren Sinne als römische Erbschaft vom „Heiligen Reich“ an Frankreich und England und von Deutschland an Rußland übergegangen ist. Diese Vorstellung Brochs findet heute ihre Entsprechung in der chinesischen Theorie vom sowjetischen Sozialimperialismus; aber es ist leider nicht feststellbar, ob Mao tse tung und Tschou En Lai Hermann Broch gelesen haben.
Brochs Einschätzung der ideologischen Weltlage um 1950 wäre unvollständig referiert, wollte man seine Betrachtung der katholischen Kirche und der inneren Entwicklung des Kapitalismus außer acht lassen. Die Kirche ist für ihn der letzte Hort des zur Humanität verweisenden Zentralwertes, unerbittlich und dogmatisch in einer Welt zersplitternder Wertsysteme der Widerstand gegen die Expansion des Kommunismus, sowohl als oströmisch-russische Erscheinung, wie als Heilslehre. Auf die Erhaltung des Dogmas ein geschworen, ist das kirchliche Paktieren mit faschistischen Systemen ähnlich einzuschätzen wie das der Sowjets mit den Faschismen, bloße Politik, die an der Wertorientierung nichts ändert. Beide Institutionen schließen Pakte mit Ungläubigen, die als solche alle gleich sind, im Besitz unbestrittener Wahrheiten, hier des christlichen Glaubens, dort der marxistischen Wissenschaft. Die Maßstäbe, die angelegt werden können, sind nicht diejenigen, die an die Politik von Demokratien anzulegen sind.
In der Beurteilung der wirtschaftlichen Verhältnisse unterscheidet Broch den Primitivkapitalismus, der extensiv betrieben wird und auf Vollbeherrschung des Marktes wie der Arbeitskraft zielt. Dieses Ziel scheint Broch in der Sowjetunion erreicht, nicht durch die Planwirtschaft, sondern durch die politische Bestimmung zugunsten der Produzenten. Im westlichen Kapitalismus hat inzwischen das Bedürfnis des Konsumenten einen wichtigen Teil an den Wirtschaftsverhältnissen. Der „Intensivkapitalismus“ rückt zunehmend vom Prinzip der Ausbeutung ab, nicht zuletzt, weil die gut bezahlte Arbeitskraft die Kaufkraft erhöht. Aber auch hier gibt es „Wirtschaftsversklavung bei hohen Löhnen und niederen Preisen, kurzum eine Versklavung in und durch prosperity, und es läßt sich behaupten, daß gerade die Intensivwirtschaft hiefür Pate gestanden hat und daß sie eben hiedurch politisch so lahm ist, wie sie ist. Denn wenn alle Energien des Menschen auf die Güterproduktion gerichtet sind, wenn er keinen anderen Lebenssinn als diesen kennt, so wird er eben in einer Art von der Wirtschaft beherrscht, daß er, bei aller politischen Freiheit, sich selbst allen Charakteristiken des Sklaventums unterwirft. Nicht zuletzt darum ist der Unterschied zwischen den beiden großen politischen Parteien der Vereinigten Staaten so überaus gering. Und diese Versklavung ist um so haltbarer, als sie keinen konkreten Sklavenhalter kennt; sie ist die bedingungslose Unterordnung unter ein Abstraktum, das manchmal ‚die Firma‘ oder ‚das Unternehmen‘ heißt, zu dessen Wohl der Mensch seine letzte Kraft herzugeben hat, in Wahrheit aber stets ein unsichtbarer Götze ist, der den Generaldirektor ebenso gut wie den letzten Arbeiter unerbittlich und absolut beherrscht.“ Hermann Broch warnt davor, sich vom Übergang der kommunistischen Kollektivwirtschaft zum Intensivbetrieb liberalisierende Effekte zu erhoffen, falls er zustande kommen kann; er sieht im „Glauben an das Wirtschaftliche“ den entscheidenden Faktor hier wie dort und so etwas wie eine neue Religion. Fünfzehn Jahre nach Broch griff die neue Linke der Studenten das Theorem der Wohlstandsversklavung in Gestalt der „großen Verweigerung“ von Herbert Marcuse auf, freilich nicht in der Skepsis, sondern als neomarxistisches Argument vom „Konsumterror“.
Die Einschätzung der ideologischen Großmächte von 1950 durch Hermann Broch ist nicht nur als Kritik des Kommunismus und des Kapitalismus zu verstehen. Sie erfolgt aus einer Tradition, die auf Diltheys „Anarchie der Wertsysteme“ sich zurückführen läßt. Broch sah diese Anarchie als eine politische, wie er Politik überhaupt als Ausgleich anarchischer Tendenzen verstand, und diese Tendenzen in den Menschen selber verlegte. Der Mensch braucht zwar den Nebenmenschen; aber er will nichts dulden, was seinen Willen einschränkt, er „wünscht alle nur irgendwie möglichen Befriedigungen aus seiner Ungebundenheit zu gewinnen, sucht dieser alles zu unterwerfen (vor allem also den Nebenmenschen) und ist demnach das ‚anarchische Tier‘!“ Diese anthropologische Bestimmung führt zu der Definition des Politischen: „Politik ist ständiger und ständig labiler Ausgleich anarchischer Tendenzen.“ Es geht nicht nur um Interessenausgleich, und der erreichte Ausgleich wird „soziale Ordnung“ genannt. In jeder dieser sozialen Ordnungen steckt ein Stück Versklavung; aber „das Naturrecht adelt die anarchische Tendenz des Individuums“ und damit die Demokratie, während Aufhebung der Freizügigkeit, der Berufsund Beschäftigungswahl, Aufhebung des Anspruchs auf gerechten Lohn und desjenigen auf unparteiische Rechtsprechung die anarchischen Tendenzen brechen und Versklavung bedeuten.
Die Theorie der Demokratie, die Broch entwickelt, zielt einzig und allein auf die Frage, wie in dieser Herrschaftsform politische, ökonomische und ideologische Versklavung ausgeschaltet werden können, damit die infolge des Abfalls von Gott eingetretene Wertzersplitterung nicht in totalitäre Formen führe. Denn der verwirrte, der „panikisierte“ Mensch fragt sich: „Aber ist es nicht besser, in die Ordnung der Dinghaftigkeit eingespannt zu sein, als die eigene Anarchie sehen zu müssen?“
Anarchie, anarchisch sind in solchen Zusammenhängen bei Broch negativ besetzte Begriffe. Wo Gott herrscht, entsteht dieses Problem nicht. Vermutlich würde der Dichter ihn als „Archos sed Anarchos“ definieren, den Herrscher jenseits von Herrschaft, wie mittelalterliche Theologen ihn verstanden. Zugleich aber ist die anarchische Natur des Menschen die Wurzel der politischen Kultur. Ich möchte nicht der Frage nachgehen, ob die Annahme der Ungebundenheit als menschliches Specificum richtig ist. Die Geschichte der Zähmung von wilden Tieren zu Haustieren, wie die Ergebnisse der Verhaltensforschung bei Tieren sprechen eher dagegen. Was Broch Ich-Erweiterung nennt und Lebens-Erweiterung als Konkretisierung anarchischer Tendenzen, ist nicht durch seine Natürlichkeit menschlich, sondern durch die natürliche Befähigung des Menschen, eine Kunst daraus zu machen, sie zu reflektieren, den Dingen einen Sinn zu geben und Bedeutung in ihnen zu erkennen. So gesehen wird die als Ausgleich anarchischer Tendenzen verstandene Politik erst möglich, und es sind nicht Tendenzen, sondern die Mittel des Ausgleichs die spezifisch menschlichen Charakteristika.
Hermann Broch hat diesen gedanklichen Schritt selbst vollzogen in dem wiederholt aufgeschriebenen Gedankengang zum Verhältnis von Gerechtigkeit und Sanktion. Er geht davon aus, daß die Gerechtigkeit das symbolische Rückgrat aller weltlichen Gewalt sei, weil Gerechtigkeit die anarchischen Tendenzen optimal ausgleicht. Die Inhaber der Ordnung sind um deren Selbsterhaltung willen gezwungen, wenigstens gerecht zu erscheinen, wenn sie es nicht sind. Das ist machbar durch Verlegung des magischen Bezugs in andere Symbolik. Broch weist daraufhin, daß die faschistische Justitia nicht mehr die Waage, sondern nur noch ein scharfes Schwert getragen hat. Die von Broch angenommene anthropologische Konstante der Lebenserweiterung findet sich damit ab, wenn diese andere Symbolik verstanden wird als Abwehr von Lebensminderung durch andere und somit, durch negative Akzentuierung eines „Fremden“, eines „Feindes“, eines „Anderen“, der eigenen Lebenserweiterung zukommt. Die Kategorie des Feindes dient dem Zusammenhalt der unter dem magischen Symbol einer Gerechtigkeit Versammelten.
Von diesem Ausgangspunkt betrachtet, geht es in der Politik Brochs nicht mehr in erster Linie um die materiellen Substrate, sondern um das Netz symbolischer Bezüge, die Lebensminderung auf der einen Seite und Ich-Erweiterung auf der anderen bezeichnen. Er leitet die Strafe als Ausstoßung von der realen Tötung ab und findet folgerichtig, daß jede Strafe symbolische Lebensminderung sei. “ … am Punkt der Milderung der einstigen, lediglich praktischen Tötung und ihrer Umwandlung zum ’symbolischen Tode‘ in der Strafe, erhält diese nicht nur ihren magischen Charakter, sondern vereinigt sich auch magisch mit der Idee der sakralen Menschenopferung, d.h. die Strafe wird zum Symbol des Menschenopfers.“ Noch die mildeste Strafe trägt die Züge der symbolischen Tötung, indem sie immer, durch Aussperrung, Entzug von Subsistenzmitteln usw., Lebensminderung bedeutet. Nun kann auch die Demokratie die Strafe nicht abschaffen-, aber sie hat, wie Broch sagt, endlich den Trennungsstrich zwischen Heidentum und Humanität zu vollziehen und die 1950 noch immer an der Spitze der Strafhierarchie stehende Todesstrafe abzuschaffen. Der Abschaffung der Todesstrafe kommt deshalb hohe Bedeutung zu; aber es kann auch ein Staat nicht Demokratie genannt werden, der seinen Bürgern erlaubt zu lynchen und damit die Tradition des Menschenopfers zu praktizieren.
Wenn die Unterscheidung von symbolischer und leibhaftiger Tötung selber symbolträchtig ist, so ergibt sich von daher die Aufmerksamkeit, die Symbolisierungsvorgänge erfahren müssen, wenn die so gekennzeichnete Idee der Humanität nicht aus den Augen verloren werden soll. Tatsächlich richtet Hermann Broch in seiner „Politik“ das Augenmerk vordringlich auf die symbolischen Zwänge und Mittel der Versklavung. Die Feind-Kategorie ist ein solches. Die Kleinpropaganda im Alltag ein anderes, und die kommerzielle Reklame, die von niemandem geglaubt wird und doch die Verkaufsziffern hinauftreibt, ein drittes Mittel dieser Art.
Was Horkheimer und Adorno 1947 die „Kulturindustrie“ genannt haben, als sie von der „Dialektik der Aufklärung“ sprachen, erfährt in Brochs Fragment die Bezeichnung „Spannungsindustrie“ und wird im Zusammenhang des Heroenkultes gesehen, den die am Konsum orientierte Wirtschaft nötig hat. Der Intensivkapitalismus, der als solcher ein ausgeklügeltes System symbolischer Bezüge darstellt, hat die Wettbewerbsspannungen in die Mußestunden der Leute hineingetragen, „geistig, sozusagen geistig hat dieser Sachverhalt zu der gewaltigen Spannungsindustrie geführt, deren zahmer Vorläufer der Detektivroman gewesen ist und die als Kino, Radio und Television sich immer noch weiter ausbreitet, während auf physischem Gebiet der moderne Sportbetrieb mit seinen spezifischen Rekordspannungen hier seinen Ausgang genommen hat“. Der aus der Wirtschaft entsprungene „Sportsgeist“ wirkt dann auf Wirtschaft und Politik zurück, ein Wert, der die amerikanische Demokratie zusammenhält, von dem aber Broch sagt, daß der Kommunismus die Chance habe, diese Gefühlsbeziehung zu durchbrechen, wenn er selber zur „success story“ werde. Eine Vermutung Brochs, die, lange vor dem Sputnik-Shock geäußert, die Linie der sowjetischen Propaganda aufzeigt, wie sie nach Stalin sich darstellt. Zu dieser Rekord- und Wettbewerbssituation gehört auch, daß beide Lager die Differenzen zwischen Kapitalismus und Sozialismus hochspielen. Von ihnen sagt Broch, sie seien „nicht viel anderes als terminologische Schattierungen“, wenn man sie unter dem wirtschaftlichen Gesichtspunkt betrachte, daß die Wirtschaftsformen weit mehr von der vorhandenen Gütermenge und ihrer Verwendungsbreite abhängen als vom Verwendungswillen der wirtschaftenden Subjekte. Freilich läßt sich dieser Verwendungswille nicht ausschließen, keine Wirtschaftsform ist ohne ihn, und so kehrt die Betrachtung wieder in die magische Sphäre von Gerechtigkeit und Ausgleich anarchischer Strebungen zurück. Die Werbekraft des Marxismus liegt in der Idee der Wirtschaftsgerechtigkeit, nicht im tatsächlichen Erlös an Gütern. Die „mystische Plausibilität“ der Idee wirkt um so stärker, als die konkreten Mittel der Lebenserweiterung ja doch unter dem Diktat der Interpreten des einzig wahren Zentralwertes stehen, mithin als Sanktionierung von Wohlverhalten ausgewiesen sind, „pursuit of happiness“ im Befolgen der Parteilinie.
Wie aber soll die von Broch mit der Naturrechtstradition und den Menschenrechten gleichgesetzte Demokratie ihren „ruhespendenden Zentralwert“ umsetzen? Sie hat kein einheitliches Bekenntnis, von dem normative Richtlinien ableitbar sind, wie im totalitären Staat, den Broch geradezu damit definiert, daß seine normativen Richtlinien unter strafrechtlichem Schutz stehen: „wer nach der Meinung der Partei, also der Instanz, der die Obsorge für die Einhaltung der Richtlinien anvertraut ist, gegen diese auch nur im geringsten verstößt (und sei es auch auf den politikfremdesten Gebieten), der ist ein Ketzer, keiner Toleranz würdig, da er die Gesamtheit gefährdet; er gehört ausgerottet.“ Zur menschenrechtlich fundierten Demokratie sind dagegen Bekenntnisfreiheit notwendig und die Freiheiten, diese Bekenntnisse zu äußern, sie zu verbreiten in Wort und Schrift. Eine Zensur soll nicht stattfinden. Die Vorstellungen von ihr gehen auf die „Gemeinde“ zurück, die intakte Einzelpersönlichkeiten voraussetzt; aber sie hat den Zentralwert der religiösen Gemeinde nicht, der die anarchischen Tendenzen integriert, sondern im Gegenteil mit den naturrechtlich verstandenen Grundrechten ja gerade die im Protest gegen kirchliche Bevormundung heraufgekommenen Menschenrechte als Codex.
Hermann Broch stellt fest, daß dieser Katalog von Grundrechten ungenügend geschützt ist. Es gibt keine Strafen, allenfalls Verwarnungen, wenn er verletzt wird. Sein Rat zielt auf „Totalisierung der Demokratie“, wie er sagt, damit „die Theorie der Demokratie und ihrer normativen Richtlinien jene wissenschaftliche Begründung erfährt, die dem rationalisierten Plausibilitätsbedürfnis dieser säkularisierten Epoche entspricht“. Das heißt im einzelnen: die Verletzung der Menschenrechte muß zu einem gemeinen Verbrechen erklärt werden. Es genügt nicht, den langen Weg, den sie in Einzelgesetzen gefunden haben, zurückzulegen, um zu ihrer Ableitung zu gelangen. Es sollte neben der mehr dekorativen Funktion der „Bill of rights“ der Schutz der ordentlichen Gerichte stehen, mithin das begründende Postulat der Demokratie in die Strafhierarchie aufgenommen werden. Da die Menschenrechte Schutz vor Versklavung postulieren, ist ihr Zusammenhang mit der Strafhierarchie evident, denn jede Verletzung bedeutet Lebensminderung und hintertreibt die Ich-Erweiterung, im „letzten eingestandenermaßen Mordabsicht“.
In den Strafkatalog werden aufgenommen Schutz der Grundrechte als solcher, Schutz gegen legislatorische ökonomische, bürgerliche Diskrimination und gegen Haßpropaganda.
Die Straftatbestände müssen genau formuliert werden, und Brochs Katalog beginnt in jedem Abschnitt mit der Bezeichnung des Täters „Wer durch Wort und Schrift…“ Er führt die Verlet- zungen allesamt auf den Mißbrauch der Meinungs- und Redefreiheit zurück, die wieder in den demokratischen Ländern historisch geworden ist durch die Korruption der öffentlichen Meinung, die sich aus der Unfolgsamkeit gegenüber den verkündeten Freiheiten verstehen läßt. Die Demokratien von heute sind niemals zu ihren Prinzipien vorgedrungen, ihre politische Praxis hat sich eher an ihnen vorbeigemogelt und sie ad usum delphini interpretiert.
Hermann Broch gibt mit seinem Vorschlag, die Verletzung der Menschenrechte zum gemeinen Verbrechen zu erklären, einen plausiblen Rat, was deren Durchsetzung angeht. Der sanktionslose Zustand erweist sich ja auch in der internationalen Organisation als ein Hindernis, die Verhältnisse zu bessern. Da aber der ganze Zusammenhang ein symbolischer ist, muß darauf hingewiesen werden, daß es mit „Wort und Schrift“ nicht getan wäre. Das Bild, das Broch vernachlässigt, hat verletzendere Eigenschaften noch als Worte und Schriften, und auch die anderen visuellen Präsentationen, die im alltäglichen Umgang soziale Kontrolle vermitteln, sind nicht nur würdig, menschenwürdig, sondern oft das Gegenteil davon. Sollen sie auch unter Strafe gestellt werden?
Wo bleibt, wenn man es unternähme, „des Menschen oberstes Recht“, die Nichtversklavung? Sicherlich sprechen die über 100000 Verfassungsbeschwerden, die allein in den ersten 25 Jahren der Bundesrepublik Deutschland aufgelaufen sind, eine deutliche Sprache. Und Broch hat auch prinzipiell recht, wenn er die Meinungs- und Redefreiheiten als ernstzunehmende Aufgaben sieht und die Freiheit beim Wort nimmt. Aber nicht nur die zu schützenden Inhalte sind relativ, auch die Formen wandeln sich mit ihnen, und welche Formen sind es, die als Verletzung der Menschenrechte zu ermitteln wären, die groben nur, oder auch die feinen, die in der Liebe, die im Krieg? Ist Verlassen ein Verbrechen am Menschenrecht, da es doch jemandes Ich-Erweiterung mindert, sein Leben schmälert? Ist nur das Bedrängen eine solche Verletzung?
Hermann Broch hat uns in seiner „Politik“ Fragen hinterlassen, die uns helfen, Humanität zu erschließen, wenn wir ihnen nachgehen; aber wir werden sie nicht gelöst haben an jenem 1. April 1999, an dem er seine Massenpsychologie fertigzuhaben vorgab, nur „vorgab“.