Als Herr Kollege Tonnemacher mich freundlicherweise zu diesem Vortrag einlud, gedachte ich zunächst, über die Beschleunigung des Journalismus durch Elektrifizierung zu sprechen. Ihr Beginn deckt sich etwa mit dem des Jahrhunderts. 1903 schrieb Werner Sombart in seinem Rückblick auf die „Deutsche Volkswirtschaft im 19. Jahrhundert“, die Elektrizitätsgesellschaften leiteten „ein neues Stadium des Kapitalismus“ ein. Lenin verwendete den Gedanken in seinem Slogan, Kommunismus sei Elektrifizierung plus Sowjetmacht, der dann die gewaltigen Elektrizitätswerke der Sowjetunion zierte.
Edisons Glühbirne leuchtete, und sein E-Werk arbeitete. Siemens‘ Straßenbahn fuhr durch Berlin. Die Hollerith-Maschine war da. Beils elektrisches Telefon klingelte. Der schon vorchristliche Telegraph ging 1897 auf Funk, und das Wolffsche Telegraphenbüro
nahm das Nachrichtengeschäft an die Brust des Vaters Staat. Ein Schnelltelegraph konnte 1912 tausend Zeichen in der Minute senden. Mergenthalers Setzmaschine, Autotypie, Fotografie ermöglichten den Großstadtzeitungen mehrere Ausgaben am Tag. Die Reichspost wies 8.197 deutschsprachige Zeitungen und Zeitschriften zum Bezug nach, davon 7.246 im Inland. In dieser Hektik erblühte die kleine Form, die das Feuilleton zur Kunst machte, aber auch die Vermarktung identischer Texte durch Metadienste. Walter Lippmann hat diese technischen Matrizen 1922 in den sozialen Begriff der Stereotypen übersetzt und eine ganze Forschungsrichtung nach sich gezogen.
Ich habe diesen historischen Ansatz dann verworfen, weil ich zu viel darüber geschrieben habe und ja nicht auszuschließen ist, daß jemand etwas davon gelesen hat und sich denkt: Dem Alten fallt auch nichts Neues ein. Der Vorwurf hätte meine journalistische Eitelkeit getroffen, die sich immer wieder schmeichelt, etwas Neues sagen zu können, was vielleicht noch nicht allgemein bekannt ist. Daß aber Journalisten von der technischen Entwicklung ihrer Produktionsmittel abhängen, hat sich mittlerweile herumgesprochen. Auch
ist nicht mehr ganz neu, vielleicht aber weniger bekannt, daß die Entwicklung der Kommunikationsmittel dem ökonomischen Gesetz unterliegt, über weitere Räume in kürzerer Zeit mehr Menschen zu erreichen als bisher.
Diese Signalökonomie korrespondiert mit der Sparsamkeit des physiologisch-psychologischen Wahrnehmungsapparates. Sie hat die beschränkten Kapazitäten unserer Sinne zum Ausgangspunkt, wie wir sie hunderttausendmal im Leben korrigieren: zu laut — zu leise, zu nah -zu fern, zu hell — zu dunkel, zu warm — zu kalt. Medien sind fortgesetzte Sinnesorgane, nämlich durch Gerät technisch verstärkte. „Technisch“ schließt wissenschaftliche Verfahrensweisen wie künstlerische Handhabung ein und dies in durchaus konträrer Motivation. In einem Essay über das Telefonieren, den ich kürzlich las, war zwar von der Telefonseelsorge, doch nicht vom boomenden Geschäft mit Telefon-Sex die Rede. Dabei hat schon Adam Müller das Hören eine sinnliche Form des Antwortens genannt.
Die Signalökonomie funktioniert in der elementaren Kommunikation mit den körpereigenen Mitteln. In der sekundären Kommunikation wird ein technisches Gerät dazwischengeschaltet, zum Beispiel eine „Flüstertüte“ oder ein Buch. Im tertiären Stadium be-
nötigen Kommunikator und Rezipient Geräte. Das verteuert die Sache und kompliziert sie. Der Prediger, der sich erhöht stellt, um besser gehört und gesehen zu werden, muß damit rechnen, daß „die Hinteren“ seine Stimme nicht verstehen können; aber er verringert seinen Signalaufwand in der Versammlung doch erheblich: Viel Lebenszeit müßte er aufwenden, um alle einzelnen mit derselben Botschaft zu erreichen. Wer Druckschriften verteilt oder Plakate anschlägt, muß mit Schwund rechnen. Lebenszeit ist gleich Arbeitszeit der Organismen; Kultur synchronisiert sie als Arbeitsteilung.
Die Geschichte der Telegraphie, des Telefons, der Funkmedien erscheint als unaufhörliche Bemühung, den für die einzelne Botschaft verringerten Aufwand in einem rationalen Verhältnis zu den hohen Kosten der Vernetzung zu erhalten. Das gilt für den dialogischen Verkehr nach dem Modell „meine Trommel — deine Trommel“ wie für die monologischen Medien „Minderheit an Mehrheit“, zu denen die elektronischen Kommunikationsmittel Hörfunk und Fernsehen zählen.
Signalökonomie soll organische Lebenszeit (als Arbeitsaufwand) der Beteiligten sparen. Sie beansprucht davon nicht mehr und nicht weniger für die einzelne Botschaft, als zur technischen Übertragung mit oder ohne Gerät erforderlich ist. Sie zielt auf die kleinen Besetzungsmengen, von denen Freud gesagt hat, das Ich schicke sie in die Spitzen der Sinnesorgane, um die Außenwelt zu „verkosten“ und sich sogleich wieder zurückzuziehen. Deshalb werden zeitaufwendige Produktionen, die lange Transport- und Verarbeitungszeiten erfordern, als „unökonomisch“ abgetan.
Von den vielen durch Lebensalter, Intelligenz und emotionaler Verfassung individualpsychologisch bedingten Unterschieden kann jetzt hier nicht die Rede sein. Wohl aber muß das gemeinsame Kalendarium einbezogen werden. Der Kalender dient der sozialen Synchronisation der Kultur. Er unterlegt den biorhythmischen, gruppendatierten und einzelterminierten Abläufen eine gemeinsame Rechnung. Sie ist abgeleitet von unbeeinflußbaren Mächten in einem Universum ohne Anfang und Ende, wird aber als anerkannte Ordnung zum allgegenwärtigen Zwangsinstrument. Der Kalender ri-tualisiert die organische Lebenszeit aller. Damit wird sie einzeln verfügbar. Die Macht von Menschen über Menschen beginnt mit der Wegnahme unersetzlicher Lebenszeit.
Signalökonomisch betrachtet, erspart der Kalender vergeblichen Aufwand, indem man seine Vorgaben kalkuliert. Dabei sind vor allem die aus solidarischen Überzeugungen und Praktiken der Religionen erwachsenen Vorgaben zu beachten, die wiederum mit dem Arbeitsritus korrespondieren. Als Anhaltspunkt für gedankliche Vorwegnahme erspart die kalendarische Vormerkung den Aufwand für wiederholte Signale der Synchronisation. Ent-sprechend ist Periodizität eine Voraussetzung journalistischer Arbeit. Wie sich aus profaner Interpretation des Kalenders der Chronist und Moritatenerzähler sowie — der Technik folgend — der Journalismus entwickelt hat, zeigt die Moral der Massenmedien als Moral ihrer Geschichte.
Wie jede andere Gruppe hat auch der Journalismus gruppenspezifische Mores, die sich aus nützlichen Lebenspraktiken entwickelt haben. Sie ändern sich mit den Produktionstechniken. Deshalb sollte von Zeit zu Zeit überprüft werden, ob die Voraussetzungen der jeweiligen Berufsmoral in der Realität noch vorhanden sind oder ob sie nur noch in der Vorstellung leben.
Das klingt einfacher, als es ist. Berufsmoral hat ihre Eigentümlichkeiten, die mit allgemeinen Sitten nicht notwendig übereinstimmen. Sie hängt von Techniken ab, deren Anwendung sie zu entscheiden hat. Technik ist der bedeutendste Wirtschaftsfaktor, weil sie Arbeit in Nichtarbeit verwandelt, indem sie arbeitet. Die Menschen haben von Natur die Fähigkeit zu alternieren, zu tun oder zu lassen, und ihre subjektive Kultur sagt ihnen, was sie sollen: Wer lange genug im Beruf ist, kann den Wechsel an Personen erleben. Mit den herausragenden Figuren geht immer auch ein Stück Berufsmoral verloren. Sie ist an Technik und Erscheinungsweise des Mediums, an dessen Zielgruppen und deren Zusammentreffen mit anderen Kalenderdaten gebunden.
Der Feuilletonist Erich Kästner, gewohnt im Kaffeehaus zu kritzeln, der Gemälde sammelnde Wilhelm Hausenstein, der unermüdlich dokumentierende Fritz Sänger, der standespolitisch agierende Helmut Cron und der gegen alle Obrigkeit sozial opponierende Walter Dirks waren zwar Zeitgenossen; aber da sprach doch jeder seinen unverwechselbaren Dialekt und trug etwas von seinem Blatt mit sich herum: „Bei uns macht man das so und so.“ Da war dann gewöhnlich nicht die gegenwärtige Zeitung gemeint, sondern die alte „Frankfurter Zeitung“, die „Rhein-Mainische Volkszeitung“
oder bei Margret Boveri das „Berliner Tageblatt“. Der immer anekdotisierende Theodor Heuss meinte als Herausgeber der „Rhein-Neckar-Zeitung“ 1945 nicht diese, sondern Naumanns „Hilfe“, wenn er „bei uns“ sagte, und Kästner sagte noch „bei uns“, als seine dreijährige Redakteursstelle bei der „Neuen Zeitung“ längst perdu war.
Die Symbiose der genannten Journalisten mit „ihren“ Blättern deutet an, daß Erfahrungen in Redaktion und Verlag sich zu Bräuchen verdichtet haben, mit denen man gut oder schlecht gefahren ist. Diese Nachkriegsgeneration hatte für beides Beispiele, am eindringlichsten sind wohl die Berichte von Boveri und Sänger über Differenzen und Konsonanzen der Berufsmoral mit der Nazimoral.
In jedem einzelnen Fall aber bleibt die subjektive Entscheidung vorbehalten. Ethik appelliert an die Freiheit des einzelnen, die Sache so anzugehen, wie sie nach Gewissen, Überzeugung und Glauben sein soll. Jedermann empfangt Signale von außen. Der Wahrnehmungsapparat entscheidet über Urteilsfunktion und Realitätsprüfung zuerst, ob das Signal verarbeitet oder abgewiesen wird, wie dies bei den allermeisten der Fall ist. Dann, wenn es nicht abgewiesen wird, wie die Antwort darauf nach außen soll: Verneinung
oder Bejahung. „Nein“ zu sagen ist schwieriger, weil es dem Bemächtigungsdrang widerspricht. Darum sind auch unter Journalisten Kulinarier zahlreicher als Asketen.
Helmut Cron, der bis 1933 Chefredakteur einer Mannheimer Tageszeitung war, gab nach 1945 die „Deutsche Zeitung und Wirtschaftszeitung“ heraus. Lange vor seiner Zeit hatten die 1848er Revolutionäre, Hecker und Struve, in Mannheim den radikalen „Zuschauer“ redigiert. „Wissen sie, junger Froind“, sagte er mir einmal beim Wein, „um so was zu machen, wie die zwee, derf mr net so gern esse und trinke wie die Pfälzer.“ Inzwischen hat sich ja der Gourmet-Journalismus zu einer Transmission der Konsumge-sellschaft aufgeplustert. Er vergrößert die Gefahr, daß diese Gesellschaft, dem Fluch der Demeter folgend, sich in ungeheurer Gefräßigkeit selber verzehrt.
Der Pressekodex der im Deutschen Presserat vertretenen Verbände paßt sich dem Wachstum an. In der Fassung, die am 12. Dezember 1973 dem Bundespräsidenten Gustav Heinemann überreicht wurde, zählte der Kodex 15 Leitsätze zur Berufsethik. Die Empfehlungen vom 25. November 1992 enthalten zusätzlich einen Passus über zu wahrende Vertraulichkeit und Richtlinien zur Interpretation aller 16 Ziffern: Die Materie kompliziert sich, während die Komplexe der Berichterstattung sich reduzieren.
Helmut Crons Redaktionsleitung war liberal und jedem Extremismus abhold, auch als die „Freßwelle“ die Bundesrepublik überschwemmte, weil deren Bürgerinnen und Bürger früheren Mangel zu kompensieren trachteten. Da jede Kompensation von leib-seelischen Bedürfnissen neue Bedürfnisse weckt, überrollten die nachfolgenden „Wellen“ privater und individueller Bedürfnisbefriedigung rasch hintereinander die öffentlichen Interessen. Die Konsumwogen erreichten ihren Höhepunkt in den sechziger Jahren, als die Lohnquote am Sozialprodukt wieder anstieg. Alle Welt riß das Maul auf über das „deutsche Wirtschaftswunder“.
Es waren nur wenige Journalisten und einige Professoren wie Eschenburg, Rüstow, Abendroth und Picht, die vor den Folgen warnten, als die von Ludwig Erhard für unentbehrlich erklärte Marktregelung nicht mehr zog. Im Journalismus wurde die Regenbogenpresse das große Geschäft, indem sie die Eigenverantwortung ausschloß und sich auf „die Abstimmung am Kiosk“ berief. Der ehemalige US-Presseoffizier Hans Habe, selbst ein alter Boulevardjournalist, sah sich in seinen Memoiren bestätigt, daß die Konkurrenz im Pressegewerbe das Niveau nach unten drückt. Viele
Zeitungen starben in den sechziger Jahren. Die Spekulation auf einen diffusen und nivellierten Publikumsgeschmack setzte sich als Kriterium journalistischer Qualität durch. Signalökonomie erspart den Blattmachern wie den Lesern intellektuelle Arbeit, und alle können zufrieden sein, weil die Kasse stimmt. Gleichzeitig hatten sich die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten zunehmender Angriffe auf ihre gesetzlich postulierte Unabhängigkeit von Staat und Kommerz zu erwehren. Rundfunkpolitik wurde fortan von Gerichten entschieden.
Das Klagelied über die Abhängigkeit des Journalisten vom Kapital war nicht neu. Ferdinand Lassalle, Jacob Burckhardt („Kult des Erwerbssinns“), Samuel Sänger („Monetarisierung der Seelen“), Karl Bücher und andere hatten es lang vor dem Ersten Weltkrieg gesungen. Harden, Herausgeber der „Zukunft“, schrieb an Karl Kraus zur Jahrhundertwende für das zweite Heft der „Fackel“ gegen die journalistische Fron in den großen Berliner „Meinungsplantagen“: „Was sollen die halben und Vierteltalente denn machen? Sie kriechen da unter, wos warm ist. Wir müssen versuchen, es dahin zu bringen, dass der publicistische Arbeiter nicht mehr von den Productionmitteln getrennt ist, dass er die Zeitungen, die er schreibt, auch wirklich leitet und nicht gezwungen ist, täglich zweimal in den
höchsten Brusttönen zu verkünden, was er nicht glaubt.“ Paul Sethe, ein tonangebender Altliberaler, brachte 1965 in einem Leserbrief an den „Spiegel“ den Gegensatz von Pressefreiheit und ökonomischer Realität auf die Formel: „Pressefreiheit ist die Freiheit von 200 reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten. Journalisten, die diese Meinung teilen, finden sich immer.“ Er gab damit der aufkommenden Studentenbewegung eines ihrer Leitworte, das sie ins Extrem rigoros steigerte: „Enteignet Springer!“ Hecker und Struve in Jeans gegen die Konsumgesellschaft: Kaufhausbrandstifter. Die Entscheidungen fielen indessen weit weg von Deutschland.
Während des „Salzburger Humanismusgesprächs“ im Jahre 1974 zum Thema „Elektronische Revolution“ wurde die politi-sche Wirkung der Fernsehberichterstattung über die amerikani-sche Intervention in Vietnam diskutiert. Paul Lazarsfeld beendete die Kontroversen um Begriffe wie „Selektion“, „Reduktion von Komplexität“, „Personalisierung“, „Manipulation“ und „Stereotype“ mit dem Hinweis, daß das kommerziell organisierte amerikanische Fernsehen von seinen seichten, populären Unterhaltungssendungen
lebe. Gegen diese Programmstruktur habe sich innerhalb der herrschenden Klasse eine Elite-Opposition gebildet. „Um ihr den Wind aus den Segeln zu nehmen“, habe das amerikanische Fernsehgeschäft den Nachrichtensektor in der Annahme, dieser sei nicht so wichtig, „dem Löwen, d.h. den oppositionellen Links-Intellektuellen“ überlassen. Nicht die Wirkung des Mediums, „sondern die Koalition zwischen Professoren, Geistlichen, Elternvereinen und links-liberalen Nachrichtenkommentatoren“ sei überwältigend gewesen. Das heißt, daß eine schichtspezifische moralische Opposition gegen das nivellierte Unterhaltungs-programm die Botschaft der wenigen Kommentatoren multipliziert haben muß: Das dialogische Modell von Mitteilung und Antwort hat via TV oppositionell funktioniert.
Die amerikanische Regierung hat diese Lektion 1990 im Golfkrieg berücksichtigt. Washingtons politische Saubermänner erlaubten nur politisch handverlesenen Korrespondenten, über den „sauberen Krieg“ im „desert storm“ zu berichten. „Saubere“ Kriegsbilder erscheinen in der täglichen Unterhaltung, die rund um die Uhr mit primitivsten Gewaltdarstellungen das Raubtier in jedem Menschen füttert, geradezu wie Edelaktionen auf Hochglanz. Angehörige der Helden und Neutrale können sich mit ihnen auf dem
heimischen Rechteck des Bildschirms beim Abendessen identifizieren.
Die Negativwirkung der Kriegsberichterstattung für die russische Übermacht gegen das kleine Volk der Tschetschenen scheint die Annahme zu bestätigen. Moskau hat aus Vietnam nicht gelernt, wie mittels Fernsehen weltweit makrosoziologische Konflikte in die mikroskopischen Prozesse von Milliarden Konsumenten eingespeist werden können.
Vielleicht weiß man nicht, daß audio-visuelle Signale allemal unter die Haut gehen. Die amerikanischen Friedensforscher Toffler und Toffler meinen sogar, das Jugoslawien-Gemetzel hätte verhindert oder wenigstens eingedämmt werden können, wenn die UNO die Kriegsparteien mit audio-visuellem Gerät ausgerüstet und es selber friedensstiftend eingesetzt hätte. Tofflers Gesichtspunkt ergibt sich aus der globalen Verknüpfung von Massenproduktion und -konsum, Massenmedien und Massenerziehung mit ihren jeweiligen Gruppeninteressen.
Die ethische Situation stellt sich mir unter wirtschaftlich-technischen, politologischen und berufsjournalistischen Gesichtspunkten
komplizierter dar. Ich setze bei jedem dieser Aspekte das Gesetz der Signalökonomie voraus, wonach Kommunikationsmittel den zivilisatorischen Prozeß vorantreiben, indem sie über weitere Räume in kürzerer Zeit mehr Menschen für dieselbe Botschaft erreichen. Die symbolische Vernetzung folgt der technischen Ausstattung. Deren Kosten müssen aus dem Arbeitsertrag der Benutzer erwirtschaftet werden.
Der wirtschaftlich-technische Prozeß kann in seiner Wechselwirkung zeitlich linear gedacht werden. In seinem Fortgang entwickeln die beteiligten Gruppen spezifisch moralische Verhaltensweisen mit eigenen Gesetzen als Zugehörigkeitsbedingungen und Ausschlußmerkmalen. Sie sollen den Gruppenbestand sichern und den Verlauf garantieren, z.B. Projektfinanzierung, Schadensverhütung, Verkehrsregulierung, Subordination selbst in der Ganovenmoral.
Demgegenüber stellt sich Ethik als ein unveränderliches Verhältnis des einzelnen Menschen zu einem metaphysischen Absolutum vor. Ethik bestimmt die „Charakterqualität“ (Alfred Weber). Als Lehre vom richtigen Handeln spricht sie immer wieder die psycho-physiologische Fähigkeit zu alternieren an, frei zu sein, um ja oder nein zu sagen. Ohne bleibende Bewegung von Spruch und Wi-
derspruch wären auch Veränderungen der Gruppenmoral unvorstellbar, wie Lessing sie im „Nathan“ dramatisiert hat und wie sie sich im Umkreis seiner Wahrnehmung dem Menschen jeglicher Gegenwart aufdrängen.
Die Veränderungen der Wahrnehmungsgrenzen im elementaren Umgang stellt Journalisten ständig auf die Probe. Da sie beruflich mit der gesellschaftlichen Fluktuation von Gruppen mit unterschiedlichen moralischen Praktiken zu tun haben, sehen sie sich permanent mit deren Unscharfen konfrontiert, wenn sie nur genauer hinsehen. Aber zu solcher Genauigkeit fehlt ihnen dann wieder die Zeit. Signalökonomie und Terminzwang sind moralische Instanzen des journalistischen Berufs.
Aber auch in der Lektüre, im Radiohören und Fernsehen verschieben sich die Grenzen der Wahrnehmung unablässig durch das Gedränge fremdbestimmter Mitteilungen. Im „Nathan“ gibt es Pausen, im Journalismus nicht. Einmal Journalist, immer Journalist. Das ist kein Beruf, in dem man nach Büroschluß abschalten kann, denn die Welt ist ein Gedränge von Themen. Sie wollen hereingenommen und wieder ausgeführt sein, oder sie müssen verdrängt werden. Diesem Dilemma verdanken wir eine relativ hohe Zahl von Zynikern. Wie soll man denn anders reagieren auf die vermeintliche
oder wirkliche Indolenz der Zeitgenossen, die noch nicht wissen, was morgen im Blatt stehen wird oder was heute abend im Fernsehen herauskommt, weil es schon über die Agenturen verteilt worden ist?
Einer der großen Vordenker unserer Zeit, Blaise Pascal, hat in seinen „Pensées über die Religion und über einige andere Gegenstände“ (172) bemerkt, daß wir uns nie mit der Gegenwart beschäftigen, sondern mit der Zukunft oder Vergangenheit.
Das ist die Berufssituation des Journalisten auch im Zeitalter elektronischer Medien. Journalisten haben keine Gegenwart. Ihre Lebenszeit ist von der antizipierten Erscheinungsweise der jeweiligen Medien besetzt. Die Berufsmoral orientiert sich an den publizistischen Effekten von gestern. Wo soll da die Ethik der persönlichen Verantwortung der gegenwärtigen Mitteilung Platz haben?
Man wird Lessings „Nathan“ zustimmen. Wird man auch den Vorteil ablehnen, den die soeben erhaltene zuckersüße Einladung der Regierung von Thailand oder des XY-Konzerns verspricht? Das Land bzw. die neuesten Entwicklungen auf dem Computermarkt interessieren doch auch die Leser. Wenn ich nicht fliege, dann fliegt der Kollege von der Konkurrenz nebenan. Er wird dann den
Erfolg haben, meine Leser oder Zuschauer bleiben uninformiert, und am Ende verliere ich die Stelle.
Dieser Tage las ich im „St. Galler Tagblatt“ eine Glosse des Chefredakteurs über den Kurdirektor von Zermatt. Der hat die Namen von 4.500 Medienschaffenden, die den Kurort besuchten, im Computer gespeichert und zensiert deren Berichterstattung. Künftig werden wir Zermatt meiden, droht der zornige St. Galler. Aber was machen die anderen 4.499?
Das ist eine Frage der Berufsmoral. Da sie Vorteilannahme in Maßen gestattet, verwischt sie die Grenzen zur Korruption. Man nennt das etwas großspurig „Verfall der Werte“. Wir haben, wie ich meine, guten Grund anzunehmen, daß es sich da um zwei Paar Stiefel handelt und immer gehandelt hat.
„Interesse“ heißt wörtlich „dazwischen sein“. Journalisten finden es interessant, zwischen den Interessen anderer Leute zu sein. Dies erfordert subjektive Sensibilität und Intuition. Beide sind gefährdet durch den eigenen Bemächtigungsdrang, Lust und Unlust, etwas zu thematisieren. Beispiel: Die Antikriegs-Rede des Bundespräsidenten Herzog in Dresden. Sie war großartig, dazu die vielen Prominenten. Sie wurde im Fernsehen gezeigt. Sie stand also auf
Seite 1! Kommentar gefallig? -Werde ich mich aber auch zu dem kleinen Gedenken bewegen, das in der Nachbarschaft stattfindet in einem der vergessenen KZ-Außenlager? Oder in einem der Zwangsarbeiterlager, mit denen der militärisch-industrielle Komplex seine Diktatur flächendeckend durch setzte? Dorthin kommt niemand vom Fernsehen, vielleicht der Herr Landrat. Oder überlasse ich das lieber dem Volontär der Lokalredaktion? Oder soll ein „Freier“ fünf bis zehn Zeilen schreiben? Vielleicht genügt ein Foto mit Unterschrift? Montags braucht der Sport so viel Platz. Fast so viel wie die ganze übrige Werbung … Es ist leichter, offizielle Trauermienen zu kolportieren, als die Minenfelder zu recherchieren, die das deutsche Lagersystem hinterlassen hat.
Auch so fallen ethische Entscheidungen im elektronischen Zeitalter. Wenn Revolution heißt, daß eine Gruppe für eine gewisse Zeit die Macht haben und Folgsamkeit finden muß, dann hat die elektronische Revolution längst gesiegt: Noch nie wurden so viele Menschen in so kurzer Zeit simultan mit derselben audio-visuellen Mitteilung über so weite Räume erreicht. Sie relativiert das Umfeld der elementaren Wahrnehmung auf den kleinen rechteckigen Kasten, der eingerahmt oben — unten, rechts — links, hell — dunkel, rasch
— langsam vorgibt und damit Wahrnehmungsarbeit spart und Denkaufschub, je nach Dramaturgie, verunmöglicht. Je mehr Programme, desto „verzappelter“ das Publikum, dem unbefriedigten Triebüberschuß der einzelnen folgend. Darüber hat Hertha Sturm Wesentliches erforscht.
In unserem Zusammenhang scheint wichtig, daß die elektronische Vernetzung den subjektiven Aktionsraum durch Bilder virtuell einschränkt. Mangels Elementarbezug entsteht kein „Handlungsbedarf“. „Aussitzen“ ist alles. Ethik als Lehre vom richtigen Handeln ist nicht gefragt. Für den Journalisten mindert die elektronische Vernetzung den „Marktwert“ des Nächstliegenden. Im Gegensatz zur elektronischen Rezeption fordert dessen Darstellung in Wort und Bild die Tätigkeit aller Sinne, vor-und nachfragen, lesen und gegenlesen. Der publizistische Ausdruck, den es finden kann, steht in keinem Verhältnis zum Zeitaufwand — abgesehen von den Unannehmlichkeiten direkter sozialer Kontrolle. Der Begriff Kontrolle ist dem Rechnungswesen entnommen. Rechnen kann, wer etwas hat: Geld oder Amt oder beides oder die Fähigkeit, Meinungen zu organisieren, daß sie Macht gewinnen. Im Zeitalter der Fernsehzuschauer kommt Autorität von Ansehen, Ansehen von der Großaufnahme. Die Großaufnahme mehrt den Amtsbonus. Den Amtsbonus
verschafft die bürokratische Großorganisation. Daneben schrumpft die Elementarwelt, auf deren Mattscheiben das Image dann flimmert.
Die Medien schieben sich als periodische Einbildner zwischen die originären Zwecke von Politik und Ökonomie, weil sie sich hervorragend dazu eignen, die Lebenszeit der Subjekte imaginär zu besetzen. Ihre Übertragungskapazität ist als Kraft der Imagination ein Machtinstrument. Der Staat stellt sich der älteren Soziologie zufolge (Burckhardt, Gumplowicz, Oppenheimer) formal als eine Rechtsinstitution dar, die von einer siegreichen Minderheit einer Mehrheit auferlegt wird, um sie inhaltlich zu bewirtschaften. „Bewirtschaften“ soll heißen, sich den Arbeitsertrag der Mehrheit bei möglichst geringem eigenem Aufwand auf Dauer anzueignen. Hierzu braucht man Kommunikationsmittel, die das Imago ständig erneuern.
Das Modell der „Sozialen Marktwirtschaft“ hat versucht, den Anteil der Bewirtschafteten an ihrem Arbeitsertrag zu erhöhen; aber sein Erfolg hat nicht verhindern können, daß die bewirtschaftende Minderheit im Zuge ihrer globalen Verflechtung sich der
Staatskontrolle entzog. Die „Investitionssucht des Kapitals“ suchte sich billigere Bewirtschaftungsobjekte in anderen Staaten. Welche Rolle der Bewirtschaftungsaspekt bei Gründung der Bundesrepublik und der DDR mit ihrer arbeitsamen, hochspezialisierten Bevölkerung gespielt hat, steht hier nicht zur Debatte.
Die Berufsmoral des Journalismus ist unter diesem soziologischen Staatsbegriff durch doppelte Abhängigkeit vorherbestimmt: Journalisten sind von der bewirtschaftenden Minderheit abhängig, weil diese die Technik finanziert. Sie sind von der Rechtsinstitution des Staates abhängig, weil sie dessen Bürgern und seinen Gesetzen unterworfen sind. Paul Sethes Aphorismus von der Freiheit der zweihundert reichen Leute, ihre Meinung zu verbreiten!
Die Staatsrepräsentanten und die bewirtschaftende Minderheit haben das gemeinsame Interesse, Störungen ihrer Zusammenarbeit fernzuhalten, wie sie durch Presseberichte über Differenzen eintreten könnten, auch über wechselseitige Begünstigungen und dergleichen. Sie sitzen in einem Boot. Journalisten sollten sich dabei heraushalten, denn sie zählen zum Symbolpersonal der Gesellschaft. Sie
garantiert durch die Hierarchien der Religion, der Wissenschaft, von Literatur, Kunst und Erziehungen den räumlichen Zusammenhalt und zeitlichen Prozeß des Ganzen. Die unterschiedlichen Kodes, in denen dies geschieht, konstituieren zusammen die Kultur, und deshalb wirken symbolische Mängel auf die Gesamtheit zurück.
Die Grundrechte der Religions-, Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit tragen als juristische Postulate dem Rechnung; aber das heißt noch lange nicht, daß sie realisiert werden. Völker, die lange in Unfreiheit gelebt haben, können nicht von heute auf morgen befreit werden, indem sie ihre Uniformen ausziehen und ihre Ehrenzeichen in den Gully werfen. Erziehung zur Freiheit dauert lange, auch im Journalismus, und ist niemals fertig.
Die Relativierung des Nächsten durch elektronische Reichweiten hat Freiheit nicht gefördert, wohl aber die Anpassung an die Usancen der Bewirtschaftung. Was vor 30 Jahren noch von jedem Redakteur gestrichen worden wäre, weil er sich verpflichtet fühlte, Reklame nicht als Nachricht anzubieten, nimmt heute einen Teil der redaktionellen Räume und Sendezeiten ein.
Als Beispiel nenne ich nur die unverantwortliche Proportionierung von politischen Nachrichten und Meldungen aus dem Profisport. Letztere haben überhaupt keinen Nachrichtenwert, dienen jedoch der Imagebildung der Werbeindustrie. Wie ein Rückfall in den Schamanismus erscheint das Verschwinden und Wiederauftauchen von Zauberpriestern des täglichen Ballwechsels. Ihre Botschaft lautet: „Einer muß gewinnen!“ Den Tauschwert von Fußballern und Trainern zu berichten, hat mit Journalismus nichts mehr zu tun. Derlei ist Anstiftung zur Magie, sich über die personifizierten Warenzeichen die Kraft der etikettierten Sieger zu kaufen. Solche Programmpolitik summiert die Arbeit, die Zuschauer unentgeltlich mit ihrer Wahrnehmung leisten, in profitable Werbeumsätze. Das Publikum bezahlt seine eigene Indoktrinierung. Der journalistische Beruf franst aus.
Man wird mir entgegenhalten, die Leute wollen das, und sie sollen bekommen, was sie wollen. Aber sie haben doch keine reelle Wahl: Wie sollen sie wollen, was in den Hauptsendezeiten nicht angeboten wird, bevor sie schlafen gehen?
„Wenn du den Leuten gibst, was sie wollen, werden sie wollen, was du ihnen gibst“, sagte der Chef des dritten Fernsehprogramms der BBC, Stephan Hearst, vor einem Vierteljahrhundert in einer Berliner Diskussion. Wie könnte es anders sein, da sich die Vorstellung aus der Erfahrung nährt, indem sie frühere Wahrnehmungen wiederholt? Die gesellschaftlichen Langzeitschäden, die durch die nivellierten Unterhaltungsangebote und vom Politischen ablenkenden Programme entstehen, sind noch nicht abzusehen. Vermutlich werden sie nicht geringer sein, als die Minderung der Selbstverantwortung durch den permanenten Aggressionsdruck, Bedürfnisse sofort zu befriedigen und ständig neue zu entwickeln, um den sozialen Status zu wahren.