Geleitwort
Als wir, der Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag daran gingen, dieses Buch herauszugeben, waren wir uns dessen bewußt, daß dieses Buch nur dann einen Sinn habe, wenn es einer Notwendigkeit entspringt: der Notwendigkeit der Aussprache einer Generation, die in dem Bewußtsein lebt, daß in ihrem Leben und durch ihr Leben das Schicksal des Judentums die entscheidende Wende erfährt. Wir hofften, daß es außerhalb unserer engen Freundesgemeinschaft Menschen gebe, die unseren Kampf und unser Wollen teilen.
Dieses Buch ist herausgegeben von Zionisten; dies sei, um jede Falschmeldung zu vermeiden, von vornherein gesagt. Nichts sei uns fremder als der verlogene oder spielerische Mantel kühler Objektivität. Wir wollten nicht kluge und kühne und kühle Aussprüche, Erwägungen, Beobachtungen sammeln, uns interessiert es nicht zu hören, was der oder jener im Leben der Welt noch so geltende
Mann über die Judenfrage denkt; wir wollten Menschen hören, die aus Not und verzweifelter Empörung einen Weg suchen, einen Weg zu den Wirklichkeiten neuen jüdischen Lebens. Einen Weg, der das Heute verneint, weil es knechtisch und unerträglich ist, und der in Gemeinschaft das Morgen schaffen will. Schaffen will: nicht müßige Worte, nicht schöne Reden, nicht kluges und weites Denken soll dieses Buch offenbaren, sondern es soll, weil es nicht anders geht, auf dem Wege geistiger Aussprache die Gemeinschaft aufbauen, die entschlossen ist, Worte in Taten überzuleiten, die den Ernst und den Mut aufbringt, mit ihrem Sein sich für das Werden des Gewollten, für die Verwirklichung des Sehnsuchtstraumes einzusetzen.
Darum ist dieses Buch grundverschieden von meisten anderen; denn kaum noch waren Menschen so aller Bücher und Worte müde wie wir und so voll Spannung und Sehnsucht nach dem Leben.
Das so enthusiastisch begonnene Geleitwort endet mit dem Hinweis auf den ersten jüdischen Almanach zehn Jahre früher und dessen Geleitwort von Berthold Feiwel: »Ein Ausblick soll sich er-
öffnen in die neue jüdische Welt, und von dem brausenden Akkord des Vorfrühlings soll man einen tönenden Widerhall heraushören.« […] es spricht hier eine neue Generation, die wenigsten haben die frühere Zeit miterlebt. Daß aber auch in uns das Brausen des Frühlings und der Mut der Jugend herrscht, wissen wir. […]
Hans Kohn, Prag, im Juni 1913
Das Pathos des Geleitworts war ihm Programm: Erich Kahler (geb. 1885) hatte 1911 »Recht und Moral« publiziert und verlangte für die Generation der Herausgeber Sachlichkeit im allerstrengsten Verstand. Sachlichkeit […] gegenüber jenen Ängstlichen und Verschämten, welche an der Offenbarung, ja an der Existenz höchster Einheiten zweifeln; gegen diese muß behauptet werden, daß es Detail an sich nicht gibt und daß ein Glied, welches vom Ganzen nichts weiß, nicht Glied mehr ist, sondern aus jeder Ordnung losgelöstes einzelnes. Sachlichkeit nach der andern Seite gegenüber den Lügnern und Schwärmern, welche die schwersten, dichtesten, verantwortungsvollsten Namen leichthin und dämmerhaft, ohne
die vollste Deckung durch greifbares Leben gebrauchen; gegen sie muß verteidigt werden, daß Allgemeines, Ewiges, Zeitloses nicht besteht, sofern es nicht aus unserem Hier und Heut und So, sich und unser Sein beglaubigend, entsteigt und daß nichts Macht auf uns hat, was nicht Maus aus uns ist.
Kahler schloß an die Juden gewendet: »Unbegabung für das Subalterne, Mißtrauen gegen ewige Gültigkeiten reißt sie oft hin und her, und anstatt daß alle ihre Kräfte in die nur eine hohe Vernunft gesammelt eingehen, windet, überwindet sich rastlos ihr hungerndes Streben um die großen Einheiten herum in Verstand. Möge endlich unser Volk an seinem eigenen, in unvergleichlichen Altern bis heute nicht löschbaren Feuer sich wieder zum Ewigen emporlernen, möge es für die kommende Zeit Beispiel und Führer im Glauben sein!«
Der Sammelband enthält neun Kapitel mit je zwei bis vier Aufsätzen über »Jüdisches Wesen«, »Jüdische Religiosität« und »Jüdisches Denken«, »Das neue Judentum«, »Das Werden der jüdischen Bewegung« und deren Aufgaben, »Der Jude und Europa«, »Probleme der Gegenwart und der Zukunft« und abschließend nach dem häufig zitierten Titel von Max Brod (Prag) über den »jü-
dischen Dichter deutscher Zunge« vom Berliner Religionsphilosophen Micha Josef bin Gorion ausgewählte Texte aus dem kabbalistischen »Buch des Glanzes« Sohar. Es wurde auf das 13. Jahrhundert geschätzt und 1559 in Cremona zuerst gedruckt zu einer Zeit, als die Katholische Kirche ihren ersten Index verbotener Bücher vorlegte und die Reformierten eine übergreifende Generalsynode abhielten.
Dreihundert Jahre später spaltete der Kampf zwischen Evolutionstheorie und Religion die Geister. Rationalistischer Positivismus und irrationaler Nihilismus nährten wiederum das Verlangen, innerhalb der ererbten Konfessionen Gott unmittelbar zu erleben, den Glauben in einer »unio mystica« zu bekräftigen, statt ihn zu verlieren. M. J. bin Gurions Auswahl stehen fünf messianische Texte aus einer Prager Handschrift voran. Aus dem Buch Sohar werden biblische Stellen in Dialogen interpretiert, so das göttliche Geheimnis aus der Beobachtung einer Leuchte:
»Nie kann die Flamme entbrennen, geht sie nicht aus von einem groben Stoffe. Und nun beachte: es gibt in der Flamme, die da emporschlägt, zwei Lichter: ein weißes und ein dunkles. Das weiße ist oben und ragt gerade auf, und unter ihm, als wäre es sein Thron,
düstert das dunkle Licht. Beide sind eine Flamme, aber das dunkle ist der Thron des hellen Lichtes. Dies dunkle Licht aber – das wir den Thron nannten – verbindet sich mit dem Körper, an dem es entbrennt, und reicht hinauf in das leuchtend helle. Das dunkle spielt in allen Farben: bald ist es blau, bald schwarz, bald rot. Das weiße Licht jedoch verändert sich niemals, ohne Wechsel beharrt es. Das dunkle Licht nun verbindet das strahlende Weiß der Flamme mit dem Körper, an dem ihr Glanz entbrennt. Und die dunkle Flamme zehrt an diesem Körper, und je mehr sie in die Höhe strebt, desto mehr muß sie zehren. Nicht so die weiße Lohe: sie zehrt nichts auf und beharrt ohne Wandel.
So meinte es Moses, als er sprach: ›Der Herr, dein Gott, ist ein verzehrendes Feuer.‹ Denn er verzehrt alles, was unter ihm ist – bis das Göttliche in dir zur weißen Flamme empor geläutert ist. Darum sagte auch Moses: Der Herr, dein Gott, und nicht mein oder unser Gott, denn Moses selbst stand schon in jener weißen Flamme, die oben leuchtet und nichts verzehrt.
Und nun beachtet, daß die Einheit des dunklen mit dem hellen Lichte ein Werk Israels – der göttlichen Gemeinde auf Erden – ist. Indem sich Israel an die dunkle Flamme hingibt, vereinigt sich diese mit der leuchtenden Helle über ihr. Und obwohl es die Art des dunklen Lichtes ist, alles zu verzehren, was unter ihm ist und sich ihm ergibt, bleibt Israel doch bestehen. Darum heißt es: ›Und ihr, die ihr anhanget dem Herrn, eurem Gotte, lebt alle heute.‹
Über der weißen Flamme endlich lagert ein verborgener Glanz, der sie umgibt. Er deutet uns höchstes Geheimnis an.
So ist uns die Flamme ein Bild aller heren Geheimnisse.
Als Rabbi Pinchas diese Worte Rabbi Simeons hörte, trat er hin, küßte ihn und sprach: Gelobet sei der Allerbarmer, der meine Schritte zu dir gelenkt hat!«
Der Übersetzer, Hugo Bergmann (1883-1973), zählte dreissigjährig zu den »mittleren« Autoren des Bandes. Man kann ihre Reihe mit 1880 beginnen, dem Geburtsjahr von Moritz Goldstein, der dann als »Inquit« die Gerichtsreportage der Weimarer Republik
bereichert hat. Max Brod, 1884 geboren, hat sich um das Lebenswerk seines Freundes Franz Kafka verdient gemacht. Der Kulturphilosoph Arnold Zweig und der Verleger Kurt Wolff, beide Jahrgang 1887, führten zu Jüngeren, den Brüdern Weltsch und Hans Kohn (1891-1971). Als sie geboren wurden, waren der Freund Stefan Georges und Schwabinger Kosmiker, Karl Wolfskehl (1869), der Lektor Samuel Fischers, Moritz Heimann (1868), Gustav Landauer (1870), Margarete Susman (1872), Jakob Wassermann (1873) und Martin Buber (1878) schon ausgewiesene Autoren. Bubers erste Rede über das Judentum bekehrte 1909 in Prag den jungen Hans Kohn zu dessen Interpretation.
Landauers Freund Erich Mühsam hat – unerbittlich wie Karl Kraus (Die Fackel, 1899) in Wien und der Censor Germaniae Maximilian Harden (Die Zukunft, 1892) in Berlin – mit seiner »Zeitschrift für Menschlichkeit KAIN« (München, seit 1911) den raschen Wechsel der literarischen Zirkel beschrieben und behauptet, dass unter dem »betäubenden Parfum des Ästhetizismus« das Versemachen zum Sport geworden sei, seitdem man in Wien bewiesen habe, »daß mit einem Band Hofmannsthal in der Hand jeder Gymnasiast gute Gedichte machen kann, gibt es keinen Nachwuchs mehr.« Das Gegenteil war richtig: Angebot schafft Nachfrage.
Sorge um die Fortpflanzung und Lichtsymbolik zählen zu den anthropologischen Konstanten aller Kulturen, weil Menschen ohne sie nicht überleben; doch garantieren sie nicht Konstanz. Der Spritus rector des Studentenvereins, der Religionsphilosoph Martin Buber, hatte 1906 mit den »Geschichten des Rabbi Nachmann« und ein Jahr später mit der »Legende des Baalschem« Quellen ostjüdischer Mystik literarisiert, die bis heute in neuer Bearbeitung nachwirken. Der Aufbruch des Bar-Kochbar-Kreises trug zwar die Erinnerung an den jüdischen Aufstand gegen die hellenistisch antizipierte Herrschaft des Kaiser Hadrian 132-135 fort, der in einem großen Blutbad jüdische Eigenstaatlichkeit bis 1948 beendete, doch waren die Mitarbeiter durchaus in die kulturellen Muster der Wende zum 20. Jahrhundert verwoben.
Der Soziologe und junge Schriftsteller Arnold Zweig befürchtete in seinem Beitrag über »Die Demokratie und die Seele des Juden«, das Judentum könne verschwinden, weil die jüdischen Frauen, statt wie bisher ausschliesslich Haushalt und der Familie zu dienen, ins Berufsleben drängten. Der Prager Arthur Salz, der seinem Ökonomieprofessor Alfred Weber bei dessen Ruf auf den Lehr-
stuhl seines Bruder, Max Weber, nach Heidelberg gefolgt war, lieferte von dort einen Beitrag »Ver Sacrum«, in dem Stefan Georges hellenistische Idee der heiligen Jugend, geopfert zu werden, durchaus die Ansichten eines Mitarbeiters am »Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik« überlagerte. Freilich war Salz mit den jüdischen George-Jüngern Friedrich Gundolf und Edgar Salin befreundet. George verhiess im »Siebenten Ring« (1907) durchgeistigter Jugend, Bewahrer des ewigen Feuers zu sein. Karl Wolfskehl dröhnte 1908 mit »Thors Hammer«. Im Essay »Ver Sacrum« von Arthur Salz wurde die Jugend 1913 dem Opfertod geweiht, die schon von George gelernt hatte, der Leib sei der Gott.
Die Bilderwelt überflutete die gewohnten Vorstellungen mit neuen Techniken. Der Lithographie folgten Farbdrucke, Litfaß-Säulen reklamierten Aufmerksamkeit. Schon mit der Daguerrotypie kam das ethnographische und erotische Aktfoto in Umlauf. Karikaturen verzerrten Körperhaltungen en masse. Bald erschien auf den Jahrmärkten das Laufbild. Während Charles Darwins Vetter, Francis Galton, »Eugenik« als Wissenschaft der »Wohlgeborenen« verkündete, um tuberkulöse Elendsgestalten des Fabrikzeitalters den hochgewachsenen britischen Gentlemen des Victorianismus als
Vorbild entgegenzustellen, wurden »sports«, wie im Hellenismus, zum Zugehörigkeitsausweis.
Gegen solche Akkulturation hatten sich jüdische Priester beim Versuch des Seleukidenkönigs Antiochos IV (175-164 v. Christus) erfolgreich mit einem Aufstand unter Mattati und Judas Makkabi erhoben. Herzls Plan sah vor, zuerst die Armen für die Grobarbeiten ins zu kolonisierende Land zu schicken. Ihnen sollten allmählich die nächsthöheren Schichten folgen. In der hierzu erforderlichen Symbolik konnten »Bar Kochba-Vereine« und »Makkabi-Turner« den völkischen Aufbruch verkörpern: Schon bei Coubertins 1. Olympischen Spielen neuerer Zeitrechnung waren sechs jüdische Medaillengewinner zu bewundern. In einer Bildergalerie zwischen Wilhelm Busch, »Ich bin der Karl der Kühne / und schütze die Pauline«, Fidus Mädchenträumen im »Zupfgeigenhansl«, William Morris und Gustav Klimt, suchte man Selbstbestimmung, Wahrhaftigkeit, um sich zu stilisieren.
Hellenistische Nacktheit faszinierte nicht nur den Dichterkreis, sondern Künstler, Tänzer, Reformpädagogen, Kulturvereine, Wandervögel und Modisten. Die Heidelberger Soziologie erforschte den neuen Mittelstand. Die Dichter Karl Wolfskehl und Stefan George hatten im Jahresabstand das Gymnasium in Darmstadt be-
sucht. George ermutigte, wie schon 1899 der Prager Rainer Maria Rilke mit seiner »Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke«, die elitären Sehnsüchte bürgerlicher Jugend nach neuen Formen für unverstandene soziale Inhalte. George beschränkte sich auf die Rolle des Meisters für einen geschlossenen Kreis. Rilke wurde mit der Nummer 1 der Insel-Bücherei im Pappband zum Serien-Autor. Darmstadt war unter dem hessischen Landesherrn, Großherzog Ernst Ludwig, zu einem Muster der gesamteuropäischen Kunstbewegung geworden, die zwischen 1890 und 1914 als »art nouveau« unter vielen Namen alle Gattungen erfasste, um sie den intellektuellen Umwälzungen durch die Naturwissenschaften, die beschleunigten Kommunikationen und ökonomischen Migrationen mitzuteilen.
Die Kolonialmächte hatten fremde Kulturvorlagen importiert. Neue Symbole mussten erfunden werden. Was war Auf-, was Abbruch? Neue Schriften mussten gestaltet werden, neue Möbel geschreinert, neue Textilien gewoben, neue Papiere gekocht, neue Gläser geblasen, neue Häuser gebaut, Siedlungen entworfen, neue Skulpturen aus neuen Materialien geformt werden, neue Perspektiven eröffnet und dadurch gewonnene Triebüberschüsse umgesetzt werden.
Die Weltausstellungen der zweiten Jahrhunderthälfte (1851 London – 1900 Paris), ungefähr drei Dutzend an der Zahl, verlangten nach Stahl und Beton für grosse Hallenbauten. Die Eisenbahnen brauchten grössere Bahnhöfe. Sie ermöglichten Stadthallen, wo bisher keine waren. Seit 1889 überragte der Stahlturm Eiffels die Pariser Kathedrale und 1901 war Olbrichts Ensemble der Mathildenhöhe in Darmstadt, ein »Dokument deutscher Kunst«, fertig. Der Publizist Dolf Sternberger, der sich mehrfach mit der neuen Kunst beschäftigt hat, fasste die Vielfalt der Erscheinungen, die im deutschen Sprachgebrauch nach »Jugend«, der kritischen Zeitschrift in grossem Format und farbig illustriert, »Jugendstil« genannt wurde, als frei erzeugten »leben-umfassenden, leben-erneuernden, leben-erhöhenden ›Stil‹« aus dem Willen zu stilisieren, weil es die Künstler »trieb, überall den Stil auszubreiten, den sie erst schufen. Eben darum und nur darum war es Stil.«
Die Unentrinnbarkeit dieses Willens kann im Nachinein bezeugen, wer je in die Lage kam, in ein Jugendstil-Haus andere als die für es gebauten Möbel zu installieren. Hingegen liessen sich Text und Musik der Jugenstil-Graphik romantischer Jugendbünde der Jahrhundertwende ihrer zarten Graphik ebenso entwinden wie Stefan Georges »Gestalten« aus dem »Siebenten Ring«, so sie den Sieg
des Jungen über das Alte verkündeten. Als »innerlich Befreite und völlig souverän geworden«, wollte Arthur Salz 1913 in der »Frühlingsnot« das »Ziel unserer heiligen Wanderschaft erreicht haben.« Indes komponierten Militärkapellmeister Operetten fürs Volk. Martin Bubers Beitrag »Der Mythos des Juden« kritisierte die Rationalisten, den Begriff des Mythos zu eng und zu klein zu fassen, und nannte ihn »den Bericht von göttlichem Geschehen als einer sinnlichen Wirklichkeit«. Mythos erzählt von metaphysischer statt empirischer Kausalität in ewigem Zusammenhang und ihrer ewigen Erneuerung. Buber nannte die Entwicklungsgeschichte der jüdischen Religion in Wahrheit die Geschichte der Kämpfe zwischen dem natürlichen Gebilde der mythisch-monotheistischen Volksreligion und dem intellektuellen Gebilde der rational-monotheistischen Rabbinerreligion. Damit kam er der Kritik des Kultursoziologen Alfred Weber (Prag und Heidelberg) am Christentum der Jahrhundertwende 1900 nahe. Er sagte laut Pressebericht vor über 600 Zuhörern im Spiegelsaal des »Deutschen Hauses« in Prag am 14.11.1911: »diese Religion lässt uns im Stich, wenn wir sie fragen, was wir denn mit den grossen […] den elementaren Kräften unseres Lebens beginnen, wie wir sie formen sollen. Das Christentum gibt keine Antwort auf die Frage, was wir mit unserer Liebe, unserem Ehrgeiz, unserem Tatendrang,
Machtwillen, ja nicht einmal, was wir mit unserer Mutter- oder Vaterliebe machen sollen. – Keine – Das ist vielleicht noch nicht der ärgste Schade […] Aber es gibt – was schlimmer ist – […] eine Antwort, die, mag sie manche Seiten dieser starken Triebe steigern, doch, weil aus dem Zentrum einer inneren Auflösung des Daseins herausgeboren ist, ihr Wesen fälscht, ihr Sein verzerrt, ja letztlich sie und uns zerbricht.«
Buber sprach gegen die rabbinische Überlieferung, Weber vom »Schuldkonto und der Gefahr des Christentums«. Ersterer mit Hoffnung auf religiöse Renaissance, der andere warnte vor dem »Abgrund«. Beide wurden am Ende von der darwinistischen Art etwas zu tun, ins Abseits gedrängt.
Im Sammelband der Prager Studenten von 1913 hat keiner die Verknüpfung religiöser und politischer Dimension so deutlich kritisiert wie der Mystiker Gustav Landauer, der 1919 als Mitglied der Münchner Räterepublik von der antisemitischen Reaktion zu Tode getrampelt wurde: »Sind das Ketzergedanken?« überschrieb er und nannte die starke Betonung der eigenen Nationalität Schwäche:
»Der bewußte Jude schreibt über Romantik und Judentum, über Sozialismus und Judentum, über die Erhaltung der Energie und das Judentum und auch noch über das Radium und das Ju-
dentum. […] Schon erkennen wir, daß unser Judentum zu den Dingen göttlichen Unwissens gehört, von denen Meister Eckhart sagt:
›Der Mensch ist, das muß wahr sein, ein Tier, ein Affe, ein Tor, solange er im Unwissen verharrt. Das Wissen aber soll sich formen zu einer Überform, und dies Unwissen soll nicht vom Nichtwissen kommen, vielmehr: vom Wissen soll man in ein Unwissen kommen. Dann sollen wir wissend werden des göttlichen Unwissens, und dann wird unser Unwissen geadelt und geziert mit dem übernatürlichen Wissen!‹ Uns allen war es Bereicherung und Erhöhung und Befestigung unserer Tatsächlichkeit, als wir anfingen, mit vollem Bewußtsein Juden zu sein. Aber jetzt sind wir es so sehr, daß wir wissen: wir sind es in jeder geistigen und seelischen Regung und Tätigkeit, und sind es dann am wenigsten, wenn wir das Judentum für sich allein betonen. Nation ist eine Bereitschaft oder Disposition, die dürr und hohl und klappernd wird, wenn sie ohne Verbindung mit der Sachwirklichkeit, mit Aufgaben und Arbeiten auftritt und wenn sie anderes ist als deren Ursprung und Tönung. «
Hans Kohn hat 1964 in seiner Autobiographie, »Living in a World Revolution«, der »Friedenszeit« vor 1914 in Prag freundlich gedacht. Der Austausch von Menschen, Gütern und Ideen ging ungehindert vor sich. Manche jungen Leute sehnten sich nach weitreichenden Veränderungen, doch dachten wenige, ihre unbestimmten Hoffnungen noch zu ihren Lebzeiten erfüllt zu sehen. Ein englischer Freund, der Universalhistoriker Arnold J. Toynbee, schrieb zum Geleit, Kohn hasst geistige Trägheit als sündhaft. Er sucht Begegnungen und will die Umwälzungen seit dem Schock des Ersten Weltkrieges auf ihre liberalen Errungenschaften durchdringen. Sie haben bei unterdrückten Völkern den Anspruch auf Gleichheit und Menschenwürde geweckt und die Menschen aller Nationen einander näher gebracht. Das ist das Beste, was man sagen kann: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit allen!
Kohn war durch Prag auf solchen Wandel vorbereitet. In seinem Geburtsjahr 1891 feierte die Hauptstadt des Königreichs Böhmen in einer Landesausstellung ein Jubiläum der böhmischen Krone, die seit ihrer Erblichkeit im 12. Jahrhundert eine europäische Macht gewesen war, und die Karls-Universität, die älteste nördlich der Alpen, hatte ihn zum Doktor promoviert.
Um 1900 war Prag die drittgrösste Stadt der Österreichisch-Ungarischen Monarchie. Vororte eingerechnet, zählte die Statistik rund 360 000 Einwohner, die grosse Mehrheit war katholisch, eine grössere Minderheit als die paar tausend Evangelischen waren Juden. Der Nationalität nach waren die meisten Tschechen neben 30 000 Deutschen und anderen. Es gab 57 katholische Kirchen, 10 Synagogen, vier evangelische und eine russisch-orthodoxe Kirche. Schulen, Universitäten und technische Hochschulen unterrichteten in tschechischer und deutscher Sprache. 1896 wurden 8 Theater gezählt, die Hälfte in tschechisch, die andere in deutsch, auch im Musiktheater. Die Tageszeitungen erschienen halb in halb. Für alle waren genug Gärten und Parks zugänglich, darunter die der Fürsten Lobkowitz und der Grafen Waldstein. Allenthalben zeugte barocke Pracht vom Sieg der Katholischen über die Reformierten im 30jährigen Krieg von 1618-1648, in dem die theologischen Maßstäbe des Mittelalters dennoch verloren gegangen waren und durch absolut etatistisch-ökonomisches Denken ersetzt wurden. Das Gedächtnis der Völker lebt in ihrer Raumgestaltung fort. Die internationalen Ausstellungen von 1891, 1895 und 1898 positionierten Stahlkonstruktion und Folklore einander gegenüber. 1891 barg ein mächtiger Bogen, an Eiffels Turm orientiert, eine tschechische Dorflandschaft. 1895 verwies einer von zwei hünenhaften Männern im Hirtenmantel zur »Exposition Ethnographique Tchéco-Slave de Prague«,
während das Rathaus von Polvika und Balsanek (1903-1911) sich bruchlos in die barocke Vergangenheit einfügte. Paris, nicht so sehr »Wiener Session«, begleiteten den ethnischen Aufbruch, der wie über all in der Zeit des Panslawismus, Pangermanismus, Panislamismus, Panturanismus die Jahrhundertwende bestimmte und auf Gegendruck der etablierten Machthaber stiess. Der spätere Präsident der Tschechoslowakischen Republik, der Sozialphilosoph Thomas Masaryk, hat erzählt, dass er ab 1882 dreizehn Lebensjahre brauchte, um vom Extraordinarius zum Ordinarius an der Tschechischen Universität aufzusteigen. Er war ein Slowake. Die Slowakei gehörte staatsrechtlich zu Ungarn, nicht zu Böhmen, Mähren und Schlesien, und er war philosophisch unliebsam. Vom Komponisten Gustav Mahler aus Iglau überlieferte seine Frau Alma den Ausspruch: »Ich bin dreifach heimatlos: als Böhme unter den Österreichern, als Österreicher unter den Deutschen und als Jude in der ganzen Welt.«
1913, als die jüdischen Hochschüler der Prager Vereinigung »Bar Kochba« ihr »Sammelbuch« herausgaben, gehörten sie als Zionisten selber zu den jungen Bünden unbestimmter Hoffnungen. Auf einem Jugendfest gegen die Eröffnung des Völkerschlachtdenkmals bei Leipzig schlossen sich 13 Jugendbünde zu einer »Freideut-
schen Jugend« zusammen, die sich selbst bestimmen wollte. »Deutsche Christen« wollten einen »Deutschen Glauben«. Bei Basel gründeten Anthroposophen ein »Goetheanum«. Ihr Inspirator, Dr. Rudolf Steiner, hatte zur Jahrhundertwende im Berliner Nollendorf-Kasino den literarischen Verein, »Die Kommenden« mit Peter Hille, Else Lasker-Schüler und anderen moderiert. Literatur ist Verlagsgeschichte plus persönlicher Vernetzung auf Zeit, aber manchmal doch, wie Kohn in seinen Erinnerungen an Prag sagt, die macht der Geschichte zu gross, als dass der gesunde Menschenverstand hätte siegen können.
Veränderung kündigte sich schon in der Belletristik an und auf den Theaterzetteln: In der Dekadenz mit den Stücken des Nervenarztes Arthur Schnitzler die Todessehnsüchte, in Thomas Manns Novelle »Der Tod in Venedig«, in Hofmannsthals »Jedermann« und als Bestseller landauf landab in Richard Wagners betörender Germanendramatik. Hebbels »Nibelungen« und alle diese kleinen trivialen Vergewaltigungen wie in Max Krells Theaternovelle »Der bunte Tod« (auch 1913). Als ob Buch und Bühne noch einmal alles in geordnete Rahmen von Personen, Raum und Zeit stellen sollten,
entwickelten sie sich als Teil einer Unterhaltungsindustrie in den militärisch-industriellen Komplex hinein, der seiner technischen Ökonomie folgte. Auch in Österreich-Ungarn sahen die Oberklassen solches nicht gern, denn es musste zu Unruhen unter den Völkern führen.
Während Alfred Polgar in einem Wiener Theaterbericht 1913 das Stück eines jüdischen Autors über edelmütige christlich-jüdische Familienbegegnung verspottete, formulierte im böhmischen Iglau eine »Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei« ihre Grundsätze, die sie schon auf Parteitagen und Versammlungen, darunter in Prag 1908, diskutiert hatte. Sie ging auf Arbeitervereine zurück, die sich von der »internationalistischen Sozialdemokratie und deren jüdischen Führern« (Lasalle und Marx) abgesondert hatten. Hauptsächlich in den böhmischen Industriegebieten mauserten sie sich mit Bezirksgruppen in Bodenbach, Teplitz, Warnsdorf, Gablonz/Neisse, Brünn, Mährisch-Schönberg, Iglau, Mährisch-Ostrau, Fulnek, Troppauch, Wiener Neustadt, Gmünd, Bruck an der Mur zur Partei mit einem Dutzend kleiner und kleinster Blätter und einer »Reichsleitung« im Wiener Stephansplatz Nr. 5.
Im Nachhinein sieht man, dass der Weg nach Auschwitz nicht allzu weit war; doch aus der Wiener Dekadenz musste erst noch Hitler in die bayerische Hauptstadt gelangen, um für sich selbst das Führerprinzip durchzusetzen. Das konnten die jüdischen Studenten von Prag nicht wissen, obwohl Nazis 1904 in Trautenau und 1908 in Prag heftige Programmdebatten führten. »Bar Kochba« hielt sich für »unpolitisch« im bürgerlichen Sinn. Man fühlte sich als »Bund«, nicht als Partei. Dass solches Grundgefühl Fraktionierung nicht ausschliesst, zeigte sich in unterschiedlichen Positionen zur Programmschrift des Redakteurs Theodor Herzl, »Der Judenstaat«, Wien 1896, nach den antisemitischen Erfahrungen auf seinem Pariser Korrespondentenposten. T. G. Masaryk hatte »Die Deutsche Frage« veröffentlicht und in Deutschland der Pastor Friedrich Naumann 1896 einen »Nationalsozialen Verein« gegründet. Herzl analysierte den Antisemitismus soziologisch: Die assimilierten Juden würden durch Wegzug der stammestreuen Juden von der beunruhigenden, unberechenbaren, unvermeidlichen Konkurrenz des jüdischen Proletariats befreit. Die Wanderung ist zugleich eine aufsteigende Klassenbewegung. Sie soll sich nur unter der Zustimmung der bisherigen Staaten vollziehen und durch getrennte Institutionen des Rechts organisiert werden, die »Society of Jews« wissenschaftlich und politisch und die »Jewish Company« als »Organ des wirtschaftlichen Verkehrs«.
Das Modell folgte den sozialen Beispielen jeglicher Staatsgründung, indem »der Staat« als herrschende juristische Form ungleicher ökonomischer Inhalte durch das staatliche Gewaltmonopol Privateigentum absondert. Die zeitgenössische Soziologie dachte Darwins Theorie vom Kampf der Arten auf soziale Gruppen um, wie der polnische Staatsrechtslehrer in Graz, Ludwik Gumplopwicz, in seiner mehrfach variierten Broschüre »Race und Staat. Eine Untersuchung über das Gesetz der Staatenbildung« (Wien 1877). Eroberung, Unterwerfung und Vernichtung sind Verfahren der Staatsgründung. Die moralischen Postulate dienen dazu, schwächere Elemente dienstbar zu machen: Gruppenkämpfe desavouieren den von der Aufklärung vorgestellten Menschentyp immer aus Neue. Antisemitismus erschien demnach als Symptom von Sozialneid auf alles Jüdische. Aus dem Kreislauf der Feindseligkeit herauszukommen, nennt Herzl eine »sentimentale Faselei«. Man solle auch nicht über den Plan abstimmen:
»Dabei wäre die Sache von vorneherein verloren. Wer nicht mit will, mag dableiben. Der Widerspruch einzelner Individuen ist gleichgültig. Wer mit will, stelle sich hinter unsere Fahne und kämp-
fe für sie in Wort, Schrift und Tat […] Zwei Territorien kommen in Betracht: Palästina und Argentinien […]. Palästina gebührt als der ›unvergesslichen historischen Heimat‹ der Vorzug. Herzl erwähnt dort keine Opposition wie in Argentinien.
Wenn Seine Majestät der Sultan uns Palästina gäbe, könnten wir dafür die Finanzen der Türkei regeln, für Europa ein Stück des Walls gegen Asien bilden, den Vorpostendienst der Kultur gegen die Barbarei besorgen. Wir würden als neutraler Staat im Zusammenhange bleiben mit ganz Europa, das unsere Existenz garantieren müsste. Für die heiligen Stätten der Christenheit ließe sich eine völkerrechtliche Form der Exterritorialität finden. Wir würden die Ehrenwache um die heiligen Stätten bilden und mit unserer Erfüllung dieser Pflicht haften. Diese Ehrenwache wäre das große Symbol für die Lösung der Judenfrage nach achtzehn für uns qualvollen Jahrhunderten.«
Tatsächlich war die Idee Herzls, in Palästina einen souveränen Brückenkopf europäischer Juden im Osmanischen Reich zu bilden, nicht abwegig. Von inneren religiösen und ethnischen Differenzen auseinanderstrebend, von aussen durch militärisch-industrielle Interessen von Großbritannien, Frankreich und dem Deutschen
Reich bedroht, von der k.u.k. Monarchie und dem Zarenreich geopolitisch befeindet, hätte eine Art jüdischer Schweiz nützlich sein können, nicht nur beim Wettlauf von Franzosen und Deutschen im Eisenbahnbau und zukunfsträchtigen Bankgeschäften mit arabischen Erdölvorkommen. Indessen erschien schon zum ersten Basler Zionistenkongress 1897 nach Herzls Programmschrift das Gegenpamphlet, »Die Protokolle der Weisen von Zion«. Es denunzierte eine »drohende Weltherrschaft der Juden«. Als Urheber gilt die kaiserlich russische Geheimpolizei, lange über Herzls Tod 1906 hinaus. Herzl behielt recht, daß der Judenhass mit der Assimilation zunehmen würde. In Wien legte 1907 ein abtrünniger Schüler von Sigmund Freund, Alfred Adler, mit einer Studie über »Minderwertigkeit von Organen« die epochalen Zusammenhänge von Minderwertigkeitskomplexen und Machtgelüsten dar, die der Theorie zufolge am Widerstand von Gemeinschaften scheitern.
Als Kaiser Wilhelm II. sich im Juli 1908 zur Reise ins Heilige Land ausstaffierte, berichtete der Jung-Journalist Alfred Kerr aus der Reichshauptstadt nach Breslau: »Ein katholischer Glanzprotestantismus wird sich über dem Grabe des Zimmermannssohnes entfalten, und man müsste sich sehr täuschen, wenn hier für allerhand
künftige Reden nicht eine recht ergiebige Grundlage geschaffen würde.« Allerdings seien Orientreisen schon vor dem Kaiser Ballgespräche der Allerreichsten im Berliner Westen gewesen. Wer Ägypten dick hatte und Italien nicht mehr riechen konnte, ging mit Stangen nach Jerusalem – »Wie finden Sie Jaffa?« – und von Damaskus sprach man wie von Postdam. Eine osmanische Volkszählung in den Bezirken Jerusalem und Hebron kam 1905 unter Ausschluss der Beduinen und Ausländer mit 167 400 Personen bei Muslimen, Christen verschiedener Konfessionen und gesondert gezählten Sephardim und Ashkenazim zu städtischen Präferenzen und muslimischen Mehrheiten im Bezirk, während das von Herzl und anderen anvisierte Import-Exportgeschäft in den Küstenstädten wie Jaffa, Gaza und Haifa an die Grenzen des Marktes zu stoßen schien. Hier sammelten sich christliche und jüdische Einwanderer. Die Landbevölkerung blieb überwiegend arabisch. Der Soziologe Alfred Weber hat 1912 in einer Polemik gegen den Nationalökonomen Werner Sombart prognostiziert, was die Juden in irgendeinem ›Zion‹, einem eigenen Land, wirtschaftlich und allgemein, zivilisatorisch leisten würden, hinge einfach von den Entwicklungsmöglichkeiten desselben ab. Gäbe man ihnen Palästina und die dazu gehörige Küste, so steht bei ihrer heutigen Intellektualität ganz außer Frage, daß sie daraus nicht nur
ein neues Phönizien, sondern überhaupt das wirtschaftliche Schlüsselland des ganzen, wieder zu entwickelnden nahen Orients machen würden.
Als Religionssoziologe setzte der Ökonom voraus, dass die Juden als älteres, orientalisches Kulturvolk ihre Religion erhalten könnten, die »alte geistige Einhüllung«, oder »Der Heilige Weg«, wie Buber ihn 1919 »Dem Freunde Gustav Landauer aufs Grab« skizzierte:
»Gott ist in den Dingen nur keimhaft zu schauen; aber er ist zwischen den Dingen zu verwirklichen […] Das Göttliche kann sich im Einzelnen erwecken, kann sich aus dem Einzelnen offenbaren, aber seine wahre Fülle erlangt es je und je, wo zum Gefühl ihres Allseins erwachte Einzelwesen sich einander öffnen, sich einander mitteilen, einander helfen, wo Unmittelbarkeit sich zwischen den Wesen stiftet, wo der erhabene Kerker der Person entriegelt wird und Mensch zu Mensch sich befreit, wo im Dazwischen, im scheinbar leeren Raum sich die ewige Substanz erhebt: der wahre Ort der Verwirklichung ist die Gemeinschaft, und wahre Gemeinschaft ist die, in der das Göttliche sich zwischen den Menschen verwirklicht.«
Davon waren Sieger und Besiegte 1919 weiter entfernt als 1914 oder 1870. Herzl stellte ein Leuchtfeuer auf für Judenheit und Judentum nach dem Debakel der europäischen Aufklärung in der Dreyfus-Affäre. Raus aus der Hauptstadt Europas! Aber dem Prager Bar-Kochba-Kreis war auch klar, dass eine formale Staatsgründung, ob in Argentinien oder Palästina, die Auflösung der jüdischen Gemeinschaftlichkeit nicht zurückdrehen konnte, sowenig wie die Profanierung von Christenheit und Christentum in den sich mehrenden Nationalstaaten.
In Bubers Sammlung sozialpsychologischer Monographien »Die Gesellschaft« hatte der auf Monopolverhältnisse und Grundrente spezialisierte Ökonom Franz Oppenheimer Gumplowicz‘ Theorie auf den Satz relativiert:
»Der Staat ist seiner Entstehung nach ganz und seinem Wesen nach auf seinen ersten Daseinsstufen fast ganz eine gesellschaftliche Einrichtung, die von einer siegreichen Menschengruppe einer besiegten Menschengruppe aufgezwungen wurde mit dem einzigen Zwecke, die Herrschaft der ersten über die letzte zu regeln, innere Aufstände und äussere Angriffe zu sichern. Und die Herrschaft hatte keinerlei andere Endabsicht als die ökonomische Ausbeutung der Besiegten durch die Sieger. «
Oppenheimer verfocht Siedlungsgenossenschaft hingegen auf Gemeineigentum, genug Anlass für Bar Kochba, um in Herzls Staatsplan Zweifel zu setzen. Indem sie das Werk Herzls für historisch erklärten, schlug Adolf Böhm Achad Haams Modell des Hebräischen Gymnasiums in Jaffa als zukunftsträchtig vor, das in neuhebräischer Schulsprache Inhalte des europäischen Kulturkanons ohne Religionsunterricht vermittelte. Robert Weltsch wurde noch deutlicher:
»›Zionistisches Leben‹, wie es unsere Generation versteht, ist nicht identisch mit dem Zionismus Theodor Herzls […] Sein ungeheurer Gedanke scheiterte an der Kleinheit der Zeit. Und da die radikale Änderung des Lebens der Juden, die Herzls Phantasie vorgeschwebt hatte, unmöglich war, so vollzog sich zunächst gar keine Änderung […] Wir sagten schon, was Herzl anstrebte, war die formale Zusammenfassung der Judenheit; die wirkliche, innerliche Verknüpfung war ihm unwichtig. […] Sein Leben liegt vor uns, die ihn nicht mehr erlebt haben, als ein Märchen von hinreissender Pracht.«
Hans Kohn war als siebzehnjähriger Gymnasiast 1908 Zionist geworden. Als Herausgeber des Sammelbuches von 1913 trug er einen Aufsatz bei, dessen Thematik nach dem Zerfall der europäischen Kaiserherrlichkeiten im 1. Weltkrieg seine Hauptsorge gelten sollte: Der Buberschen »Verwirklichung« unter einer überwältigenden Mehrheit von muslimischen und christlichen Arabern. Der Aufsatz trug den Titel »Geist des Orients«. Tatsächlich war nichts wichtiger als diesen Geist zu erkennen, wollte man Herzls Staatsplan in Palästina mit Bubers Leben füllen. Der Dualismus von Ost und West war im Judentum schmerzliche Erfahrung, ihn zu überwinden Notwendigkeit.
Als Kohn 1929 aus Jerusalem Buber die erste Ausgabe seiner Biographie des Meisters ankündigte, bedankte er sich für zwei Jahrzehnte Lehre, in deren Mitte ein Zion stand, das sich erst jetzt in seiner wahren Gestalt mir zu erkennen gibt, die mit dem Völkerkrieg in Palästina, einem schlechten Krieg, der mindestens seit 1917 tobt, vielleicht früher, den wir aber von Prag aus um 1910 nicht sehen konnten, keine Gemeinsamkeit kennt.
Kohn hatte seine Anstellung bei einer zionistischen Organisation aufgegeben, lebte mit Frau und Söhnchen in einem arabischen Neubau und brachte sich mit Korrespondenzen u.a. für die »Frankfurter Zeitung« und die »Neue Zürcher Zeitung« durch. Lieber wäre er Lehrer gewesen, wozu seine tiefe Stimme, sein Zuhörenkönnen und promptes Antworten ihn besonders begabten. Im Weltkrieg hatte er den Orient in Russisch-Turkestan, als Kriegsgefangener in Ostsibirien, auf dem Rückweg nach Europa in Japan, China und der Mandschurei kennengelernt. Dass der überall aufbrechende Nationalismus »Das Wagnis der Mitte« zwischen Hysterie und schöpferischem Tun selten bestand, wurde zur Lebenserfahrung. Sie ging ein in die Arbeit für »Brit Schalom« (»Friedensbund«), in dem Prager Freunde um den Gründer von Tel Aviv, den Kibbuz-Organisator und Soziologen Arthur Ruppin (1876-1943), erfolglos einen binationalen Staat im nunmehr britischen Völkerbundsmandat Palästina erstrebten. 1929 zählte man 600 000 Muslime, 150 000 jüdische Einwanderer und ca. 80 000 Christen, alle durch Religion, Sitte und Brauch über territoriale Grenzen verbunden. »Nationalität« ist immer ein Symptom von transnationalen Eigenheiten.
Kohn hatte dabei die »Geschichte der nationalen Bewegungen im Orient« (Berlin 1928) vor Augen, die sich zum »Nationalismus und Imperialismus im Vorderen Orient« (Frankfurt a.M. 1931) verdichtete und schliesslich – nachdem die Weimarer Republik sich schon Hitlers »Nationaler Erhebung« hingegeben hatte – als »Die Europäisierung des Orients« 1934 im jüdischen Schocken Verlag noch in Berlin erscheinen konnte. Das Buch endet mit der Warnung vor dem Nationalismus, der für räumlich begrenzte Bezirke der sozialen und geistigen Welt »neue Ordnung« bedeutet hat, doch auf der Höhe seiner Macht mit einer Situation ökonomischer Erdumfassung nur schwer in Einklang zu bringen sei:
»[…] das Erwachen uralter und lang verstorben und erstarrt gewähnter Völker, die die ältesten Kulturträger der Menschheit gewesen sind, ist eines der symbolträchtigsten Geschehnisse der neuen Menschheitsgeschichte, die in Westeuropa eingesetzt, von dort ihren Siegeszug über die ganze bewohnte Erde angetreten hat und alles in ihren Bann einbezieht.«
Die Kriege des 21. Jahrhunderts sind deshalb nicht isoliert zu verstehen, weder in Palästina, noch in Afghanistan, Fernost, Südamerika und Afrika. Die Imperien des alten Europa haben sich im Zweiten Weltkrieg zugrunde gerichtet. Der deutsche Völkermord an Europas Juden war das Finale, »Auschwitz« bleibt Symbol. Mit den Atombomben auf die Großstädte Hiroshima und Nagasaki meldeten die USA ihren Anspruch auf Nachfolge an: Militärisch-industrielle Übermacht garantiert keine Staatsweisheit – wenig versprechend für die »Vier Freiheiten«. Zählen die Amerikaner zu den Völkern, die an nationalem Nervenfieber und an politischem Ehrgeiz leiden wollen, wie man nach der antikommunistischen, jetzt nach antimuslimischer Dummheit vermuten mag? Nietzsche äusserte den Verdacht seiner Zeit über den deutschen Antisemitismus. Man konnte die Deutschen erst von ihrem Leiden kurieren, nachdem die Welt ihnen die Waffen aus den Händen geschlagen und das ganze Territorium besetzt hatte.
Inzwischen sieht Amerikas neue Weltordnung von 1945 alt aus. Die propagierten Hoffnungen, die nationalen und sozialen Nöte zu beseitigen, haben sich in den neuen Staaten nicht einmal in den Ausmassen erfüllen können, die ein Symposion zu Ehren von Hans Kohn nährte. Die Angst, dass Atomwaffen und andere Technologien in unbefugte Hände geraten, wuchs mit dem Zerfall der sowjetischen Völkergefängnisse und verbreitet sich elektronisch so rasch wie ihr Unfrieden den Seelenfrieden von Milliarden vernetzter Menschen stört. Das Leiden als »Macht des Bösen« im Visier pietistisch grundierte Politik, in den Schwankungen der Börsenkurse, die schlimmer noch, als Unterhaltung der Film- und Fernsehdramaturgie, kommt frei Haus und als Kinderspiel im Internet. Da bleibt kein Raum für spontane Herzlichkeit, Vertrauen von vornherein, wie sie der Prager Kreis fühlte und einige seiner Mitglieder nach dem Ersten Weltkrieg in Palästina durchsetzen wollten.
Kohn wurde durch die Vermittlung des amerikanischen Kanzlers der Hebräischen Universität, Juda L. Magnes, 1931 zum wandernden Professor, um Geschichte, um Ideal und Wirklichkeit in Einklang zu bringen. Er starb als grosser alter Mann der Nationalismusforschung in Philadelphia 1971, ehe sein 80. Geburtstag in Zürich mit der NZZ gefeiert werden konnte.
Statt einen Atomstaat Israel mit ungleichen Waffen im Besatzungskampf gegen palästinensische Autonomisten und Panarabismus hatte Kohn sich 1919 »Zur Araberfrage« einen Nationalitätenstaat mit zwei Staatssprachen vorgestellt:
»[…] das Judentum hat als einen seiner Grundpfeiler die Gerechtigkeit erkannt […] jeder Angriff gegen die Gerechtigkeit ist ein Angriff gegen uns selbst […] Wir werden immer inmitten einer uns an Zahl vielfach überlegenen Bevölkerung leben […] Eine Feindschaft mit ihnen würde uns in einen ständigen Rüstungs- und Kriegsvorbereitungszustand setzen, sie würde uns aber auch ökonomisch schädigen […] Das nationale Problem würde […] eine schwere Krankheit unseres Staates werden, an dem wir ebenso zugrunde gehen könnten, wie manche anderen Staaten. Es ist seltsam, daß manche unserer Redner und Legionäre, wenn sie schon die ethische Geschichtsbetrachtung ablehnen, nicht aus der Geschichte und der jüngsten Vergangenheit lernen […] werden wir, die Sklaven von gestern, nicht die Imperialisten von morgen […] Verantwortung vor der Menschheit. Bleiben wir ernst und klar und uns selber treu! Hüten wir uns vor jedem Fetischismus, hüten wir uns vor allem vor dem Fetischismus des nationalen Herrenvolkes!«