Die Folgen sind bös. Langsam aber gründlich ist man in den Ministerien dahintergekommen, daß vorhandene Energien nicht zu dämpfen, sondern nur richtig auszunutzen sind. Der turnenden und wandernden Jugend ist ein konservativchauvinistisches Programm längst keine Politik mehr, sondern eine Selbstverständlichkeit. Ein Blick auf die jungen Leute, die — Standes- und ordnungsgemäß getrennt — im Stadion an der Kaiserloge vorbeidefilieren, zeigt, was hier für Männer aufwachsen. Jede Bauchwelle ein Treuegelöbnis. Jeder Hechtsprung ein Fahneneid. Und der Rottenführer darf bewegten Herzens melden: ein Oberst a.D. und zwölf Mann am Reck zur Stärkung des monarchistischen Gefühls… So Kurt Tucholsky in der Schaubühne vom 2.4.1914. (1)
Zehn Jahre später schrieb im Tage-Buch vom 12. 4. 1924 der Verfasser des Geistes der Utopie und des Thomas Münzer, Ernst Bloch: Der Tribun Hitler, von geringer Herkunft wie Johann von Leiden, ist zweifellos eine mächtige suggestive Natur, leider um gar vieles vehementer als all die echten Revolutionäre, die Deutschland
1918 zitierten; von einer Kraft des gesammelten Willens, einem Vitaldruck und Talent der Entzündung, einem Fanatismus der Vision, die ihn seinen Jüngern wie aus dem Geschlecht Bernhards von Clairvaux, ja der Jungfrau von Orleans erscheinen läßt. Wie diese gab er der abgematteten Ideologie des Vaterlandes ein fast rätselhaftes Feuer; und hat eine neue aggressive Sekte, einen Templerorden, den Keim zu einer stark religiösen Armee, zu einer Truppe mit Mythos geschaffen.(2)
Die Jugend, die Tucholsky beschrieben hatte, war um zehn Jahre und das innere Erlebnis des Krieges gealtert, das Ernst Jünger ihr so benannte. Sie war Hitlers eigene Generation, und er selber bei seinem Putsch 1923 ein junger Mann, dem der General Ludendorff die Weihen der preußischen Militärkaste verlieh, indem er mit ihm marschierte. Ich zitiere die beiden zeitgenössischen Beobachter, den Skeptiker Tucholsky und den Mystiker Bloch, weil sie beide den Zusammenhang scheinbarer Äußerlichkeiten mit der apokalyptischen Vision des deutschen Nationalismus bemerkt haben. Wir haben hundert Dogmen der Reflexion, fügt Tucholsky an, aber kaum eins des Handelns. Und Bloch fährt fort: Bei den Kommunisten wie bei den Nationalsozialisten wird wehrhafte Jugend abgerufen; hier
wie dort ist der kapitalistisch-parlamentarische Staat verneint, hier wie dort wird die Diktatur gefordert, die Form des Gehorsams und des Befehls, der Tugend der Entscheidung statt der Feigheiten der Bourgeoisie, dieser ewig diskutierenden Klasse.(3)
Tucholskys Artikel war überschrieben Vormärz und endete mit der Feststellung, dessen Idylle habe man verloren, aber die Reaktion behalten. Bloch mutmaßte am Ende, die Unruhe werde voraussichtlich solange dauern, bis ein Erstarken des Proletariats aus der Unruhe das falsche Bewußtsein vertreibt.
Die Übersetzung der Reflexion in Dogmen des Handelns, denen gehorcht wird, ist das Thema der Ritualisierung des Nationalen im 19. Jahrhundert, das, so betrachtet, mit der Zerstörung des alten Europa durch zwei Weltkriege und der Übergabe des Imperiums an Rußland und Amerika endete.(4) Wie nun dieses Weltsyndikat als eschatologischer Mythos sich ausnimmt und durch die tägliche Ausstrahlung seiner Götter-, Halbgötter- und Kleingöttergeschichten, mit seinen Gipfeltreffen, Weltranglisten und Superstars sich
durch den Programmritus der elektronischen Medien täglich in gläubige Personifikation umsetzt, das ist eine andere Geschichte. Sie setzt die Nationen als Einheiten voraus, als Ganzheiten, die handlungsfähig sind und erfüllt von einem gemeinsamen Geist, der sie ihren Raum bestimmen läßt und ihren Kalender als wichtigstes Ritual.(5)
Diese Vorstellung von Nation, die heute gang und gäbe ist und alltäglich durch ungezählte Akte der Verwaltung, der Diplomatie, der Publizistik reproduziert wird, nenne ich mythisch, weil sie einer Konstellation von Zeichen, das heißt, von sinnlich wahrnehmbaren Akten, Gegenständen und Signalen, die auf anderes verweisen, einen übersinnlichen Charakter verleihen. (6)
Ordnungen sind immer Konstellationen von Zeichen, durch die sie wahrnehmbar werden; aber das heißt nicht, daß sie darüber hinaus sind, was wir uns in der Deutung der Zeichen vorstellen, auch nicht, wenn das Bedeutende, wie Roland Barthes in seinen Mythen des Alltags formuliert hat, mit dem Bedeuteten verschmilzt. Es gibt keine reine Materie, sondern nur die Trennung von Wahrnehmung von Vorstellungen in Bezug auf Materie, oder eben die
magische Vermischung von Bild und Sache, Medium und Botschaft, Wunsch und Erfüllung, Teil und Ganzem, Wachen und Träumen, Vergangenheit und Geschichte, Selbst und Umwelt, die Einheit fingiert.
Der Mythos ergänzt, beschwört Bündigkeit durch Preisgabe möglicher Differenzierungen: Mythisches Denken durch Mißachtung logisch gebotener Unterscheidungen. Weil es diese Scheidungen überspringt, kennt das mythische Denken nur das Prinzip der Einerleiheit des Teils mit dem Ganzen, wie Ernst Cassirer 1924 nachgewiesen hat. Das Ganze ist der Teil in dem Sinne, daß es mit seiner vollen mythisch-substantiellen Wesenheit in ihn eingeht, daß es geradezu sinnlich und materiell in ihm irgendwie ,steckt’… Und das gleiche mythische Gesetz der ,Partizipation‘ herrscht nicht nur dort, wo es sich um reale, sondern —in unserem Sinne — um rein ideelle Verhältnisse handelt. Auch die Gattung steht zu dem, was sie umschließt, was sich als Art oder Individuum unter sich enthält, nicht in dem Verhältnis, … sondern sie ist in diesem Besonderen unmittelbar gegenwärtig, sie lebt und wirkt in ihm. Hier herrscht keine bloße gedankliche Unterordnung, sondern wirkliche Unterwerfung des Einzelnen unter seinen gegnerischen ,Begriff ‚.(7)
Cassirer kommt im nächsten Satz zum totemistischen Weltbild als Beispiel. Das ist uns nicht mehr erlaubt. Wir haben dieses mythische Gesetz der Partizipation als konkreten Gebrauch abstrakter Begriffe erfahren in der national-deutschen Erhebung, die Millionen Menschen das Leben gekostet hat, weil sie als Artfremde, als Fremdvölkische, als Volksfeinde diesen Begriffen unterworfen oder als Volksgenossen für die Zwecke einer mythischen Volksgemeinschaft tauglich befunden wurden.
Nach diesem empirischen Befund steht nicht die Wahrheit des Mythos zur Debatte, und auch nicht, ob es echte oder unechte Mythen gibt, die, wie Cassirer 1945 im Mythus des Staates schrieb, fabrikmäßig hergestellt sind.(8) Wenn selbst noch von entstellten Mythen ein unwiderstehlicher Zauber auszugehen vermag (9), lautet unsere Frage, wie das möglich ist, wie dieser Zauber mit den materialen Bedingungen der Erfahrung wahrzunehmen ist, und, insofern Mythen machbar sind, wie gezaubert wird; Wahrheit oder Unwahrheit hat bekanntlich kein eindeutiges Verhältnis zu
Wirkung und Unwirksamkeit, und es ist auch nicht so, daß echte Mythen, nach denen der Markt jetzt verlangt wie nach echten Antiquitäten, das erreichte humanitäre Niveau garantieren. Die alten Göttergeschichten mit anthropomorpher Naturbedeutung sind nicht immer erbaulich.
Die Gegenwart des Mythischen erweist sich auch in Fabeln und Bildern, wo man sie sieht — zum Beispiel, wenn die Universität Tübingen 1985 eine Dokumentation zur Wiedereröffnung der Universität 1945 herausgibt und sie mit Wiedergeburt des Geistes. Die Universität Tübingen im Jahre 1945 betitelt. Der Umschlag zeigt das Portal zum Hauptgebäude mit drei französischen Wachposten und wehender Trikolore. Das ist ein Motiv zur Ritualisierung des Nationalen in der Europäischen Gemeinschaft.
Irgend jemand muß sich das ausgedacht haben. Jemand hat es imprimiert. Man kann sich fragen, ob nun das Bild in seiner Montage magischer Besitznahme dienen sollte oder ob man sich, mythisch gestimmt, nichts dabei gedacht hat, ob ungeschiedenes Bewußtsein am Werke war. Das ist eine bloße Frage der Qualität. Jeder
noch so alltägliche Daseinsinhalt kann den auszeichnenden Charakter der Heiligkeit gewinnen, sobald er nur in die spezifisch-mythisch religiöse Blickrichtung fällt; … — sobald er, statt in den gewohnten Umkreis des Geschehens und Wirkens eingespannt zu bleiben, das mythische .Interesse‘ von irgendeiner Seite her ergreift und es in besonderer Stärke erregt. Das Merkmal ,Heiligkeit‘ ist daher keineswegs von Anfang an auf bestimmte Objekte und Objektgruppen eingeschränkt — sondern jeder noch so .gleichgültige‘ Inhalt kann plötzlich an diesem Merkmal Anteil gewinnen.(10)Eine Gedenkschrift wie eine Fußballmannschaft oder ein Tennis-Star“.
Die Heiligung des Banalen kann dem Denken des Einzelnen entspringen, der aus seiner Mangelsituation irgendeinen Gegenstand mythisch befrachtet, indem er ihn verabsolutiert und ihm Kräfte zuschreibt, die ihm selber fehlen, — die kleinen privaten Fetische von Teddybären über die Souvenirs bis zu Elvis- oder Bismarckbild „Abwehrzeichen“ (11), Talisman und Amulette im privaten wie im öffentlichen Leben. Die Grenzen zwischen Wunsch und Erfüllung verschwinden. Das Vorgestellte gilt, nicht das Wahrgenommene. Das braucht jedermann von Zeit zu Zeit, manche täglich, denn die Auseinandersetzung mit der Umwelt, in die wir, ohne bestimmen
zu können, wann und wo, hineingeboren werden, muß vom ersten bis zum letzten Tag Mängel kompensieren, die nicht abzustellen sind, wie die Biologie, Physiologie, Psychologie und Psychopathologie von Kommunikation nachweisen (12). Weil wir im Mangel sind, der sich stets erneuert, teilen wir mit, empfangen Mitteilungen und teilen Mit-Teilungen, schaffen wir uns Götter und Götzen, Idole und Fetische und spielen das Theater der Selbstdarstellung, das Irving Goffmann in unmittelbarer Nachbarschaft zum „Stigma“ untersucht hat. Der Mythos kompensiert den Mangel an Harmonie (13).
Dabei geht es immer um die Umsetzung einer gedachten Hierarchie von Wertvorstellungen, fein säuberlich vom höchsten zum niedrigsten Unwert vertikal geordnet, auf die Horizontale, die unsere Füße trägt. Marxens Idee, die Philosophie auf den Boden zu stellen, konnte bekanntlich nichts daran ändern, daß der Konflikt zwischen vertikalen Vorstellungen und der Horizontalen ihrer Umsetzung in Materialien, die sie wahrnehmbar machen, erhalten blieb. Marx hat die Ränge der Wertvorstellungen anders besetzt, wie alle Propheten vor und nach ihm, aber die Hierarchie der Werte als solche nicht abschaffen können und deshalb auch den Mythos nicht.
Die Hierarchie der politischen Werte regelt den permanenten Konflikt zwischen Herrschaftserhalt und Herrschaftswechsel, der alle Bewohner eines von ihr erreichten Raumes betrifft (14). Umbesetzungen in dieser immer hierarchischen Vorstellungswelt erfolgen durch selbst- oder fremdbestimmte Interpreten. Sie differenzieren bestehende Einheiten, nehmen sie aus-ein-ander, indem sie sich subjektiv mit ihrer Umwelt aus-ein-ander-setzen, und dies durch Symbole verständlich zu machen suchen.
Die Symbole müssen so beschaffen sein, daß sich möglichst viele unterschiedliche Motivationen an ihnen festmachen können, denn sie sollen der Umorientierung möglichst vieler Privatleute dienen und diese in die neue öffentliche Ordnung hineinziehen.
Das Tempo der Umorientierung heißt, wenn es schnell geht und jäh, „Revolution“ oder, wenn es sich allmählich vollzieht, „Reform“. Letztere ist häufiger, weil sie niemandem abverlangt, akzeptierte Regeln von einem Tag auf den andern aufzugeben, also weniger Opposition produziert und infolgedessen auch weniger Brachialgewalt erfordert — die ja nicht beliebig verfügbar ist! —, um neue Werte durchzusetzen.
Georges Sorel hat in seinem berühmten Essay Über die Gewalt darauf hingewiesen, daß die Massen den Mythos der Revolution
übernehmen müssen, damit sie siegen kann. Das heißt, eine große Zahl von Menschen muß die Neubesetzung der traditionellen vertikal gedachten Welthierarchie — das Hirngespinst der Revolutionäre, verdeutlicht in deren Symbolen — zu ihrer unmittelbaren Sache machen, etwas in sie hineinprojizieren, was nicht ist, vorwegnehmen, was diese kollektive Symbolik bedeuten soll.
Da Werte nicht einzig gedacht werden können, sondern Werte nur sind in Beziehung zu anderen Werten, die Befolgung einzelner Werte aber durchaus schmerzlich und nachteilig sein kann, liegt es im Interesse der Neuerer, die mythische Tendenz zu verstärken. Sie wohnt der Umwertung notwendigerweise inne, weil diese auf ein geschlossenes Ganzes zielt und Partizipation braucht. — Wir sehen es dieser Tage, wie interessierte Industrien und deren politische Lobby den Mythos der „Informationsgesellschaft“ machen. Die Werbung um „Partizipation“ spielt dabei eine große Rolle (15).
Solche Propaganda macht nicht nur das Bild zur Sache. Sie verwischt auch die Grenzscheide zwischen Wunsch und Erfüllung. Fürwahrhalten des nicht Wahrnehmbaren. Magische Antizipation
kann, wie Michail Bakunin in Gott und der Staat (1871) essayierte, die durch eine Religion, eine Weltanschauung oder durch eine bewunderte, aber nicht verstandene Wissenschaft regierte Gesellschaft auf die tiefste Stufe des Blödsinns (16) hinabdrücken. So die Deutschen 1933-1945. Aber selbst, wenn Millionen an der Angel der Antizipation zappeln, gehen die Auseinandersetzungen weiter. Sie produzieren ständig Differenzierungen und neue Polarisierungen.
Die Auseinandersetzungen mit der Umwelt speisen das Bedürfnis nach Geschlossenheit und verunmöglichen es zugleich. Das führte einen der Mythen-Priester des Naziregimes, den antisemitischen Historiker Professor Dr. Walter Frank in seinem Buch Kämpfende Wissenschaft (1934) zur Gegenüberstellung der „Schaffenden“ und der „Klugen“. Die ersteren produzierten Werte, aber ihr größter Feind sei nicht der Primitive. Der Kluge sei immer der größte Feind der Schöpfung. Die „Graeculi“, Schulmeister und Literaten im Dienste Roms, hätten schließlich Rom überwunden, gleiches sollte den Intellektuellen nicht gelingen, die nun den nationalsozialistischen Sieg analysierten (17).
Erkenntnisvermögen und Bezeichnungsvermögen vereint, führen aber notwendigerweise zu differenzierenden Einstellungen, weil die Qual, Einsichten mitteilbar zu machen, sie in Zeichen umzusetzen, immer neue Trennungen, Unterscheidungen, Abgrenzungen, Destruktionen erzwingt. Das Potential kritischer Öffentlichkeit und das mythische Potential der Antikritik sind anthropologisch im Bezeichnungsvermögen bedingt (18).
Die gedankliche Unterordnung und die wirkliche Unterwerfung der Deutschen unter das von Cassirer so genannte Mythische Gesetz der ,Partizipation‘ gelang mit Hilfe publizistischer Antizipationen und der zeitlich geregelten Wiederholungen bestimmter Themata im Ritual (19).
Ritualisierung bringt Ordnung in die Kultur, indem sie die organische Lebenszeit der Subjekte in gleiche Mitteilungen einbindet, sie auf ein gemeinsames Symbol bezieht, das wiederum auf dahinterliegende Wertvorstellungen verweist. Ritualisierung heißt Synchronisation von Subjekten. Sie erfolgt in der Regel nach den Vor-
gaben des allgemeinen Kalenders, der kultisch begründet ist. Im Interesse der Umwertenden liegt es deshalb, ähnlich wie die Hierarchie der Werte, die als solche stabil bleibt, auch den Kalender, den vertrauten, neu zu besetzen, ohne ihn abschaffen zu können (20).
Für das Verständnis des deutschen Nationalismus ist es wichtig zu wissen, daß die traditionelle Vielheit der Herrschaftsverhältnisse lokale, regionale, konfessionell bedingte Differenzen des kalendarischen Rituals bedeutete, die teilweise sogar den Nationalsozialismus überlebt haben und die Einheits-Partizipation einschränkten. Sind wir auch mal kleine Lipper, aber Lipper sind wir doch (lokale Feiertage, Umzüge, Ehrungen) und ähnliche Heimatbekenntnisse waren nicht nur verbal, sondern liturgisch verankert in den spezifischen Ritualismen der Fürstentümer und Stadtrepubliken. Von daher bestand keine Notwendigkeit zu größerer, strafferer durchrationalisierter Einheit.
Die Idylle des Vormärz, von der Bloch 1924 schrieb, arrangierte sich mit der Reaktion. Das Bürgertum versammelte sich im Konzertsaal, nicht auf dem Forum, Harmonien suchend, nicht Differenzen. Der Gang ins Konzert wurde zu einem bürgerlichen Ritual und hat noch heute Weihecharakter. Ähnlich die Entwicklung des Theaterbesuchs vom Hoftheater zur Gründung der Volksbühnen im Zuge der Industrialisierung 1890.
Enge Verhältnisse, wie die Empörer auf der Bühne und in der Literatur sie beschrieben haben, blieben doch überschaubar, anschaulich, Heimat. Sie auf weitere Räume zu übertragen konnte so nicht gelingen. Das Mythologem „Heimat“ ist ein Schlüssel zum Verständnis des deutschen Nationalismus, weil die vielen Heimaten in ihren spezifischen Ritualisierungen verständlich machen, weshalb die Nation außer Kontrolle geraten mußte. Sie kam in der Heimat nicht vor. Horkheimer und Adorno haben in der Dialektik der Aufklärung dargetan, wie die Aufklärung im Mythos endet, wenn sie im Positivismus Ruhe zu finden hofft und alles Unbekannte eliminiert: Die deutschen Heimaten sind der politische „Positivismus“, der keine Aufklärung braucht, weil das Ritual alles regelt (21).
Nachdem der erste Mobilitätsschock der mit militärischer Pünktlichkeit betriebenen Industrialisierung nach 1870 überwunden und ein ausgehandelter, dynamisch angepaßter Arbeitsritus etabliert war, hat sich diese Tendenz eher verstärkt, weil die neue Klasse der Industriearbeiter sie aufnahm.
Eine zweite, das Jahrhundert durchtönende mythische Kadenz, die mit der ersten zusammenklingt, ist die Anthropomorphisierung der Natur. Hübner hat sie im Werk Hölderlins herausgestellt. Die Wälder, die Flüsse, die Berge, die Seen waren nur als „deutsch“ zu bezeichnen, um die größere Einheit zu suggerieren. Georg Simmel hat darauf hingewiesen, daß wir Natur als Einheit sehen, als Landschaft nicht unmittelbar ihr gegenüberstehen. Der Antagonismus der sozialen Auseinandersetzung kommt zur Ruhe in diesem „Sondergebilde“ der Wahrnehmung: eine in sich geschlossene Anschauung als selbstgenügsame Einheit empfunden, dennoch verflochten in ein unendlich weiter Erstrecktes, weiter Flutendes, eingefaßt in Grenzen, die für das darunter, in anderer Schicht wohnende Gefühl des göttlichen Einen, des Naturganzen nicht bestehen (22).
Die Ritualisierung dieser mythischen Geschlossenheit der „Landschaft“ im Vereinswesen holte Privationsbedürfnisse zur Erneuerung des Subjekts zurück in die Auseinandersetzung. Sie war somit leicht zu politisieren, wie die Wanderbewegungen aller Parteien zeigen. Der „deutsche Rhein“ gewann als gedachte Grenzlinie gegen den französischen Erbfeind eine besondere mythische Qualität, die mit „Rheinromantik“ unzulänglich benannt ist. Hier ging es doch um die Geschlossenheit des Mythischen gegen den von Westen vordringenden Rationalismus, wie Heinrich Heine schon bemerkt hat. Als die Landschaft mit Aussichtstürmen und den von Christian Morgenstern so genannten Schornsteinen des Patriotismus, den Bismarcktürmen, bebaut wurde, hatte der „Volksgeist“ sichtbaren Ausdruck gewonnen, der Mythos war jedermann gewärtig. Er hatte seine Weihestätten, war handfest, begreiflich, anfaßbar geworden. Jedermann konnte in privatem Ausflug, Vereine, Gruppen und Verbände konnten sich dort versammeln, um sich als Teil des Ganzen zu erleben, und so die mythische Erfahrung der „Partizipation“ machen.
Eine dritte mythische Kadenz bietet die unio mystica des „Volksgeistes“. Hans Kohn hat in seiner Idee des Nationalismus beschrieben, welchen Einfluß Herder auf die mitteleuropäischen Nationalismen hatte (23). Die Ausbreitung auf die akademische Jugend durch Fichte, die „Weltgeist“-Ideologie Hegels und daran anschließend die erhaltenden und umwälzenden Interpretationen seiner Nachfolger — sie sind nicht ohne Bezug zu der Turnerbewegung von Jahn und den Bücherverbrennungen durch schwarz-uniformierte Studenten, die Heinrich Heine in Göttingen erlebte. Das deutsche Leben, schrieb Ludwig Börne 1836 in seiner Kampfschrift gegen Menzel, den Franzosenfresser, sei ein Fastenleben, das schon seit Luther, seit drei Jahrhunderten dauere, und das deutsche Volk sei noch weit von seinem Ostern. Organisierte, zielvolle Massenregie das 19. Jahrhundert hindurch entmündigte das Subjekt zum Glied des Kollektivs (24).
Der preußische Militärdrill, der nach 1871 zur „Schule der Nation“ wurde, konnte schon auf rituelle Eingestimmtheit rechnen und die Freiwilligkeit als Äußerung inkarnierter Symbolik(25) ausnützen. Börnes „Ostern“ endete im Kult der Despotie (26).
In seiner Rede zur Eröffnung des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands sagte dessen Leiter, Professor Frank, 1935: So waren der Marsch der Sturmkolonnen und der Sang der Massen und das einsame Ringen des Forschers und des Gestalters nur noch Töne, die sich frei und ohne Zwang zusammenfügten zu einer einzigen großen, einer deutschen Symphonie. Der Auftrag sei nicht vom Staat, auch nicht von der NSDAP gegeben, sondern den Auftrag gab uns unser Gewissen an dem Tag, als durch München die Gewehrsalven vor der Feldherrnhalle knatterten… (27). Als ich im vorigen Jahr zum 100. Geburtstag Heinrich von Treitschkes vor der Führung der Hitlerjugend sprach, da habe ich zwei Feinde einer echten Wissenschaft bezeichnet. Ich nannte den einen, den wissenschaftlichen und literarischen Dilettantismus, ,Spartacus‘; und den anderen, die wendigen Intellektuellen‘, die ,Griechlein‘. Ich sagte auch voraus, daß ,Spartacus‘ sein struppiges Haupt nach kurzer Herrlichkeit wieder in die verdiente Knechtschaft beugen und daß dann der Augenblick kommen werde, wo die ,Griechlein‘ in falscher Freundschaft gegen die Laufgräben der deutschen Revolution vordringen würden. Und ich sprach die Hoffnung aus,
daß ihnen dann aus diesen Laufgräben zur rechten Zeit das rechte Kommando entgegentönen werde: ,Achtung – Feuert‘ — Es ergab sich im Februar dieses Jahres die geschichtliche Notwendigkeit, dieses Kommando zu geben und auszuführen…(28).
Franks bombastische Redeweise bestätigt den Rückfall ins Magische, den Tucholsky 1914, Bloch 1924 beschrieben haben. Daß nur zwei Jahrzehnte nötig waren, um den natürlichen Leib in den politischen Leib(29) des Führers und Reichskanzlers als einer Karikatur des unsterblichen Königs der mittelalterlichen politisch-theologischen Doktrin zu praktizieren, sollte uns auf die Langlebigkeit der Mythen hinweisen. Der Rückfall ist kein großes Ereignis gewesen, sondern ein weitverbreiteter Mangel an Unterscheidungsvermögen, begünstigt durch den Unwillen, die eigene Vergangenheit zu zergliedern. Vorsicht ist geboten, auch heute wieder zielt das Unterfangen gewisser Politiker und Historiker auf die Verschönerung der jüngeren deutschen Geschichte zwecks Förderung des Nationalgefühls (30).
Als wir zuerst die politischen Mythen hörten, schrieb Cassirer 1945 in seinem letzten Buch, fanden wir sie so absurd und unangemessen, so phantastisch und lächerlich, daß wir kaum dazu vermocht werden konnten, sie ernst zu nehmen. Jetzt ist es uns allen klar geworden, daß dies ein großer Fehler war. Wir sollten denselben Irrtum nicht ein zweites Mal begehen. Wir sollten den Ursprung, die Struktur, die Methoden und die Technik der politischen Mythen sorgfältig studieren. Wir sollten dem Gegner ins Angesicht sehen, um zu wissen, wie er zu bekämpfen ist (31).
Das mythische Grauen der Aufklärung gelte dem Mythos, warnten 1947 Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung. Lassen Sie uns skeptisch an das Thema herangehen. Mythos ist nur ein Thema (32)unter zahllosen Thematisierungen zwischen Mitteilung und Antwort, Frage und Gegenfrage, Ritualisierung darin der zeitliche Faktor, der in Wiederholung wiedererkennen läßt und damit Zutrauen ermöglicht. Vorsicht ist geboten, wo immer „Partizipation“ verlangt wird, nicht nur im Nationalen.
(1) Tucholsky, Kurt: Vormärz. In: Die Schaubühne, Jg. 10, No 14, 383.
(2) Bloch, Ernst: Hitlers Gewalt. In: Das Tage-Buch, Jg. 5, No 15, 475.
(3) Ebd., 476.
(4) … das Wesen des heutigen Krieges als gegenseitigen Selbstmord so klar erwiesen, daß nach ihm wiederum ein völlig Neues, eine völlig andere, noch nicht dagewesene Weltorganisation entstehen muß. Diese Weltorganisation ist zur Zeit noch nicht voll vor auszusehen. Sie wird durch Zwischenstufen hindurchgehen und ihre Endform wohl nur langsam finden … Was wiederum bedeutet, daß das Prinzip der freien Rivalität, das auf weitesten Gebieten des Wirtschaftslebens ja schon längst ausgeschaltet und durch das der Kooperation ersetzt ist, zu diesem Zweck auch aus dem der Außenpolitik der Staaten zu verschwinden hat und ein von wenigen Großkräften geleistetes Weltaggregat, dem in der einen oder anderen Form die Kleinen ein- oder angegliedert sein müssen, nun die großen Weltfragen entscheidet. Zit. nach Weber, Alfred: Abschied von der bisherigen Geschichte. Überwindung des Nihilismus? Hamburg 1946, 17.
(5) Vgl. Pross, HarrylRath, Claus-Dieter (Hg.): Rituale der Medienkommunikation. Gänge durch den Medienalltag. Berlin 1983; Hofmann, Michael: Medientechnologie, Medienrealität und Kitsch. In: Pross, Harry (Hg.): Kitsch. Soziale und politische Aspekte einer Geschmacksfrage. München 1985, 109-122.
(6) Jolles,Andre: EinfacheFormen. Legende/Sage/Mythe/Rätsel/Spruch/Kasus/Memorabile/Märchen/Witz. Darmstadt 2. Auf. 1958, 110.
(7) Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken. Darmstadt 5. Aufl. 1969, 83.
(8) Cassirer, Ernst: Vom Mythus des Staates. Zürich 1949, 367 f.
(9) Hübner, Kurt: Die Wahrheit des Mythus. München 1985, 414.
(10) Cassirer (s. Anm. 7), 95.
(11) Vgl. Wülfing, Wulf: „Boris …, Boris … über alles!“ Aspekte einer mythenkritischen Kulturwissenschaft. In: kultuRRevolution. Zeitschrift für angewandte diskurstheorie, nr. 13 (bochum, oktober 1986), 18-22.
(12) Vgl. Wyss, Dieter: Mitteilung und Antwort. Untersuchungen zur Biologie, Psychologie und Psychopathologie von Kommunikation. Göttingen 1976, 41 f.; 288 ff.
(13) Vgl. Pross, Harry: Vor und nach Hitler. Zur deutschen Sozialpathologie. Ölten 1962, 81 ff.; 163 ff.
(14) Vgl. Pross, Harry, Hierarchy of Political Values and Their Communication. In: Int. Pol. Sc. Rev., Vol. 3/No 2, 205-211; ders.: Zwänge. Essay über symbolische Gewalt. Berlin 1981, 48 ff.
(15) Vgl. für das Verhältnis von Information und politischen „Realitätsbildern“ Edelman, Murray: Politik als Ritual. Die symbolische Funktion staatlicher Institutionen und politischen Handelns. Frankfurt/M. 1976; Quaritsch, Helmut (Hg.): Die Selbstdarstellung des Staates. Vorträge und Diskussionsbeiträge der 44. Staatswissenschaftlichen Fortbildung 1976 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer. Berlin 1977.
(16) Bakunin, Michail: Gesammelte Werke 1-3. Hg. v. Hansjörg Viesel. Berlin 1975, I, 109.
(17) Vgl.: Gegenüber diesem gewaltsamen Einbruch in ihr geistiges und materielles Leben haben die deutschen Professoren im ganzen keinen Charakter gezeigt. Kein Wort des Protestes gegen die Absetzung so vieler, verdienter Gelehrter wurde laut. Die Würde der akademischen Korporation zerflatterte. Die Idee der Universität zerging vor der Frage nach der Pensionsberechtigung, zit. nach: Gumbel, E. J. (Hg.): Freie Wissenschaft. Ein Sammelbuch aus der deutschen Emigration. Strasbourg 1938, 27.
(18) Vgl.: Die Reaktion auf die strenge Kontrolle des Privatlebens und auf die Knebelung der öffentlichen Meinung erfolgt in der Weise, daß auch Leute, die sich nie im Leben etwas zuschulden kommen ließen, in der Praxis des täglichen Lebens die Haltungeines Verbrechers, der etwas zu verbergen hat, annehmen, und daß ihnen diese dissimulierende Haltung zur zweiten Natur wird … Die wichtigste Frage für jedermann ist: welche politische Gesinnung hat mein Wohnungsnachbar, mein Nebenmann auf der Arbeitsstätte? Indessen hat das Denunziantentum nachgelassen. Nach sieben Jahren Hitler sind die Denunzianten den Weg der Denunzierten gegangen. Die allgemeine Ermüdung steigert die Sehnsucht, aus der Wirklichkeit zu fliehen. Bei einer Minderheit hat sie eine neue Religiosität erweckt, bei der Mehrheit eine ziellose Romantik. Diese Ermüdung wird jede spontane Erhebung gegen das Regime unmöglich machen, Zit. nach: Joos, Martin: Die einfachen Leute in Deutschland. In: Das Neue Tage-Buch, Jg. 8/No 16 (20. 4.1940), 380 f.
(19) Vgl. Pross, Harry: Die Zerstörung der deutschen Politik. Dokumente 1871-1933. Frankfurt/M. 2. Aufl. 1985.
(20) Vgl. Gluckmann, Max (Hg.): Essays on die Ritual of Social Relations. Manchester 1962, 82 f.
(21) Vgl. Böll, Heinrich: Stadt der alten Gesichter. In: Erzählungen, Hörspiele, Aufsätze. Köln 1961, 404 f.
(22) Simmel, Georg: Philosophie der Landschaft. In: Ders.: Brücke und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft. Hg. im Verein mit Margarete Susman von Midiael Landmann. Stuttgart 1957, 142. Dericum, Christa/Wambolt, Philipp (Hg.): Heimat und Heimatlosigkeit, Berlin 1987, 129 ff.
(23) Vgl. Kohn, Hans: Die Idee des Nationalismus. Ursprünge und Geschichte bis zur Französischen Revolution. Heidelberg 1950, 450 ff.
(24) Vgl. Mosse, George L.: Die Nationalisierung der Massen. Politische Symbolik und Massenbewegungen in Deutschland von den Napoleonischen Kriegen bis zum Dritten Reich. Frankfurt/M. 1976.
(25) Pross, Harry: Politische Symbolik. Theorie und Praxis der öffentlichen Kommunikation. Stuttgart 1974, 106-117.
(26) Vgl. Misch, Carl: Das Dritte Reich als Despotie. In: Gumbel, E. ]. (Hg.) (s. Anm. 17), 156-173.
(27) Frank, Walter: Zunft und Nation. Rede zur Eröffnung des „Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands“. Schriften des Reidisinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands. Hamburg 1935, 16.
(28) Ebd., 19-21.
(29) Kantorowicz, Ernst H.: The King’s Two Bodies. Princeton NJ 1957.
(30) Distel, Barbara/Benz, Wolf gang: Editorial. In: Dachauer Hefte. Studien und Dokumente zur Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Im Auftrag des Comité International de Dachau, Brüssel, Hg. Wolfgang Benz und Barbara Distel. Jg. 2, No 2, 1986, 2.
(31) Cassirer, Ernst (s. Anm. 8), 388.
(32) Neuerdings hierzu: Zingerle, Anton/Mongardini, Carlo (Hg.): Magie und Moderne, Berlin 1987. Voigt, Rüdiger (Hg.): Symbole der Politik. Politik der Symbole, Opladen 1989. Bystrina, Ivan: Semiotik der Kultur: Zeichen-Texte-Codes, Tübingen 1989, 79 ff.