Am 8. Mai 1955 wird die Welt ihren Sieg von 1945 feiern, und in der Bundesrepublik wird man der deutschen Katastrophe gedenken und dasselbe meinen. Die Sprache trügt nicht, doch verrät sie das Ungesagte. In Mini- sterreden, auf Gartenbauausstellungen, bei der Einweihung von Großküchen wie in den Ansprachen auf diplomatischen Empfä.ngen meint man heutzutage das Jahr 1945, wenn man von der nationalen Katastrophe spricht. Wen kümmert es, daß diese Datierung falsch ist, rundweg falsch und wider die Wahrheit, nicht bloß eine Täuschung, eine läßliche Lüge vielleicht? Kaum diejenigen, denen die Falschheit der Aussage bewußt ist, wehren sich dagegen. Wissen und Sprachgebrauch haben sich getrennt. Nicht der Beginn, sondern das Ende des „Dritten Reiches“, nicht das Datum der Versklavung, sondern das der Wiederherstellung der Nation gelten dem Volke als Tiefpunkt seiner Vergangenheit. Umfragen der Meinungsforscher haben ergeben, daß mehr Deutsche den Hitlerismus für eine gute Idee, doch schlecht ausgeführt, als für eine schlechte Idee überhaupt halten. Volkes Stimme ist Gottes Stimme? War, an diesem Erfolg gemessen, alles falsch, was der gewaltige Aufschwung zuwege brachte, den dieses Land seit dem Tag der Kapitulation genommen hat?Es wäre müßig, in dieser Richtung weiter zu fragen, denn die Wahrheit ist zwar eine Relation der Wirklichkeit, aber nicht des Erfolges. Man darf sich weder mit dem Erfolg beruhigen, noch hoffen, daß der Mut zur Wahrheit allgemein werde. Weder die Illusionen, die in einem Volk vorherrschen, noch die ökonomischen Errungenschaften, die es aufzuweisen hat, können den Publizisten veranlassen, sich mit ihnen abzufinden. Sie gehören zur verwickelten Wirklichkeit, die sich in allen ihren Beziehungen dauernd ändert und dabei nichts und niemanden ausläßt, auch den Betrachter nicht; aber daß sie existieren bedeutet noch nicht, daß sie allein deswegen Anerkennung finden müßten vor dem Verstand. Der Publizist wird sich ganz im Gegenteil nicht mit ihnen zufrieden geben, ehe er ihre guten und schlechten Seiten, ihre inneren Widersprüche und ihre Beziehungen zur Politik der Epoche aufgewiesen und in ihrer Bedingtheit erkannt hat. Dabei muß sein Denken allen Windungen und Verschlingungen der Wirklichkeit folgen, so gut es dazu imstande ist, und muß sich auf seinem beschwerlichen Weg davor hüten, sich etwa mit einem Begriff der Gesamtheit oder mit einer Einzelheit zu begnügen und sich hier oder dort auszuruhen. Denn jede dieser Parteinahmen schwächt die Urteilskraft und erteilt das Imprimatur ehe die konkrete Wirklichkeit erfaßt ist. Freilich dürfte niemals etwas drucken lassen, wer dieses Prinzip bis zu seinem Ende verfolgte, denn nie stimmen Begriff und Realität überein. Und doch braucht der Journalist und Kritiker nicht vor den Elementen schon zu kapitulieren, die seiner Zeit als Ideale gelten, an denen einzelne Gruppen oder gar die allgemeine Übereinkunft Halt finden. Das Abendland, die Zivilisation, Heimat, Nation, Volk, Demokratie, der ganze Katalog unserer Gruppenideale – sie sind nicht dadurch zu retten, daß das Denken vor ihnen seine Waffen streckt. Aber die Kritik verbürgt ihre Erhaltung auch nicht allein. Sie kann nur in immer neuem Zugriff das Sowohl-als-auch erfassen, ohne dabei in ihrer Anspannung nachzulassen, ohne dem Irrglauben zu verfallen, sie könne jemals zu einem Ende gelangen, Ruhe finden, durch etwas anderes, etwas Definitives abgelöst werden. Auf diese Weise erhält sie die Gruppe, der sie angehört und die sie von innen wie von außen zu erkennen strebt, beweglich. Sie tritt der Tendenz zur Erstarrung entgegen. So wirkt sie konservativ, indem sie immer neue Unruhe stiftet.
Als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging, trat im deutschen Bürgerkrieg ein Waffenstillstand ein. Der Bürgerkrieg war dem Weltkrieg vorausgegangen, ja, er hatte ihn gezeugt, als die Mehrheit der deutschen Bevölkerung sich dem braunen Pöbelhaufen hingegeben hatte, der kriminelle und politische Motive wunderlich zu mischen verstand. Seine Ideologen teilten die Menschheit in Freund und Feind ein, und die Mitläufer hielten für ein universales Gesetz, was eine von der Existenz der Hitlerbewegung abstrahierte Idee war. Der Sieg der Alliierten nahm zwar den Nationalsozialisten die Macht, aber er konnte den Konflikt nicht lösen, der abgebrochen, doch nicht ausgetragen war. Die äußeren Gegner, nicht die Männer des Widerstandes hatten gesiegt, und so blieb es nach wie vor offen, welche politische Gruppe die große politisch desinteressierte Mehrheit mit ihrer Stimme betrauen würde. Mit der Entmachtung der Braunen und dem Hervortreten des anderen Deutschland hatte zwar die Majorität auch ihre politische Mündigkeit wiedergewonnen, doch erhielt sie diese als ein Geschenk, nach dem sie nicht verlangt hatte und das zu erwerben sie wohl schwerlich bereit gewesen wäre. Daran änderte auch die Entnazifizierung nichts, obwohl sie einen gewissen Zwang mit sich brachte, sich über die Beziehungen zum Nationalsozialismus klar zu werden. Als eine Verwaltungsmaßnahme der Militärregierungen konnte sie die notwendige Gewissenserforschung nicht ersetzen, verdarb hingegen das schüchtern aufkeimende Zutrauen zu den ersten deutschen Selbstverwaltungseinrichtungen.
Das Bewußtsein der Niederlage wurde durch den Eindruck von Rache mit undemokratischen Mitteln verdunkelt. Damit wollen wir nicht sagen, daß Sieger unverständlich handeln, wenn sie Rache üben. Am Ende eines solchen Krieges und angesichts der geöffneten Konzentrationslager muß im Gegenteil verdächtig erscheinen, wer nicht in Zorn und Empörung nach Schuldigen fahndet. Aber das entbindet nicht von der Prüfung der einzelnen Fälle und der Suche nach dem einzelnen Verbrecher. Auch ein verbrecherisches System handelt durch seine Einzelnen, und wenn diese Einzelnen als Teilhaber dieses Systems auch anders handeln, als sie als isolierte Einzelne handeln würden, so geht es doch nicht an, sie wegen ihrer Zugehörigkeit statt ihrer Handlungen wegen zu belangen. Daß die alliierten Mißgriffe in dieser ersten Zeit des Nachkriegs, die für viele, besonders junge Leute eine Zeit der Zukunftserwartung und voller Auftrieb war, daß die Mißgriffe in dieser Zeit nicht mehr Protest erregten, ändert an ihren ernsten Folgen nichts.
Die Pöbelherrschaft hatte zwölf Jahre gedauert, weil in der deutschen Bevölkerung eine vornationalsozialistische Bereitschaft lebte, Würde und Recht des Einzelnen dem „Ganzen“ zu unterstellen. Überall, wo Gruppen sich um eine Idee zusammenfinden, steht und fällt ihre Existenzberechtigung mit der Kraft, die sie an diese Idee wenden. Der Einzelne ist für die Gruppe nur als Ideenträger interessant. Alle anderen Eigenschaften, was er sonst ist und sein will, was in ihm lebt und aus ihm strebt, muß er außerhalb der Gruppe lassen, oder ihr unterordnen. Der Ideenträger, mag er noch so ernsthaft glauben, als ganzer Mensch seinem Gruppenziel zu dienen, ist doch nur ein Torso, ausgerichtet auf das Ziel seiner Gruppe. Diese Ausrichtung kann bei stark disziplinierten Gruppen so umfassend sein, daß sie sich auf das Verhalten außerhalb der Gruppe auswirkt. Von da her wird klar, wieso das Mißverständnis der Nationalität als eines fordernden und zu erstrebenden Ideales statt eines Sachverhaltes, in den man hineingeboren wird, so verheerende Folgen haben konnte. Die Selbstentäußerung um der Nation willen bedeutet notwendig menschliche Verarmung, und was dem Vaterland zugute kommen sollte, zerstört es. Es kann dabei unerörtert bleiben, in wieweit der deutsche Idealismus dem Versagen vor der materialen Welt, dem Manichäertum und der Konkurrenzangst entspringt. Da die Wechselbeziehungen Bürger und Nation durch das Idol einseitig überlastet sind, verliert der Einzelne seinen Halt gerade in dem Augenblick, da er ihn am dringendsten braucht.
Sichtbar wurde das dem deutschen Torso-Menschen aber erst mit dem Zusammenbruch des Staates. 1945, plötzlich auf sich selber gestellt, vermißte er nichts schmerzlicher als die Lebenslüge von der Volksgemeinschaft. Die Sieger konnten nichts besseres tun, um die bescheidenen Ansätze bürgerlicher Selbstbewußtheit zu zertreten, als dieses überspannte Nationalprinzip zu neuem Leben zu erwecken: sie erreichten es als Folge der Entnazifizierung. Weil diese Maßnahmen zum größten Teil nicht die Aktivisten, sondern die Politikfremden trafen, entschieden sie weniger etwas für oder gegen die Hitlerpartei, sondern gegen die Politik. Die idealisierte Nationalität hat nämlich mit Politik weniger etwas zu tun, als mit historischen und psychologischen Faktoren. In der gleichen Richtung wirkten sich die Vertreibungen der deutschsprachigen Bevölkerung aus Osteuropa und der Deutschen östlich der Oder und Neiße aus. Auch hier trafen Aktionen der Sieger Einzelne auf Grund ihrer Kollektivzugehörigkeit, die oft mehr Konvention als politische Haltung gewesen war.
Das dritte und entscheidende Element aber zeigte sich im Gegensatz der Sowjetunion zu ihren westlichen Verbündeten. Wenn alle anderen Eingriffe der Sieger als gemeinsame noch eine deutliche Linie zwischen den Deutschen aller Schattierungen einerseits und den Alliierten andererseits markierten, so mußte mit dem Augenblick, da sich die Alliierten in Parteien spalteten, auch der ruhende innerdeutsche Gegensatz wiedererweckt werden. Die neue Aera kündigte sich mit zwei Reden an, die Winston Churchill im Frühjahr 1946 in Fulton und im September des selben Jahres in Zürich hielt. In der ersten wurden Gegensätze zur sowjetischen Politik, die, wie wir jetzt wissen, schon in Jalta schwierig zu meistern waren, vor’s Publikum gebracht, in der zweiten Ansprache erfolgte der Aufruf zur Sammlung des Westens. Unter dem Motto der europäischen Einigung und der Partnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland verbarg sich die Notwendigkeit, das Konzert der europäischen Mächte unter der Stabführung Großbritanniens wieder zur Geltung zu bringen.
Churchills Programm, das über den Brüsseler Fünfmächtepakt Bevins in die Pariser Verträge von 1954 hinüberreicht, widersprach die Konzeption der Union Européenne des Féderalistes, die, ohne daß der Europa-Gedanke schon weitere Bevölkerungsteile in Deutschland ergriffen gehabt hätte, sozialreformatorische Ideen im Hinblick auf eine Weltunion vortrug. Europa sollte, ihrer Auffassung nach, Ost und West zu neuer Synthese verbinden, dabei sollten alle Staaten ähnliche Souveränitätsbeschränkungen auf sich nehmen, wie die Alliierten sie Deutschland auferlegt hatten.
Churchills Konzept rechnete dagegen stillschweigend mit einem Bund von Nationalstaaten, einschliesslich des deutschen. Die Föderalisten betrachteten Europa als Schlüsselmacht einer Weltunion, die britische Politik dachte diese Rolle Großbritannien in einer Verknüpfung des Commonwealth mit anderen Bündnissystemen zu. Die Sowjets hatten ihren Verbündeten schon 1942 erklärt, daß sie darauf angewiesen seien, freundliche Regierungen an ihren Grenzen zu haben. Als sie bei Kriegsende daran gingen, sie zu schaffen, stießen sie zunächst auf bloß formalen Widerstand der Westmächte. Das ermunterte die aggressive Fraktion im Kreml zu den Vorstößen des Jahres 1948, die ihr in Prag erfolgreich, in Berlin und Belgrad dagegen übel ausgingen. Schon ein Jahr früher hatte die Truman-Doktrin England seine Basis auf Zypern durch Hilfe an Griechenland und die Türkei gerettet.
In Deutschland dagegen ging der Trennungsstrich mitten durch das Land. Was immer an Teilungsplänen aus der Kriegszeit bekannt geworden ist, beruhte auf ganz anderen Voraussetzungen als die Trennung der militärischen Besatzungszonen, die nun einriß. Die in Potsdam vorgesehene Einheit der alliierten Verwaltung zerfiel. Da man immer klüger ist, wenn man vom Rathaus kommt, als wenn man erst hingeht, läßt sich heute sagen, das sei vorrauszusehen gewesen. In der Tat hat Molotow nie einen Zweifel darüber gelassen, daß er die im Potsdamer Abkommen vorgesehenen deutschen Zentralverwaltungen zur Durchsetzung der sowjetrussischen Interessen auf dem gesamten Gebiet des ehemaligen Deutschen Reiches bevorzuge gegenüber den föderalistischen Selbstverwaltungselementen. Daraus ein Interesse der Sowjetunion an der deutschen Einheit abzuleiten, wurde ein beliebtes Kunststück der prorussischen Propaganda in Deutschland. Es verfehlt seine Wirkung auch heute noch nicht, weil es offenbar sehr schwierig ist, einzusehen, daß das Russland von heute eine andere Macht darstellt als das Reich jener Zarin Katharina, der Friedrich II. von Preußen einst in überströmender Selbstlosigkeit den Rat gab, Österreich auf Kosten Polens zu beschwichtigen. Eine offene Frage bleibt es dennoch, was die Westalliierten hätten anderes tun können, als dem sowjetischen Vorgehen ihre Zonen zu verschließen, wie jene die ihrige vor den Westalliierten verriegelten.
Zwei Argumente jedoch verfangen gewiß nicht, auch wenn sie noch so beliebt sind: Es läßt sich aus dem Funktionieren der Viermächteverwaltung in Österreich nicht darauf schließen, daß sie in Deutschland auch hätte arbeiten müssen. Österreich ist kein Muster für Deutschland. Wer es meint, der vergißt das Ruhrgebiet und übersieht die Unterschiede in der strategischen Wichtigkeit beider Staatsgebiete.
Zweitens berechtigt die Verantwortlichkeit der Alliierten für die unsinnige Trennung der deutschen Zonen kaum zu der Hoffnung, daß sie sich gegen ihre Interessen für die Wiederherstellung des alten Zustandes einsetzen. Es ist in der westdeutschen Presse in den letzten Monaten Usus geworden, alle Tönungen des Erstaunens und Verwunderns bis hin zur Pose der beleidigten Diva darüber zu zeigen, daß die Welt sich für die deutsche Wiedervereinigung nicht in dem Maße interessiert wie wir als das betroffene Volk. Wenn diese, teils weinerlichen, teils bübisch drohenden Stimmen purer Naivität entsprängen, könnte man sie überhören, obwohl man dann zu raten hätte, wie sie auf die ersten Seiten ambitionöser Blätter kommen. Da sie aber wenigstens zum Teil von alten Füchsen stammen, muß man sich ernsthaft fragen, was diese sentimentale Maskierung des einfachen politischen Satzes soll, der davon handelt, daß Interessen nur in Übereinstimmung mit anderen stärkeren Interessen durchsetzbar sind. Solange die Sowjetunion und die Westmächte in gleicher Weise in Europa engagiert sind, wird man nicht damit rechnen können, ein drittes Interesse, und sei es das noch so berechtigte an der staatlichen Einheit der eigenen Nation, zwischen sie zu schieben. Jede Tendenz zur Durchsetzung einer solchen Absicht muß sich an eine der Mächte anschließen, die das Gebiet haben, und jede dieser Mächte wird eine derartige Zielsetzung solange und soweit unterstützen, wie sie darin ihre eigene Sicherheit gefördert sieht, keinen Deut weiter. Es ist ein alter Trick, die Interessen der anderen zu denunzieren, um die eigenen im Glanz edelmütiger Idealität besser voranzubringen. Man kann nichts dagegen einwenden, wenn jemand es versteht, seinen Gegner damit hereinzulegen. Der Erfolg gibt ihm recht. Aber was momentan in der Bundesrepublik geschieht, ist etwas ganz anderes: Die Menschen fangen an, an das alberne Geschwätz zu glauben, daß das deutsche Interesse sich vor anderen und über alles auszeichne! Hier gilt es den Anfängen zu widerstehen, nicht zuletzt um des eigenen lnteressens willen. Mit romantischer Negation des status quo ist nichts gewonnen, man kann vor ihr nicht genug warnen, aber auch von seiner Anerkennung darf nicht die Rede sein.
Der Zerfall des „1000jährigen Reiches“ nach zwölf Jahren und 3 Monaten entließ, wie wir gesehen haben, die beschädigten Ideenträger in eine Welt der Unordnung und Ungewißheit sondergleichen. Der Mensch ist nicht dafür gebaut, in diesem Zustand zu verweilen. Seine Energien richten sich auf Ergänzung und Ordnung der ihm umgebenden Natur, damit seine eigene Unvollkommenheit erträglich werde. Die Einrichtung des vorläufigen kleinstdeutschen Staates entsprach 1949 nicht bloß den alliierten Interessen, sondern auch dem der Bovölkerung. Die Bundesrepublik entstand aus vereinigten Wirtschaftsgebieten und wurde belebt mit der vielfarbigen Tradition der deutschen Länder. Ökonomisch wie politisch mußte sie als Provisorium gelten, weil sie weder in dieser noch in jener Hinsicht mehr als ein Notbehelf sein konnte.
Doch ließ sich das Provisorium überraschend gut an. Als rechtsetzende Institution befreite es die individuellen Energien von den außergewöhnlichen Belastungen der Kriegs- unid Nachkriegszeit und ermöglichte ihre relativ geordnete Konkurrenz ohne zuviel Staat. Zwar erhob sich schon Anfang 1950, also kaum vier Monate nach der Bildung der Bundesrepublik die von den Spannungen der Weltpolitik diktierte Frage nach dem Militärbeitrag, den sie zu leisten imstande wäre, aber erst allmählich wurde deutlich, daß dieses Provisorium gewisse Möglichkeiten nicht mehr in sich barg: Die Aussicht zu einem europäischen Bundesstaat in der ursprünglich geplanten Ost und West verklammernden europäischen Union zu werden, hatte die Bundesrepublik nie, und sie hatte auch nicht die Aussicht auf den Beitritt der sowjetisch besetzten Länder, obwohl das Grundgesetz diese Möglichkeit ausdrücklich vorsieht. Sie war vielmehr aus der Notwendigkeit entstanden, eine staatliche Form zu finden, obwohl und weil die Auspizien für die Einheit Deutschlands in den Grenzen von 1937 ebenso schlecht standen wie eine für eine europäische Föderation einschliesslich Polens und der Tschechoslowakei.
Die Gründung der Bundesrepublik war weltpolitisch das – vielleicht allzu frühe – Eingeständnis der Unlösbarkeit der deutschen Frage für die nähere Zukunft. Sie hat sich nicht dazu entwickelt, sie war es von Anfang an. Daneben aber war und ist sie eine staatliche Zuflucht für die Nation. Was dem Sinne nach in der ersten Hitlerzeit Prag, Wien, Zürich und Straßburg für die deutsche Tradition leisteten, das muß heute Berlin, das muß die Bundesrepublik fortsetzen. Die Kräfte dazu kann sie nicht aus sich selbst, sie muß sie aus dem europäischen Zusammenhang beziehen und aus der Nation, die stets „mehr“ zu sein scheint, als der Staat, ob er nun Großdeutsches Reich heißt oder viele andere Namen hat. Daß die Unruhe darüber bleibt, das ist gut und wichtig nicht bloß für West-, sondern ebenso für Osteuropa, zu dem Deutschland eben auch gehört. Seitdem Moskau die osteuropäischen Staaten dazu gezwungen hat, sich dem Marshall-Plan zu versagen, hat der Westen mehr und mehr sich Alternativen der Sowjets angepaßt – auch da, wo es möglich gewesen wäre, das Sowohl-als-auch zur Geltung zu bringen. Es fehlt diesseits von Wall und Graben offensichtlich an Vertrauen in die Überzeugungskraft derjenigen Bestandteile unserer Kultur, die sich der Organisation entziehen, die vor- und überstaatichen Gesellungen, Kunst, Literatur, Musik gehören dazu. Statt sie in ihren Ausstrahlungen nach Osten zu unterstützen, verläßt man sich, weil es kontrollierbarer, aber dafür auch ziemlich nutzlos ist, fast allein auf die Proklamation staatlicher Ziele in Idealkonkurrenz mit den Sowjets. Wie sollte denn die Forderung nach freien gesamtdeutschen Wahlen ihren Sinn erhalten, wenn nicht dadurch, daß man mit diesem, dem Kreml unzumutbar erscheinenden Verlangen den Gegner in der Weltmeinung herunter setzen will? Es kann doch nicht im Ernst von den Sowjets erwartet werden, daß sie darauf eingehen, nachdem sie die in Jalta getroffenen Abmachungen für demokratische Wahlverfahren in Osteuropa bedenkenlos gebrochen haben, um sich in den Besitz dieser Gebiete zu setzen.
Die Unabhängigkeit Polens und die Einheit Deutschlands sind so untrennbar miteinander verknüpft, das eine wird ohne das andere nicht zu erreichen sein. Die Meinung der deutschen Öffentlichkeit wird freilich in andere Bahnen manipuliert, Erstarrung und Verstrebung des Provisoriums erscheinen als Haupttendenzen. Wie könnte es anders sein. Der gehobene Lebensstandard brachte der Regierung Adenauer den unglaublichen Wahlsieg vom September 1953, den man ein Plebiszit der vollen Bäuche genannt hat. Die Bezeichnung trifft, doch ist sie kein Argument gegen die Wähler, noch gegen die Gewählten. Ganz im Gegenteil. Nationaler Heroismus tritt als Erscheinung des Mangels auf. Er kann Mängel in der Bedürfnisbefriedigung bis zu einem gewissen Grad kompensieren. Er beweist der Bevölkerung ihren Lebensmut trotz ihrer unsicheren Lage. Deswegen fördern ihn Regierungen, die Anlaß dazu haben, für schlechte Butterversorgung zu entschädigen. Nicht umsonst gehört der „Schmachtriemen“ zu den Requisiten des totalen Krieges wie zu denen aktivistischer Verbände, aber eben nicht zu den Utensilien der parlamentarischen Demokratie. Die Kritik an jenem Wahlergebnis könnte darum eher von einem Vergleich der Lebenshaltung des Bundesdeutschen mit der des Engländers ausgehen und etwa anführen, daß auch heute noch ein – durchschnittlicher – Stundenlohn dort sechs und hier nur zweieinhalb kg Mehl, dort drei und hier nur ein kg Zucker, dort drei und hier nur ein halbes kg Margarine einbringt und dann weiterforschen, warum schon ein so niedriger Lebensstandard die Massen zu einem derartigen Votum führt. Gaben sich die vollen Bäuche etwa allzu schnell zufrieden? Versank der Geist zu früh in der Materie, als daß man ihm trauen könnte?
Hier eröffnen sich Perspektiven, aus denen die Europabegeisterung wie das konventionelle Bekenntnis zur deutschen Wiedervereinigung sich anders ansehen, als wir uns schmeicheln. Der Europagedanke war in seinen deutschen Nachkriegsanfängen die Angelegenheit einer dünnen Schicht von Intellektuellen verschiedener politischer Richtungen. Wie demoskopische Untersuchungen ausweisen, gewann er noch vor der Geldumstellung Anhänger im Geschäftsbürgertum, das stark an der Öffnung der Grenzen interessiert war. Mit der Gründung der Bundesrepublik wurde er zum Regierungsprogramm und als solches popularisiert. Verbunden mit der erfolgreichen Wirtschaftspolitik akzeptierten ihn weite Kreise jener beschädigten „Idealisten“, die Ideen an ihrer Quantität messen, als Leitbild. Hat nicht Nietzsche es kommen sehen? In seinem Nachlaß kann man lesen: „Sie nennen die Vereinigung der deutschen Regierungen zu einem Staat eine ,Große Idee‘. Es ist dieselbe Art von Menschen, welche eines Tages sich für die Vereinigten Staaten Europas begeistern wird: es ist die noch ,größere Idee‘.“ Das Bild rundet sich, wenn man hinzufügt, daß dieselbe Sorte von „Europäern“ nichts weiß von den Schwierigkeiten, noch von den Notwendigkeiten, noch von der in Luxemburg und Straßburg wirklich für die europäische Kooperation geleisteten soliden Arbeit. Diese Analyse besagt natürlich weder über die Konzeption der europäischen Zusammenarbeit etwas, noch geht aus ihr hervor, daß es anders sein könnte. Wie der Mensch seine Lebenslüge, so brauchen Völker ihre Illusionen, die sie zusammenhalten. Aber: es wir doch deutlich, dass das vielzitierte „europäische Bekenntnis“ nicht eine Abkehr von der alten Denkform, sondern deren gerade Fortsetzung zu sein scheint. Man wird demnach das französische Mißtrauen in die deutsche Art von Europabegeisterung nicht zu leicht nehmen dürfen. Ihre scheinbare Selbstlosigkeit wird, wie schon die Saardebatte zeigt, in der Durchführung der Pariser Verträge mehr und mehr abblättern, und es ist noch nicht heraus, ob die zögernde, das Für und Wider in deprimierender Beratung abwägende Haltung der Franzosen sich nicht eines Tages als nützlicher für den Kontinent erweist als deutsche Putzsucht mit Ideen, die vielfach bloß dem Versagen vor der Materie oder verklemmter Sexualität entstammt.
Der Europagedanke ist kein kriegerisches Ideal. Selbst die Idee des „Karlsbundes“ bezieht ihre Rechtfertigung aus der Existenz eines gesicherten Reiches, das der Erhaltung, aber nicht der Expansion bedarf. Seine Gefährlichkeit für äußere Feinde liegt in der Anziehungskraft imperialer Ordnungen, nicht in etwaigen übergriffen. – Man sieht nicht recht, ob sich die Amerikaner stark genug fühlen, die Konsequenzen auf sich zu nehmen, die daraus auch für ihre Politik entstehen können. – Es fällt deswegen leicht, seine regressiven Züge, besonders im Zusammenhang mit der Gesangsbuchbürokratie darzustellen. Aber eine Opposition, die sich allein darauf stützte, käme nicht weit. Ihre Bedingtheit durch außerideelle Faktoren wäre bald durchschaut. Was liegt da näher, als die Idee der nationalen Einheit zum Parteiprogramm zu machen? Auch sie verspricht enttäuschten Idealisten Halt, Sicherheit, etwas Endgültiges, sie hat im laufe der letzten Jahrzehnte auch die Arbeiterschaft die Bauern erfaßt. Sie vereint, von der jüngeren Generation vielleicht abgesehen, alle Altersschichten. Da keine Nation eine Spaltung wie die deutsche anerkennen kann, enthält sie auch ein auf Änderung bedachtes, militantes Pathos. Überdies ist der Nationalstaat immer ein Kind der Demokratie gewesen. Seiner erneuerten Proklamation haftet also nicht der Verdacht des „Reaktionären“ an, und wer diesen Verdacht aus der deutschen Historie dennoch nährt, muß sich darüber belehren lassen, daß es jetzt die Linke ist,die den Nationalstaat auf ihre Fahnen geschrieben hat, mit vielen klugen Gründen. Doch auch in dieser Haltung der Opposition ist nicht alles progressiv, was sich dafür ausgibt. Sehen wir davon ab, daß die außenpolitische Position der Soziaklemokratie mit ihrer propagandistischen Alternative Wiedervereinigung oder europäische Kooperation, wie sie in der Remilitarisierungsfrage zum Ausdruck kam, von 22% Befragter unter ihren Wählern nicht unterstützt wird, wie umgekehrt 24% CDU-Wähler erklärten, die Wiederbewaffnung erhöhe die Kriegsgefahr – so mahnt noch genug zur Vorsicht mit solchen Appellen an das Nationalgefühl.
Am schwersten wiegt, daß die Forderung nach Wiedervereinigung, wie sie im Parteienalltag erhoben und weithin verstanden wird, jenen idealistischen Nationalismus anspricht, der in der Nation in erster Linie Entlastung von der persönlichen Verantwortlichkeit, Ausrichtung und Befreiung von der Konkurrenz (etwa durch Berufsordnungen), Verbesserung der eigenen Marktchance sucht. Nun ist die Sehnsucht nach Aufhebung der Entfremdung, die ja auch daraus spricht, ein ursprüngliches Anliegen, das es immer geben wird, nur: Die Nation, geschweige denn der Staat, können es nicht befriedigen. Im Wissen vom Provisorischen der Bundesrepublik ist diese Weisheit enthalten, aber in der unausbleiblichen Negation des Provisoriums steckt auch der verführerische Gedanke, das könne im wiedervereinigten Deutschland anders sein. Da es sich dort als ein Irrtum herausstellen wird, wind der Raum der Erwartung erweitert. Im Wiedergewinn der verspielten Ost-Gebiete erhofft man dann das Endgültige, Erlösende und so weiter bis in jenen Mystizismus hinein, der im deutschen das „Erntevolk der Menschheit“ sieht. Man sollte darum das Politische als das Provisorische schlechthin begreifen lernen. Ein Volk, das an den ewigen Staat glaubt, geht in die Irre, mag es sich noch so demokratisch gebärden, es geht in die Irre. Wieweit wir auf diesem Holzweg schon sind, zeigt nichts deutlicher als die Beziehung der Bundesbürger zu den Leuten aus der Sowjetzone. Es ist in dieser Zeitschrift schon nach dem Aufstand des 17.Juni davon die Rede gewesen, als Rudolf Pechel den Brief eines enttäuschten Arbeiters von drüben abdruckte, und es wird noch oft und oft davon gesprochen werden müssen: Je lauter das Wiedervereinigungspathos in diesem Lande erschallt, desto offensichtlicher wird das Versagen von der materiellen Aufgabe, menschliche Solidarität zu beweisen. Die einzelne Tat und Beziehung, nicht das kollektive Programm zählt.
Aber freilich, wenn man sich am Gruppenideal berauscht, verfällt man leicht dem Irrtum, damit sei’s getan. Aber das was getan werden muß, politisch und menschlich, das kann kein Staat und keine von staatswegen errichtete „Volksbewegung“ tun. Er vermag, durch das Parlament veranlaßt, diese oder jene gesetzliche Handhabe zu geben, wenn’s hoch kommt, Mittel aus dem Haushalt bereitzustellen. Aber jene Wirksamkeit, die den Leuten drüben und den Flüchtlingen hier hilft, kann er kaum entfalten. Der Einzelne kann es. Er leistet Hilfe zwar als Angehöriger der selben Nationalität, aber aus Kräften, die über diese Beschränkung hinausgehen und nicht in der Illusion, damit etwas Endgültiges zu erreichen. Sein geschmeidiges Denken, seine Beweglichkeit vor der konkreten Aufgabe ist der plumpen und ungefügen Anschauung der Gruppe weit überlegen. Er vermag sich zwischen den ideologischen Klötzen hindurchzubewegen, wo jene bloß gegeneinander verkantet stehen. Er entspannt so die erstarrten Denkfronten und bringt die Realität zur Geltung. Das ist es auch, was aus dem Provisorium als politischer Lebensform im besten Falle gemacht werden kann.