Red. Journalistische Ethik kann nicht nur Journalisten interessieren. Sie lehrt Grundsätze einer verantwortbaren Herstellung öffentlicher Information und Diskussion. Von ihrer problematischen Durchsetzung im Zeitalter der Massenkommunikation handelte der Festvortrag zum Abschluss des ersten Kurses an der Journalistenschule St. Gallen: Harry Pross, ehemals Professor für Publizistik an der Freien Universität Berlin und selbst Dozent an der St. Galler Schule, wies den Journalisten die Rolle von »Anwälten der Urteilsfindung« zu. Wir publizieren das Referat in leicht gekürzter Form.
Als ich 1945 mein erstes Manuskript zur Zeitung trug, sagte mir der Redakteur: »Die Feder ist mächtiger als das Schwert.« »Das hörte ich gerne, denn ich hatte mich, wenn auch nicht gerade mit dem Schwert, so doch mit anderen Kriegswerkzeugen versucht und sie eher unpraktisch gefunden. Nun war ich 22, ziemlich beschädigt, ohne Ausbildung, eben »noch einmal davongekommen«; aber ganz
ohne Antwort auf die Frage: was sollen wir tun? Ich hatte von Kindesbeinen an viel gelesen, in der Schule gerne geschrieben, Aufsätze, aber auch Gedichte gemacht, doch war im Krieg mein rechter Arm unbrauchbar geworden. Ich konnte die Feder, die angeblich so mächtige, nicht mehr halten. Worin denn die Übermacht der Feder über das Schwert bestünde, wollte ich wissen. Im Zugriff auf das Vorbewusste antwortete Dr. Zachäus hinter seinem Schreibtisch. Dieses Vorbewusste sei als »Es« in allen Menschen und könne durch das Betrachten eines Bildes oder die Lektüre einer Zeile plötzlich bewusst werden und das Ich verändern.
Ah, sagte ich, wenn einem ein Licht aufgeht, so ein Seifensieder. Ja, antwortete der Journalist, den Leuten ein Licht aufstecken, damit sie ihre Situation richtig beurteilen können.
Soso, wo waren denn dann die Journalisten in den zwölf Jahren, die wir gerade hinter uns haben? Sie waren nicht frei. Nicht frei, was heisst denn das, wenn die Feder mächtiger ist als das Schwert? Ich erinnerte mich, bei der Schriftstellerin Annette Kolb gelesen zu haben, dass die Opfer des Ersten Weltkrieges wohl zu vermeiden gewesen wären, wenn man vorher ein paar hundert kriegshetzerische Journalisten, gehenkt hätte – in allen Ländern.
Dieses war mein erstes Gespräch über journalistische Ethik. Erst später lernte ich, dass die Lehre vom Vorbewussten auf den Psychoanalytiker Groddeck zurückging, der im »Es« neben dem Vorbewussten und dem Tätigwerden durch bewusstes Wahrnehmen auch das Verdrängte lokalisierte, das, vom Ich abgespalten, eine wichtige Rolle daneben spielt.
Noch später begriff ich, dass die Arbeit mit der Feder sowohl Nichtbewusstes bewusst machen kann, was ihre aufklärerische Funktion ist, wie sie auch dazu beitragen kann, gewisse Vorstellungen ins »Ünbewusste« zu »verdrängen«, indem sie diese Vorstellungen als peinlich beschreibt. Und wieder später lernte ich, dass solche Veränderungen unter allerlei Larven und Masken ins Bewusstsein zurückdrängen und für die Spannungen, Widersprüche und Fehlhandlungen mitverantwortlich sind, die den Stoff bilden, aus dem der Journalist seine Nachrichten macht. Da wurde mir dann klar, dass das Handwerk mit der Schreibmaschine, die an die Stelle der nicht mehr handhabbaren Feder getreten war, eine Arbeit ohne Boden ist: das Hin und Her, das die Menschen veranstalten,
um zur seelisch-geistigen Einheit zu gelangen, die sie dann als Ich bezeichnen, dieses Hin und Her von Mitteilung und Antwort bringt immer neue Erscheinungen hervor, die man vorher nicht für möglich gehalten hat, nicht für erlaubt, nicht für wahrscheinlich.
Als ich das bemerkt hatte, wurde ich neugierig und begann, das Unwahrscheinliche, das Unerhörte, das Un-fassbare in Betracht zu ziehen und gegenüber Theorien und allen Hypothesen vorsichtig zu sein. Ein gewisses Misstrauen gegen das, was »man« mit dem Brustton der Überzeugung vertritt, hatte sich schon in der Erfahrung der Kriegsjahre gebildet. »Man« war in seiner ungenauen Allgemeinheit ein Schlüsselwort für das Mitmachen im Dritten Reich gewesen. Es war durch genaues Nachfragen wer, wann, wie, wo aufzulösen, wenn deutlich werden sollte, was »man« bedeutete. Wollte ich wissen, was ist, die Situation der Menschen erkennen, durfte ich mich mit dem, was »man« tat, sagte, konsumierte, nicht zufriedengeben, sondern musste vom Vorhandenen auf das mein Augenmerk richten, was erst entstand. Da war im Verhalten der Deutschen, aber auch der Besatzungsmächte ein deutlicher Widerspruch zwischen dem was »man« angab, dass sein sollte, und dem,
was unter der Geltung dieser Grundsätze praktiziert wurde. Ich begriff als junger Beobachter der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse 1946 und des französischen Prozesses gegen die Industriellen Röchling in der barocken Pracht des Schlosses von Rastatt, das ich im März 1948 durch ein farbenprächtiges Spalier afrikanischer Paradesoldaten betrat, dass Normen nicht etwas Feststehendes, Absolutes, Wahres sind, sondern in Verfahren erzeugt werden, und der Schluss lag nahe, dass ihre Vernunft erst durch die nach ihnen Handelnden ans Licht kommt oder widerlegt wird. Die Praxis entscheidet über Wahrheit und Falschheit von Normen, denn sie macht deutlich, was an Geltung sich durchsetzt.
Ethik ist die Lehre von den Grundsätzen des richtigen Handelns. Wie aber, wenn diese Grundsätze nicht gleich sind, sondern relativ zu unterschiedlichen Interessen, die sich wiederum aus der Verschiedenheit der Menschen, ihrer Charakterqualität, ihrer sozialen Situation, dem Status, den Spannungen zwischen Vorbewusstem, Verdrängung und Wahrnehmungsbewusstsein, Nationalitäten, Bildung, Religion, Glaubenkönnen und Glaubenwollen und
dem jeweils empfundenen Mangel sich ergaben? Durch den Umgang mit den Widersprüchen lernte ich in den Nachkriegsjahren, als ein Soziologiestudent, der seine 25 Mark Kriegskrüppelrente durch Schreiben für Zeitungen, Zeitschriften und Radio aufbesserte, dass Werte sowohl in der jeweiligen Situation aufscheinen, wie sie in den Vorstellungen der beteiligten Menschen leben. Die Situation fordert zum angemessenen Handeln auf; aber wie dann Aktivität sich äussert, bringt ans Licht, welche Werte im Kopf und in der Seele der Subjekte leben und wie sie geordnet sind vom höchsten Wert in der Hierarchie des Geistes bis zum untersten Unwert. Sie sind von oben nach unten geordnet. Und niemand kann dem einzelnen die Aufgabe abnehmen, Prioritäten zu setzen und sich als der zu erweisen, der er ist, er oder sie für sich und nicht »man«.
Wer nun tut, was »man« tut, braucht sich dieser Qual der Bewertung nicht auszuliefern; aber er oder sie setzt sich auch nicht mit der Umwelt, in die er hineingeboren worden ist, aus-ein-an-der, entwickelt seine Persönlichkeit, sein unverwechselbares Subjekt nicht. Er ist arm dran und hat keinen Anteil an der Wertfülle des Lebens
und deren Differenzen. Was gewöhnlich »Vermassung« genannt wird, ist nichts anderes als die Unfreiheit, die aus der Indolenz gegenüber den Werten sich ergibt und der Gleichgültigkeit gegenüber dem Entscheidungsappell, den sie an uns richten.
Die Psychologie spricht in diesem Zusammenhang vom »Aufforderungscharakter« der Werte und meint damit die Irritation, der wir unterliegen, wenn wir sehen oder hören oder schmecke fühlen, dass nicht ist, was sein soll, oder ist, was nicht sein soll. Natürlich gibt es da leicht irritierbare Leute, die rasch der Zweifel plagt, und solche mit dickem Fell, die der Glaube an das Normale behaglich durch die Jahrzehnte trägt. Den ersten Typus wird immer die Frage beunruhigen, ob er richtig wahrgenommen und die Werte gerecht beurteilt hat, den anderen lenkt der Glaube an die Verlässlichkeit seiner Grundrelationen.
Nach meiner Erfahrung sind Journalisten, Schriftsteller und Wissenschaftler meistens vom ersten Typ und deshalb im Umgang eher schwierig. Der Umkehrschluss ist freilich unzulässig: nicht jeder nervöse Spinner ist schon ein guter Journalist, und die professionelle Skepsis disqualifiziert, wo sie in Zynismus umschlägt. Die Grenzen sind klar zu erkennen, wo die Werte des Lebens (Menschenrechte), der Willensfreiheit, des Bewusstseins, der Antizipation
und Wertsicht missachtet und die Charakterqualitäten der Selbstdisziplin, der Aufrichtigkeit, der Achtung, der Wahrheitssuche und der Verlässlichkeit als pure Mache praktiziert werden.
Wo die ethischen Werte als solche nicht geleugnet werden, liegt eine »de-formation professionelle« vor, die sich leider daraus ergibt, dass der Journalismus nicht nur dazu dienen kann, »im Zugriff auf das Vorbewusste« dem Publikum Lichter aufzustecken, sondern über diesen Zugriff ganz andere Zwecke zu verfolgen, die dann einer utilitaristischen, politisch perfektionistischen oder sonstwie begründeten Ethik dienen und gerade nicht dem autonomen Wert der Vernunft.
Journalisten handeln, indem sie Aufgeschriebenes, Fotografiertes, Gefilmtes, Gezeichnetes veröffentlichen. Die Zahl der dazu verfügbaren Medien nimmt ständig zu, ihre Techniken werden immer raffinierter. Die technische Entwicklung folgt dem Prinzip, über immer weitere Räume in immer kürzerer Zeit immer mehr Menschen mit derselben Botschaft zu erreichen: Die Signalökonomie hat die politische Ökonomie überholt, und wir müssen uns fragen und fragen lassen, was die Mitteilungsschwemme für die Ökologie bedeutet. Nicht nur die einzelne Kommunikation, auch die Ritualismen
ihrer Verteilung greifen in die sozialen Verhältnisse ein und besetzen die subjektive Lebenszeit von Millionen, indem sie Aufmerksamkeit erzwingen.
Für den Journalisten bedeutet diese Institutionalisierung seiner Arbeit, dass er sich prüfen sollte, ob das, was er mitzuteilen hat, die Aufmerksamkeit der Menschen wert ist, die er dank der Reichweite seiner Agentur, seines Blattes, seines Programms erreicht. Was habe ich zu sagen, zu schreiben, zu zeigen, dass es drei oder auch dreissig Minuten multipliziert mit der Zahl der Leser, Hörer oder Zuschauer wert ist?
Vor ein paar Wochen sahen Millionen Europäer im Fernsehen, wie der Tennisprofi Boris Becker dem Papst einen Tennisschläger Marke »Puma« überreichte. Am anderen Tag konnten diejenigen, die kostbare Minuten aus ihrer unwiederbringlichen Lebenszeit für diesen Anblick geopfert hatten, das gleiche Bild noch einmal in ihrer Zeitung sehen. Der Sportartikelhersteller wird sich über diese Plazierung die Hände gerieben haben, und die Unterhaltungsindustrie, zu der der Berufssport zählt, wird nicht unglücklich darüber gewesen sein, das Oberhaupt der Katholischen Kirche für ihre Werbung abgelichtet zu finden. Aber ist es journalistisch richtig, den Papst mit dem Produkt einer Sportmittelfabrik zu identifizieren? War die
Übergabe des Schlägers eine Nachricht für Millionen? Hat sie zur Kommentierung aktueller Ereignisse beigetragen, die Entwicklung des Gemeinwesens gefördert, den öffentlichen Geschmack überwacht? Solche Fragen an die Medien verweisen auf deren soziale Funktion, aus der sie ihre öffentliche Aufgabe ableiten, die in den demokratischen Verfassungen durch die Meinungsfreiheit privilegiert ist.
Die Welt hat sich durch die Atomphysik in den letzten fünfzig Jahren ungeheuer verändert. Wichtiger aber noch, weil durch sie die Lebensqualität global verändert wird, ist die elektronische Revolution mit ihren Mitteln der globalen Vernetzung und Massenkommunikation. Damit stehen – wie mein Soziologielehrer Alfred Weber 1946 schrieb – »jeder Führerclique, die auf bürokratischer Zusammenfassung grosser Massen ruht…, heute sämtliche modernen technischen Nachrichtenmittel täglicher, ja stündlicher Massenbeeinflussung zur Verfügung, die, geschickt verwendet, zur Emotionalisierung und zur Urteilslähmung benutzt werden und die Ausschaltung der Spontaneität und Urteilsfindung der einzelnen, die in den bürokratischen Grossformationen schon vorgebildet scheint, vollenden können«.
Die Journalisten haben als erste dafür zu sorgen, dass dies nicht geschieht. Sie sind Anwälte der Spontaneität und der Urteilsfindung. Unser Beruf war nie so verantwortungsbeladen wie heute.