Der bolzengerade Jaspers war eine imposante Figur; aber nicht geeignet, Herzen zu gewinnen. Sie flogen einem anderen zu, den wir nie gesehen hatten, einem, der auch »aus dem Krieg« kam, nicht aus dem grauen Haus gegenüber der Universitätsbibliothek in der Plöck: Albert Camus.
»Vier Briefe an einen deutschen Freund« eines Algerien-Franzosen, der seinen elsässischen Vater im Ersten Weltkrieg verloren hatte. Wie wir — gab es »uns« ? — war er in die Epoche der Weltkriege hineingeboren. »Geworfen« war der Ausdruck der modischen Philosophie, ohnmächtig, zu Abwegigem verurteilt in widersinnigen, unvernünftigen Zeitläuften.
Alle waren dabei, keiner war dafür. So schien es im nachhinein. War wirklich keiner dafür? Das ließ sich nicht halten. Auch schon Mittun, Dabeisein, Mitmarschieren, und wenn nur im Rechteck des Exerzierplatzes hieß doch, für diese steife Verunstaltung der menschlichen Würde da sein. Wie es Leute gab, die gerne im Rechteck marschierten, so andere, die gerne flogen, auf dem Motorrad flitzten, im Panzer dahindonnerten, oder Schiffchen fuhren, über oder unter Wasser. Tätigsein verscheuchte die Ahnung der Vergeblichkeit.
Mittun verband den tätigen Moment mit einer metaphysischen Ewigkeit, wie »das Reich«, oder, immer bedroht und daher stets verteidigungsbedürftig, »das Vaterland«. Die Akzente dieser Ewigkeiten lagen verschieden: beim »Reich« in der Kontinuität des Traums von Karl dem Großen und Kaiser Rotbart Lobesam, beim »Vaterland« in der fortgesetzten Tätigkeit der Verteidigung. Aber das Reich als Vaterland und das Vaterland als Reich verband die beiden Perspektiven und die Tätigkeit mit dem Traum von der kommenden Ewigkeit.
Den Abschied von dieser mörderischen Ideologie erleichterte Camus. Er hatte nichts von der angestrengten Siegerpose der kleinen dicken Besatzungsfranzosen mit ihren Korporalsstöckchen, nichts von der aufgesetzten Geschäftigkeit rotierender Verdrängungsmechanismen und auch nichts von der wehleidigen Rechtfertigungssucht unserer eigenen Väter, die wir selbst im gedanklich so richtigen Rückzug der Jasperschen Philosophie auf die elementare Kommunikation noch witterten.
Der Stachel saß tief: wer überlebt, ist schuldig. Da hatte Jaspers im August 1945 recht: »Wir haben es vorgezogen, am Leben zu bleiben mit dem schwachen, wenn auch richtigen Grund, unser Tod hätte doch nichts helfen können.« Wie aber damit weiterleben, daß weder Tod noch Leben »helfen können«?
Camus war generös. Ein Partisan, ein Journalist, der gegen die deutsche Militärmaschinerie das Leben gewagt, aber nicht verloren hatte, gab dem »Dennoch« die Sprache zurück: Nichts ist es mit der Hoffnung auf ein besseres Jenseits, nichts mit der Selbsttäuschung durch Hingabe an die Ideologie, nichts mit dem Tätigkeitsdrang um seiner selbst willen. Das Absurde ist das Alpha und das Trotzdem das Omega.
Bestätigte er den Trotz der Generation? Wohl auch. Sein früher Tod i960 sah sie inzwischen eingerückt, wiedereingerückt in soziale Positionen, in Deutschland schon hinter dem »Ohne mich!« zur Remilitarisierung; aber noch immer hielt sich in manchen Köpfen Camus‘ Mahnung von 1945: »Dem Haß nicht nachgeben, der Gewalttätigkeit kein Jot zugestehen, nicht zulassen, daß unsere Leidenschaften blind werden – das ist es, was wir inskünftig gegen das Hitlertum und für die Freundschaft tun können.«
Wer wußte nicht, was Angst ist? Jene Beklemmung, die den Puls in die Höhe trieb, bis er sauste, lähmend und treibend zugleich. Der Gestank, den die Gruppe vor dem Gefecht verbreitete. Der Kamerad, der die Hosen voll hatte, und sich gegen alle Regeln der Vorsicht dem Feind entgegenstürzte. Und fiel.
Man bringt sich um, weil ein Leben in Angst sich nicht lohnt. Wenn die anderen wüßten — aber selbst die Überlebenden wußten es nicht. Der Heldentod fürs Vaterland, der Selbstmord auf der Flucht vor den Vaterlandsverteidigern, den Mord erwartend von den Exekutionskommandos der »öffentlichen Sicherheit«, deren Hüter dann meldeten: »Nur durch den ununterbrochenen und unermüdlichen Einsatz sämtlicher Kräfte ist es gelungen, insgesamt 56065 Juden zu erfassen und nachweislich zu vernichten. Dieser Zahl hinzuzusetzen sind noch die Juden, die durch Sprengungen, Brände usw. ums Leben gekommen, aber nicht zahlenmäßig erfaßt werden konnten.« So im Bericht des verantwortlichen SS- und Polizeiführers Stroop, »Es gibt keinen jüdischen Wohnbezirk in Warschau mehr!«, abgedruckt in »Die Wandlung«, Heft 6/1947, vier Jahre nachdem ich im »unermüdlichen Einsatz« ein paar hundert Kilometer ostwärts von Warschau an der Düna lag.
Wer einen dieser Tode überlebt hat, hat sie alle überlebt, das heißt aber, sie sind in sein Überleben eingegangen. Jaspers sprach von »Grenzsituationen«. Camus schiebt das alles beiseite. Nicht die Sinnlosigkeit von Leben und Tod ist das Problem. Das Absurde entsteht aus der Gegenüberstellung des Fragenden mit der Welt, die »vernunftwidrig schweigt«.
Damit konnten junge Überlebende mit vergleichbaren Erfahrungen in verschiedenen Lagern etwas anfangen. Nie übrigens wurde der Begriff des Lagers in seiner Vieldeutigkeit verständlicher als nach der Öffnung der Konzentrationslager und in den Monaten, als sich neue weltpolitische »Lager« herausbildeten, indem die Alliierten sich mit Stacheldraht gegeneinander abgrenzten. Man mußte sich vor der neuen Lagermentalität hüten. Camus zeigte den Ausweg der Freiheit, in einer widersinnigen Welt, voller sinnloser Handlungen und unsinniger Zwänge nicht auszuweichen, hartnäckig zu sein, gegen den Gipfel zu kämpfen wie Sisyphos. Man habe sich ihn, im Bewußtsein des Absurden als einen glücklichen Menschen vorzustellen.
Camus hatte 1942 im Untergrund geschrieben. Als seine Lehre bruchstückhaft bei den Besiegten ankam, hatte sie die moralische Kraft nicht eingebüßt. Es ging nicht darum, die Sinnlosigkeit des verlorenen Krieges in der Annahme allgemeiner Sinnlosigkeit aufzuheben. Das wäre zu billig gewesen. Zu kämpfen war für die Nuance, die Opfer und Mystik, Kraft und Gewalt voneinander schied. So Camus im Juli 1943 an einen deutschen Freund, als er noch glaubte, Frankreich werde nach seiner Niederlage 1940 eine lange Zeit nicht verzweifelnder Geduld brauchen, »revolte atten-tive«, um das kul-
turell nötige Prestige zurückgewinnen. In einer Zeit breiter Kollaboration mit den Deutschen also, besonders unter den französischen Intellektuellen. Nicht umsonst hatten die Deutschen ihren Ernst Jünger abkommandiert, hoch zu Roß die Wachparade über die Champs-Elysees anzuführen. Nicht umsonst lebten die Besatzer wie »Gott in Frankreich« (Sieburg 1929). In der ganzen Wehrmacht war ein Frankreichkommando der Traum der Muschkoten gewesen.
Wenn Camus »wir« sagte, meinte er aber nicht die französische Nation, und wenn er »ihr« schrieb nicht die deutsche. Er unterschied zwischen dem »freien Europäer« und dem »Nazi«. Das verlangte, Klarheit zu schaffen über die Unvereinbarkeit der Europavorstellungen. »Ich bekämpfe Sie«, so 1944, als das deutsche Imperium auch seinen Träumern sichtbar zusammenbrach, »weil Ihre Logik kriminell ist wie Ihr Herz. Und in dem Schrecken, den Sie vier Jahre lang verbreitet haben, war Ihre Vernunft ebenso abwesend wie Ihr Instinkt. Deshalb werde ich Sie ganz verurteilen, Sie sind in meinen Augen schon tot.«
Die Nuance zwischen dem Defätismus, der Abdankung von Vernunft und Instinkt zugunsten der herrschenden Verhältnisse, und dem Widerstehen entscheidet alles. Darum konnte Camus nicht von Nationen sprechen. Sein Vertrauen in das Glück, in den Menschen trotz dessen absurder Lage, ließ ihn zum übergeordneten Begriff des Europäers greifen.
Aber die europäischen Legionen des Hitlerismus, die aus ganz verschiedenen Motiven sich seinem Krieg angeschlossen hatten, wie sogar eine »Indische Legion«, hielten dieser Reduktion nicht stand. In Heidelberg lebten 1946 ihre Versprengten als Studenten der UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration). Es waren Revoltierende wie Ewigangepaßte darunter.
Freiheit hatten beide, der »Nazi« wie der »Europäer«, weil und soweit sie die Wahl hatten. »Ich bin so frei«, sagen die schwäbischen Landsleute der Schiller, Hegel, Hölderlin, wenn ihnen etwas angeboten wird. Aber das ist eben die Frage, ob die von der Sinnlosigkeit geduckten Menschen »so frei« sind, selber zu wählen — eine Grundfrage, die sich immer neu und immer wieder stellt und verantwortet werden muß. Albert Camus gab mit seinem »Dennoch« der Freiheit ihre Chance. Das war nach dem Herzen der Überlebenden. Das erst machte sie zu Befreiten.