Wer das Protestieren für eine Neuheit hält, nur uns zugehörig, irrt. Aischylos berichtete 500 Jahre vor Christus die Geschieht vom gefesselten Prometheus. Dieser «Vorsorgliche», der «Vorbedachte», wie man seinen Namen übersetzen könnte, gehörte zum Göttergeschlecht der Titanen. Als der Vater der Welt, Zeus, die Titanen stürzte, half ihm Prometheus dabei; aber als Zeus auch das Menschengeschlecht vernichten wollte, empörte sich Prometheus. Er stahl den Göttern das Feuer und schenkte es den Menschen. Durch den Besitz des Feuers gelangte die Menschheit zu höherer Kultur. Zeus fürchtete, sie werde übermütig, und schickte die verführerische Pandora mit einer Büchse voller Jammer und Elend auf die Erde. Sie wurde die Urmutter aller Frauen. So zog der Trotz des Prometheus, der Unglück von den Menschen abwenden wollte, doch Unglück in die Welt. Er selber wurde zur Strafe an einen Felsen im Kaukasus geschmiedet. Ein Adler hatte den Auftrag, täglich von seiner Leber zu fressen, die immer wieder nachwuchs. Endlich befreite ihn Herakles.
Die Tragödie des Prometheus ist eine Tragödie des Protestes. Sie beginnt: mit dem Widerspruch gegen drohendes Unheil. Sie steigert sich zur empörenden Tat. Die Vorsorge hat Erfolg. Sie wendet das Unheil ab, Zeus vernichtet die Menschen nicht; aber anstelle des befürchteten überfällt anderes Unheil die Menschheit. Der Protestierer kann es nicht verhindern, denn er leidet unter den Folgen seines vorhergegangenen Protestes. Ist es darum sinnlos, sich zu empören? Goethe verneint die Frage. Sein Prometheus spricht einen Monolog an Zeus hin. Er hat nichts als Widerspruch und fortdauernde Empörung: «Wähntest du etwa, ich sollte das Leben hassen, in Wüsten fliehen, weil nicht alle Blütenträume reiften?» — Dass nicht alle Blütenträume reifen, ist seitdem zum geflügelten Wort dafür geworden, dass protestieren nichts fruchte; aber so war es nicht gemeint. Bei beiden Dichtern, dem Griechen des 5. vorchristlichen und dem Deutschen des 19. Jahrhunderts, verkörpert Prometheus den Hader mit der göttlichen Allmacht. Am Anfang ist Kampf mit den Göttern.
Prometheus ist der einzelne, der gegen Zeus protestiert; freilich weiss der davon. Im 2. Buch Mose erhält der Protest eine andere Richtung. Der Herr redet mit Mose und weist ihn an, ein ehernes Becken zu machen, Salböl und Räucherwerk anzuschaffen, den Sabbat zu ehren: «Er ist ein ewiges Zeichen zwischen mir und den Kindern Israel. Denn in sechs Tagen machte der Herr Himmel und Erde; aber am siebenten Tage ruhte er und erquickte sich. (1. Mose 2,2). Er gibt ihm steinerne Gesetztafeln, die mit dem Finger Gottes beschrieben sind. Das Volk aber, zeigt sich halsstarrig und macht sich das Goldene Kalb, Moses empört sich über das Volk, zertrümmert die Tafeln, bittet für das Volle. Gott heisst ihn neue Gesetzestafeln machen. Der Bund wird erneuert. Mose, der Erleuchtete mit glänzendem Angesicht, richtet seinen Protest nicht gegen Gott, sondern gegen das Volk. Darin folgen ihm die Propheten. Das lehrt Jesus, der in den Tempel geht, um die Händler daraus zu vertreiben.»
Hier ist nicht «der Mensch das Mass aller Dinge», wie für den Protagoras, der eine übermenschliche Verantwortung menschlicher Fragen ablehnte. Durch ihn und die Sophisten kommt eine dritte Urform des Protestes in die Geschichte. Dem Protest gegen die Götter und dem in Gottes Namen gegen die Menschen sich erhebenden Widerspruch folgen die «niederwerfenden» Worte, die das Vorhandensein oder Fehlen der Götter ausklammern. «Ob es Götter gibt und wie sie sind, kann ich nicht sagen», schreibt Protagoras und gibt damit dem einzelnen anheim, nach Massgabe seines Verstehens und nach dieser für ihn subjektiv richtigen Einsicht zu handeln. Damit wurde das Individuum zum Mittelpunkt der Welt, eine Lehre, die natürlicherweise besonders jungen Leuten gefallen musste. Denn ehe man die Welt kennenlernt, hält man sich gerne für ihren Nabel. Ausser den Jungen verfallen die Reichen und Mächtigen leicht dem Irrtum, alles für erlaubt zu halten, was ihnen nützt.
Es war der Philosoph Sokrates, der gegen die Sophistik als eine Lehre vom persönlichen Ehrgeiz protestierte und auf die Grenzen verwies, die dem Menschen gesetzt sind. Zu Unrecht wegen Gottlosigkeit von den Demokraten zum Tode verurteilt, trank er 399 v. Chr. den Giftbecher, nachdem er in seiner Verteidigungsrede noch einmal seinen) kühnen Geist hatte erstrahlen lassen.
Sokrates hielt, wie die Sophisten, den Verstand für die verlässlichste Kraft des Menschen; aber er war nicht von: ihm überzeugt und gab sich mit seinem Wissen nicht zufrieden. Er fragte weiter und weiter, um den Dingen auf den Grund zu kommen. Seine Erklärung, «ich weiss, dass ich nichts weiss», war ein steter Protest gegen den herrschenden Hochmut. Der sophistischen Angabe gewaltigen Wissens gegenüber verweigerte er sich im Gespräch, wodurch die Ratlosigkeit des anderen um so deutlicher hervortrat. Seitdem ist diese Kunst bescheidener Selbstverkleinerung unter ihrem griechischen Namen, Ironie, zu einem der würdigsten Mittel geworden, Verwahrung einzulegen und Anmassungen abzuwehren.
Des Sokrates Verteidigung, die wir in der Niederschrift Platons haben, endet mit dem Satz, es sei allen verborgen ausser Gott, ob den Verurteilten oder die Henker das bessere Los träfe. Das haben Ungezählte protestierend nachgesprochen. Aber der Kampf mit den Göttern hat nie aufgehört.
In der altsächsischen Schöpfungsgeschichte wird deutlich, dass um 830 der Protest des Prometheus noch ganz lebendig war. Luzifer, der sich gegen den Herrn empörende Fürst, wird zur Strafe als
Satan in die Hölle versetzt, «er solle die Tiefe der Höllennacht hüten, doch nicht wider den Herrn streiten». Daraus entwickelt sich dann als eine Rache Satans der Sündenfall. Das von Gott den Menschen verliehene Reich, sie verlieren es und kommen «in die Lohe, die heisse» und Satans Harm ist nun gerächt…
Um das Jahr 1000, als im Christentum wie im Islam politische und soziale Krisen an der Tagesordnung waren, dichtete al-Mutajjam: «Nein, gewisslich, ich werde zu Gott nicht beten, solange ich arm bin. Lass doch den Saih al-Galil und Fa’iq zu ihm beten! Warum soll ich beten? Wo ist mein Geld? Wo mein Haus? Wo meine Pferde, reichen Kleider und Goldgürtel? Wollte ich beten, solange meine rechte Hand nicht eine Spanne Erde besitzt, so wäre ich wahrlich ein Heuchler…» Hier richtet sich der soziale Protest, das Aufbegehren gegen eine ungerechte Gesellschaftsordnung gegen Gott. Seine Allmacht wird anerkannt; also gehen die sozialen Missstände auf seine Rechnung. So etwa argumentierten die revolutionären Schiiten.
Ähnlich haderten christliche Sekten mit ihrem Gott, andere schoben der schlimmen Welt die Schuld zu, wie Notker, der wahrscheinlich ein Mönch von Zwiefalten war und zwischen 1060 und 1070 alemannisch dichtete:
«Ja, du gar schlimmer mundus (Welt), wie betrügst du uns so!
Du hast uns beherrscht, so sind wir alle betrogen.
Verlassen wir dich nicht beizeiten, verlieren wir Seele und Leib.
Solange wir hier leben, hat Gott uns die freie Entscheidung gegeben.»
Wer wohl tut hat’s gut und braucht sich um den Lohn nicht zu sorgen, der andere fährt ins Feuer, wo Satan regiert.