1.
Es war kein Revoluzzer, sondern der eher traditionalistische argumentierende Politologe Carl Joachim Friedrich, der in den fünfziger, sechziger Jahren an den Universitäten Harvard und Heidelberg ausführte, „daß in einem strengen Sinn in einer Demokratie Staat nicht existiert“. Das war zu einer Zeit, als in Bonn Karl-Dietrich Bracher vorschlug, „Regierung“ und „Verwaltung“ anstelle von „Staat“ zu gebrauchen. Der Vorschlag war gut durchdacht. Er stellte die Funktionen, die ein demokratischer Souverän delegiert, dem Staatsbegriff gegenüber, dem in Deutschland noch immer die Schuppen des Absolutismus anhaften.
Die Diskussion solcher Fragen war hoch an der Zeit, denn die zwanzig Jahre der Ära Adenauer hatten von staatswegen einen vulgären Materialismus als alleinseeligmachende Philosophie verkündet. Dem formbewußten Essayisten Theodor Heuss folgte der ach so beredte Heinrich Lübke als Bundespräsident nach. Nun klagte selbst Heinrich Böll, den Staat nicht mehr zu sehen. Wie hätte die im Vulgärmaterialismus herangewachsene neue Generation das Gemeinwesen ausmachen können? Das herrschende „Hast du was, bist du was!“ war kein republikanisches Gebot, auch kein demokratisches, und, wenn ich das recht verstehe, so christlich auch nicht.
Es war vorauszusehen, und es ist damals auch gesagt worden von Leuten, die der Bundeskanzler Erhard „Pinscher“ zu nennen beliebte, daß die zweite deutsche Republik mit dieser ideologischen Ausstattung eine Probe auf ihren Wirtschaftswunderglanz nicht bestehen könne.
2.
Die Prüfung kam mit der amerikanischen Vietnamkrise übers Meer, wie alle politischen und wirtschaftlichen Anstöße seit dem 2. Weltkrieg von Amerika nach Europa gekommen sind, und traf Deutschland in jeder Hinsicht unvorbereitet. Am ehesten zeichnet noch die Kindergeschichte vom dicken, fetten Pfannekuchen den ideologischen Anspruch jener Zeit.
Unangemessen in Zustimmung und Ablehnung waren denn auch die deutschen Antworten auf die Herausforderungen der späten sechziger Jahre. Überempfindlich, wie große Weichteile nun einmal sind, reagierte der deutsche Pfannkuchen auf die Stiche, die ihm seine Studenten versetzten. Der Tod des Studenten Ohnesorg zeigte einmal mehr, daß geistige Schwäche zum Verbrechen wird, wenn sie sich bedroht fühlt. Der bewaffnete Untertan, der die deutsche Katastrophe „ausgeführt“ hat, meldete sich wieder in der Gestalt des Polizisten Kurras, der den arglosen Studenten erschoß. Von nun an konnte nichts mehr sein, wie es vorher war. Das staatliche Gewaltmonopol hatte versagt. Ein unverzeihlicher Umstand in einer unferetigen Demokratie, die sich ihrer Grundlagen nicht sicher ist. Die Bundesrepublik hatte sich zwei Jahrzehnte als Provisorium proklamiert, das untergegangene Deutsche Reich wollend und nichtwollend zugleich. Provisorisch sollte die Hauptstadt sein, provisorisch die Grenzen im Osten, provisorisch auch das Grundgesetz des Gebildes, das nicht Verfassung genannt werden sollte. Nichtprovisorisch nur der Antikommunismus, der in nationaler wie sozialer Hinsicht begründet war.
Aber grade hier mußten nun im Zuge der amerikanischen Détente außenpolitische Zugeständnisse gemacht werden. Entspannung (westlich) und Koexistenz (östlich) bezeichnen zwar verschiedene Auffassungen; aber gemeinsam setzen sie die Unverletzlichkeit der vorhandenen Grenzen voraus und rechnen mit einer gewissen Stabilität des anderen Teilhabers. Der amerikanische Architekt der Konstruktion, Henry Kissinger, war nicht umsonst bei Metternich in die Schule gegangen. Vor „neuen Karlsbader Beschlüssen“ warnte ich im Februar 1969 und wurde belehrt, die Analogie sei unzuverlässig, damals habe es noch keine Verwaltungsgerichte gegeben (Tagesspiegel, 9.2.69)
3.
Was nicht abzusehen war, war die mörderische Eskalation, die mit der Baader-Befreiung 1970 und der Übertragung der maoistischen Guerillataktiken auf unsere Städte einsetzte. Weder der Irrglaube, daß „alle Macht aus den Gewehrläufen“ komme, noch die besonderen Beziehungen der beteiligten Personen zueinander machen den ersten Gewaltakt verständlich, dem die anderen folgten mit der Notwenigkeit des Bösen, das Böses muß gebären. Die Studentenbewegung hat sich von diesem irrationalen Ausbruch nicht erholen können; die abwehrenden Ordnungskräfte taten alles, sie mit den Extremisten in eines zu setzen.
So begann unter dem Eindruck des politischen Aktivismus die Phase der schiefen Fronten. Die Rechte kaschierte ihre Unterlassungen in den 50er und 60er Jahren mit Anklagen gegen die Linke. Die Linke, in früheren Jahrzehnten das Opfer des rechten Terrorismus, sorgte sich nun als Regierungspartei, besonders staatserhaltend zu wirken. Es war der Bundeskanzler Willy Brandt, der mit den Ministerpräsidenten der Länder den Erlaß auf den Weg brachte, der die Obrigkeitsmentalität der Deutschen neu beleben mußte, indem er weltanschauliches Bekenntnis und Straftat in Beziehung setzte. Diese Tendenz ist seit den Ketzerverfolgungen der Kirche über die Verbindung der religiösen Bekenntnisse mit der landesherrlichen Obrigkeit im Augsburger Religionsfrieden, Jacobiner- und Demagogenverfolgunng, Bismarcks Kulturkampf und Sozialistengesetze in der deutschen Praxis immer virulent geblieben. Hitlers Totalitarismus war insofern keine Neuigkei t, und die erzwungene Konformität der DDR ist es auch nicht. In der Bundesrepublik war die Erneuerung des Konformitätszwanges in einem Erlaß, der sinnigerweise als Ministerpräsidenten- bzw. Radikalenerlaß bezeichnet wird. Ein ungeheurer Rückschritt gegenüber den Bemühungen von Gesetzgeber und Justiz, die Freiheit der politischen Überzeugung und Bestätigung wenigstens solange zu sichern, solange kein höchstrichterliches Verbot vorliegt. Dies war ubnd ist auch nach dem Ministerpräsidentenerlaß geltendes Recht. Nach dem Buchstaben des Gesetzes steht die Bundesrepublik nach wie vor auf dem Grundsatz, daß politische Konformität nicht erzwungen werden darf und daß auch in politischer Hinsicht erlaubt ist, was kein Gesetz verbietet.
In der Praxis ist aber der Radikalenerlaß zu Hunderttausenden von Überprüfungen der Gesinnung geführt, in der nichtverbotene politische Äußerungen und Zugehörigkeiten zum (Nicht-)Eignungskriterium für den öffentlichen Dienst erhoben wurden. Das ist gegen die Grundrechte, auf denen die Verfassung aufbaut. Es ist eine Massenverfolgung, auch wenn die Zahl der „Belasteten“ am Ende klein sein sollte. Das liberale demokratische Recht schützt den Nonkonformismus ausdrücklich als Grundlage der Meinungsbildung, in der sich der politische Wille formen soll. Kein Ministerpräsident und kein Bundeskanzler kann in dieser Verfassung das Recht haben zu bestimmen, welches religiöse oder weltanschauliche Bekenntnis die Beamten ablegen müssen, um öffentliche dienen zu dürfen. Eben dies kennzeichnete den Fortgang der deutschen Libertät von 1555 bis 1975. Der Ministerpräsidentenerlaß führte den Grundsatz ein, daß die Landesherren, über die Gesinnung der Ministerialen, Vögte, Schulzen, Magister und Fakultäten befinden. Der Verkehrsminister will sogar nur rechtgläubige Briefträger und Eisenbahner haben. Wie dem nun sei; die Herren schelten selten der Völker unerklärliche Geduld (Brecht)
4.
Da die gewählten Repräsentanten der deutschen Demokratie einen Rückfall ins inquisitorische Denken erlitten, ist nicht verwunderlich, daß die unterstellte Bürokratie ihre Praxis in dieser Richtung ausweitete. Max Güde, Generallbundesanwalt von 1957 bis 1961 und Mitglied der CDU, hat anläßlich der Gustav Heinemann-Initiative in Rastatt a, 23.5.78 das juristische Gebot des 8. Strafrechtsänderungsgesetzes mit der Praxis konfrontiert: „Die Praxis der Verwaltungsbehörden und der Verwaltungsgerichte einschließlich der Disziplinargerichte hat aus dem Ministerpräsidentenerlaß abgeleitet, daß sie selbst befugt seien, über die Verfassungswidrigkeit einer Partei und deren rechtlichen Folgerungen ihre eigene Beurteilung zugrunde zu legen. Sie haben eine Zeitlang geglaubt, dafür die bekannte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes in Anspruch nehmen zu können, wonach die Verwaltung berechtigt sei, verfassungswidrige Parteien auch vor dem Verbot politisch zu bekämpfen. Inzwischen hat aber das BVG selbst klargestellt, daß die politische Bekämpfung im Sinne der Unterscheidung von der rechtlichen Bekämpfung zu verstehen ist und daß an der These der Rechtmäßigkeit der Bestätigung in einer unverbotenen Partei festgehalten wird. Damit ist die Verwirrung ausgeräumt und es bleibt dabei, ,daß eine Bestrafung wegen einer rechtmäßigen Tätigkeit ausgeschlossen ist. .Bestrafung in diesem Sinne ist auch die Disziplinarstrafe, denn auch sie unterliegt dem Verfassungsgrundsatz ,Keine Strafe ohne Gesetz‘ … Die Behandlung eines Bewerbers nach dem Schema, daß eine Zugehörigkeit zu einer ,verdächtigen‘ Partei zu Zweifeln an seiner Verfassungstreue Anlaß gäbe, die er widerlegen müsse, führte zu einer eindeutigen Verdachtsstrafe. Die Zurückweisung wegen eines nur indizierten, aber nicht bewiesenen politischen Fehlverhaltens ist eine Bestrafung, der keine Norm zugrundeliegt … Der Ministerpräsidentenerlaß ist eine Fiktion der Bürokratie und hat kein Recht für und gegen den Bürger geschaffen. Seine dilettantische Handhabung muß aufhören, weil sie illegal ist.“
Illegal erscheinen auch die Listen, nach denen Grenzschutzbeamte Grenzgänger auf verdächtige Literatur kontrollierten. Auf der mittleren Ebene des Bundesgrenzschutzes zusammengestellt, sagen sie in ihrer Komposition mehr über den Geisteszustand ihrer Urheber als über denjenigen der Personen, bei denen die aufgelistete Literatur gefunden wird. Soweit bekannt, enthält die Liste sozialistische. Kommunistische, anarchistische und sozialdemokratische Schriften, aber keine des Rechtsradikalismus und auch nicht die der konzernproduzierten Volksstellenden Bürokraten entspricht also dem aus dem 19. Jahrhundert überlieferten Feinbild des deutschen Obrigkeitsdenkens, daß bis heute die Meinungen der Regierten als Grundlage des politischen Gemeinwesens nicht anerkennen will. Es ist eine alte Erfahrung, daß sich in der Behandlung der Bürger an den Grenzen auch die Grenzen des staatlichen Selbstvertrauens zeigen. Man hat an der innerdeutschen Grenze ein schauerliches Beispiel dieser Beobachtung. Wenn es in der Bundesrepublik möglich ist, daß subalterne Geister ohne Kenntnis des parlamentarisch verantwortlichen Ministers die Lektüre der Bürger in die politische Fahndung einbeziehen, dann ist etwas faul an dieser Bürokratie.
5.
Haben wir eine Konsequenz des Gesetzes nach Artikel 131 BGG. vor uns, das die Nazibeamten wiedereinstellte? Oder wird das gemacht, weil „man es immer so“ gemacht hat, wie Güde vermutet? Oder schlägt sich die versäumte Prüfung des Beamtenrechts in solchen Willkürmaßnahmen nieder? „Das ganze Disziplinarrecht erweist sich als oberflächlies Neuausgabe der Reichsdienststrafordnung von 1937, von der niemand erwarten wird, daß sie den leitenden Gedanken unseres Grundgesetzes entsprach“ (Güde). Sind also die „Schnüffellisten“ des Bundesgrenzschutzes ein Ausfluß der Disziplinierung von 1937, als die Pflicht zur Freiheit verboten war? Müssen wir einsehen, daß die Bundesrepublik in Sachen Bürokratie und Staatsschutz dieselben Unterlassungen begannen hat, die zum Ende der Weimarer Republik beitrugen? Wie weit hat sich die Bundesrepublik zum „Gesinnungsverfolgungsstaat“ entwickelt?
Sieht so das Ende einer Republik aus, die sich gegen den vorangegangenen gesinnungsverfolgenden Staat auf die Freiheit der Meinungen gründete? Ist erst „verdächtige“ Lektüre der Bürger in den geheimen Computern der Staatsschutzbürokratie gespeichert, dann ist der nächste logische Schritt die Speicherung „verdächtiger Äußerungen“.
Da das allgemeine und abstrakte Argument der Gefahr terroristischer Aktivitäten wohl nicht so schnell verschwinden wird, muß damit gerechnet werden, daß Rückwärtsler aller Art mit diesem Argument Schindluder treiben. Soll die Bundesrepublik in diesem Treiben nicht zum gesinnungsverfolgenden Staat verkommen, muß sie die Rechtsmäßigkeit abweichender Meinungen ihrer Bürger schützen und darauf verzichten, deren Gesinnung reglementieren zu wollen.