Rede, gehalten am 9.11.45 in der Demokratischen Partei Karlsruhe
Als die Militärregierungen politische Parteien erlaubten und die Nothelfer der ersten Besatzungsmonate von der Weltbühne wieder in ihre Privatcomptoirs zurücktraten, waren auch sogleich fossile Gegnerschaften wieder da. Der Mantel der christlichen Nächstenliebe deckte einen Mitte-Rechts-Verein, in dem sich alles versammelte, was vom Zentrum und der Bayerischen Volkspartei bis zur Staatspartei und den Deutschnationalen bürgerlich rechts gewählt hatte. Der Demokratische Verein, auf die Ursprünge von 1848 sich berufend und den Kapitalismus meinend, dann die Demokratische Volkspartei, später die Freien Demokraten. Blieb noch die Sozialdemokratie, die älteste dieser neuen Gründungen und 1933 am ehrlichsten verendet; aber sie hatte schon ihre Republik von Weimar nicht gemeistert und mit der Bewilligung der Kriegskredite 1914 den ganzen späteren Schlamassel ermöglicht.
Es war nicht so weit her mit dem Anfang; aber daß es zu Ende sein mußte mit der »Blut und Eisen«-Nation des dicken Kürassiers von Bismarck und des holzköpfigen Generalfeldmarschalls von
Hindenburg – das verstanden alle in diesem Sommer 45. Der Invalide, im September 22 geworden, war’s zufrieden. In nur 12 Jahren ein 1000jähriges Reich überlebt zu haben, war auch nicht übel. Man mußte sich darauf einstellen, alles und jedes zu improvisieren. Nicht wenige fristeten ihr Dasein von den Provisionen, die sie dabei einnahmen.
So hielt ich im Demokratischen Verein Karlsruhe eine Rede: »Wir fordern die Beteiligung der Jugend am demokratischen Aufbau.« Man schrieb den 9. November 1945. Der Jugendoffizier hatte den Auftritt erlaubt, und die lokale Zeitung, die dreimal wöchentlich erschien, druckte den Text. Fünfundvierzig Jahre später, ebenfalls im November, nannte man solche Befreiungsenthusiasten »Wendehälse«. Aber ohne ihren Schrei geht nichts, ohne sie krähen die Hähne auf dem Mist ihr ewig gleiches Kikeriki, gespreizte Zeitansage mit Flügelschlagen, ob 1789, 1919, 1945, 1989, und die Hühner legen ihre Eier ins gemachte Nest – egal, wer sie dann frühstückt. (aus: Memoiren eines Innländers, S.133 f.)
Wenn ich die Reihe der Versammelten betrachte, dann sehe ich, dass viele fehlen, deren Anwesenheit bei einer so allgemeinen Jugenddiskussion, wie wir sie heute veranstalten, zu wünschen wäre.
Es fehlen diejenigen, die sagen, sie hätten die Nasen voll, die auf Grund bitterer Erfahrung sich für berechtigt halten, nichts zu tun. Diejenigen, die glauben, auf nicht errungenen Lorbeeren ausruhen zu können und sich mit Gleichgültigkeit wappnen.
Zugegeben: Es ist bequem, jetzt, nachdem der Karren restlos verfahren ist, zu sagen, ich habe genug. Ich will damit nichts mehr zu tun haben. Sollen ruhig die andern was tun. Lass die doch regieren wie sie wollen, mich interessiert das nicht. Und was dergleichen häufige Redensarten mehr sind. Es ist sogar sehr bequem. Aber wohin solche Bequemlichkeit des Denkens führt, erfahren wir täglich am eigenen Leib. Es wird unter der deutschen Jugend, besonders unter den zwanzig bis dreissig jährigen, nur wenige geben, die nicht ausser dem allgemeinen Elend, irgend einen besonderen Schaden davon getragen haben. Und gerade von ihnen hört man solches Lob der Passivität. Damit zeigen diese Bequemlichkeitsfanatiker, dass sie aus unserer Katastrophe nicht ein Jota gelernt haben.
Gewiss brauchen wir alle, die den Soldatenrock auszogen, wie alle, die zu anderer Beschäftigung übergehen, eine Atempause. Eine Spanne Zeit zur Orientierung, nach der furchtbaren Erkenntnis unserer Niederlage. Atem holen, ja, aber dann sich finden. Denn diese Pause muss kurz bemessen sein. Mit jeder Minute der Untätigkeit wächst die Gefahr des Versinkend im Kot auf die Dauer.
Es ist eine grosse Schlammperiode. Der Karren steckt bis zur Motorhaube im Dreck. Da hilft nichts. Die ganze Besatzung muss ran. Nur so kann das schier Hoffnungslose bewältigt werden. Bei uns kommt hinzu, dass diejenigen, die die Schweinerei heraufbeschworen haben, geflüchtet sind.
Es ist bedauerlich, dass gerade diejenigen, die es angeht, fehlen. Vielleicht würden sie einsehen, wie notwendig wir es haben, anzufangen. Und niemand hat es nötiger als wir Jungen. Denn wenn die Älteren Herrschaften nichts für uns tun können, als Ober- und Mittel – und Unterkomités zu bilden, die dann wieder in einem Gesamthauptausschuss zusammen gefasst werden, dann nur deshalb, weil die Mitarbeit von unserer Seite fehlt. wir geniessen das köstliche Bild einer eleganten Dachkonstruktion, die ohne Haus darunter, geschweige denn Menschen, einfach so in der Luft hängt.
Es ist falsch, wenn wir von Leuten, die unsere Väter sind und auf dem Thron ihrer Erfahrungen sitzen, verlangen, dass sie die
Probleme der Jugend in unserm Sinn lösen. Sie haben soviel mit sich selber zu tun und sie dürfen von uns erwarten, dass wir selbst arbeiten. Im übrigen sind wir auch alt genug dazu, und es wäre eine Schamlosigkeit sondergleichen, wenn wir bei den allgemeinen Bemühungen tatenlos beiseite stehen wollten. Wir haben aber nicht nur die moralische Verpflichtung, etwas zu tun, sondern ganz persönliche Interessen.
Wer ist denn mit den gegenwärtigen Verhältnissen einverstanden? Wer aber tut etwas dagegen? Die Möglichkeiten zur Betätigung sind leicht zu schaffen. Die Gerechtigkeit der Demokratie verlangt, dass jeder Anspruch hat, gehört zu werden. Machen wir von dieser Einrichtung Gebrauch! Prangern wir die Missstände an! Oder haben wir über die Besorgung der Kartoffel für den nächsten Tag vergessen, dass es andere Dinge gibt? Vielleicht erwachen wir eines Tages grausam und stellen fest, dass es auch keine Kartoffel mehr gibt?Meine Herrschaften, vergessen Sie nicht, dass heute dieselbe Generation regiert, die uns das dritte Reich beschert hat. Vielleicht reift in ihrem Schoss ein viertes Reich ähnlichen Ausmaßes? Wir wollen uns doch bemühen, den Dingen auf den Grund zu kommen. Die Lage 1919 war der heutigen sehr ähnlich, wenn auch der Umfang der Vernichtung in keinem Verhältnis zu der von 1945 steht. Die vollkommene Auflösung der Reichsgewalt, das Fehlen einer Volksvertretung, eine so unbedingte Umwertung der innenpolitischen Begriffe und so gewaltige materielle Verluste waren damals nicht gegeben. Dennoch war die selbe Müdigkeit der Jugend wie heute. Und wenn sie einsichtige Männer sprechen, die damals jung waren, so
anerkennen sie ihre Untätigkeit im öffentlichen Leben nach dem Krieg als einen der Gründe, durch die es zu Hitler kam. Mit Trinken und Tanz wird keine Entwicklung gefördert. Die NSDAP ist ja nicht plötzlich mit zwei Millionen Wählern vom leibhaftige Gottseibeiuns in die Welt gesetzt worden. Diese Bewegung des Unheils ist in der Weimarer Republik, in einer Zeit also, da wir noch sehr jung waren, Kinder waren, unaufhaltsam gegen die 40 Parteien, die uns eine falsch verstandenen deutsche Demokratie geboren hat, gewachsen. Wie konnte das geschehen?
Und es ist ein berechtigter Vorwurf, den ich gegen die ältere Genera- tion erhebe, warum habt Ihr sie nicht verhindert? Es ist eine unfruchtbare Frage, denn geschehen ist geschehen, und wir wollen keine Afterkritiker werden. Die gibt’s genug, diese Überschlauen, die es schon immer gewußt haben und die sich jetzt ohne irgendeine Qualifikation als die eines charakterlosen Mundwerks als Richter oder Rächer aufspielen wollen.
Aber ich weise damit diejenigen zurück, die der Jugend die Schuld an der Verlängerung des Krieges geben, und uns das zum Vorwurf mache, was wir mit bestem Wissen und Gewissen auch für sie, für die Daheimgebliebenen und für uns zu tun glaubten.
Es ist nicht unwesentlich, die Beweggründe zu kennen, wenn man ein Unternehmen richtig beurteilen will. Und anders als in dauernder peinlicher Selbstbefragung kann man sich über die Ursachen seiner Fehler nicht klug werden .
Wir wollen uns die Erkenntnisse aus den Fehlern der Weimarer Zeit zu Gemüte führen, wie sie sich uns heute darstellen:
Zum ersten, die Unfähigkeit weiter Kreise unserer Bevölkerung auf eigene Bequemlichkeit und lächerliche Privilegien au verzichten, wenn eine große Gefahr bekannt wird. Sonst hätten vielleicht die Winzigparteichen auf ihre ruhm- und redereiche Existenz verzichtet.
Und zum Zwoten, der blödsinnige Herdentrieb unseres Volkes, jedem nachzulaufen, der ihm was zu hassen gibt.
Was ist heute? Man scheint selbst in den Kreisen, die sich als vollendete Demokaten fühlen, nicht allzu viel gelernt zu haben. Auf der einen Seite Hass, auf der andern Seite Bequemlichkeit. Ich fürchte, wir müssen den Amerikanern ehrlich danken, dass sie da sind. Der Wille tatsächlich und vorbehaltlos neu anzufangen, scheint nicht sehr ernst zu sein. Das wort fairness scheint ein Fremdwort zu bleiben.
Es soll doch jetzt tatsächlich jeder nach seiner Fasson selig werden? Deshalb gibt es schon wieder Hassausbrüche und gegenseitige Bespitzelung? Dinge, die der Jugend unter sich fremd sind. Sie hat es verlernt, in all der Not Unterschiede der Konfessionen oder oder Gesinnungen zu machen. Jeder soll den anderen achten! Wir werden mit unserem Gesichtskreis auch die Bereiche dessen weiten können, was wir zu achten haben.
Aber wie ist das mit uns Jungen? Wir sind also unmündig in das dritte Reich hineingeschlittert. Ich definiere deshalb den Begriff Jugend als diejenige Altersklasse, die vor dem Jahr 33 nicht wahlberechtigt war. Es wäre nun sehr einfach, zu sagen, wir hätten deshalb überhaupt keine Schuld an der Entwicklung der Dinge. Doch das würde nicht der vollen Wahrheit entsprechen. Gewiss, wir waren trotz Staatsjugend unpolitisch. Ich glaube nicht, dass einem lo -17 jährigen der Vorwurf gemacht werden kann, daß er durch seine Persönlichkeit dazu beigetragen hat, das looo jährige Reich zu verewigen. Ich glaube auch nicht, dass irgend ein Mensch die Berechtigung hat, ihn durch die weiteren 5o Jahre, die er jetzt in Mühe und Arbeit noch vor sich hat, hindurch zu bestrafen. Es ist wahrhaftig Strafe genug, nicht nur um unwiederbringliche Jahre betrogen, sondern auch an Leib und Seele verwundet an den Rand des Abgrundes geworfen worden zu sein.
Die meisten wussten gar nichts anderes mehr,, und die andere hatten eine ferne Erinnerung an die freie Zeit. Wohl bildeten sich Gruppen, die eigene Interessen vertraten, aber zur offenen Opposition kam es selten. Ihr fehlte die Öffentlichkeit. Ich weiss aus eigener Erfahrung, dass solche Vorstösse meist mit fast heimlich betriebener Kaltstellung erledigt wurden. Die grosse Masse hielt es überhaupt für unmöglich anderer Meinung zu sein als Goebbels erlaubte. Wie sollte auch in einem heranwachsenden normalen Menschen soviel Dunkel sein, dass er die Scheusslichkeit solcher Verbrechen wie sie nachher bekannt wurden von selbst für möglich hielte. Dass die Jugend in ihrer Gesamtheit zum willfährigen Werkzeug erniedrigt wurde, hat drei Gründe:
1. Die äusserst geschickte Führung und Propaganda, die sich typisch jugendlicher Erscheinungen bediente, um ihr Ziel zu erreichen, z.B. den Willen zur Selbständigkeit (Entfernung vom Elternhaus), die Freude an Idealbildern und des Dekorationsfimmels, der ein Nationallaster ist.
2. Die Unmöglichkeit, als Soldat an der Front etwas anderes zu tun als das, was der nahe Augenblick verlangt.
3. Die Denkfaulheit und Bequemlichkeit, dieses ewiggleich „Lass die doch machen, was geht’s mich an?“
Darum beginnt unsere Schuld dann, wenn wir in dieser negativen Haltung verharren, es hilft niohts. Soviel wir durchgemacht haben, wir müssen umlernen. Die Wahrheit war damals wie heute schmerzlich, nur dass es in den vergangenen Jahren niemand wagte, sie uns zu sagen, und heute wir es sind, die sie nicht hören wollen. Wir muessen vor allen Dingen lernen, dass wir mitverantwortlich sind, fuer das was gespielt wird. Die aelteren Herrschaften, die uns heute noch mit ihrer demokratischen Erfahrung zur Seite stehen, wenn wir sie darum ersuchen, sind nicht mehr da, wenn die Saat aufgeht, die heute gesaet wird.
Wir sind dann die allein Vorhandenen. Schon deshalb ist es notwendig, dass wir taetig sind, dass wir an uns selbst arbeiten, und vor allen Dingen, dass wir aus unseren eigenen Fehlern und den Fehlern unserer Vaeter in den vergangenen dreissig Jahren die Konsequenz ziehen, Wir wollen jeden Hass beiseite lassen, muessen aber mit unseren saemtlichen Moeglichkeiten dafuer sorgen,dass der Karren so aus dem Dreck gezogen wird, dass er nachher noch fahrbereit ist.
Ich fasse zusammen;
1.) Wir muessen mitarbeiten an unserer Zukunft das ist nicht nur unser Recht, es ist unsere Pflicht.
2.) Wir fordern dabei Sauberkeit auf allen Gebieten, um ein Haus zu bauen, in dem es sich wohnen laesst, ein Heim, ein DEUTSCHLAND, in dem Hass und Neid keinen Raum finden und auf das die Nachbarn mit Achtung blicken koennen.
3.) W i r fordern Beteiligung der Jugend am d e m o k r a t i s c hen A u f b a u !