Als Recycling-Papier für Korrespondenzen noch etwas Exotisches hatte, brachte die Post im Frühjahr 1984 eine auf blaßblauem Packpapier faksimilierte, in schöner schwungvoller Handschrift verfaßte Einladung zu einem »Internationalen Kornhaus-Seminar« ins Haus, das in einem Ort Namens Weiler im Spätsommer stattfinden sollte. Als Adressat ließ sich der Publizist Harry Pross ausmachen, der hier zu einer mehrtägigen Veranstaltung über »Kitsch« in einen sehr entfernten Teil Süddeutschlands einlud; dorthin, wo des Allgäu an Vorarlberg grenzt. Pross war als hellsichtiger Kommentator gesellschaftspolitischer Zusammenhänge, streitbarer Chefredakteur von Radio Bremen, Verfasser und Mitautor bedeutsamer Bücher dem Empfänger durchaus ein Begriff, weniger jedoch als Seminar-Organisierer.
Auch der damalige Chefredakteur Kultur im Hörfunk des Süddeutschen Rundfunks, Hans Jürgen Schultz, zeigte sich irritiert und riet von einer Teilnahme ab, der Reisekosten und des unseriösen Themas wegen. Erst als ein Kollege aus der Belle Etage des Westdeutschen Rundfunks dringend um journalistischen Beistand nachsuchte — da selbst kurzfristig von der Allgäu-Fahrt abgehalten — wurde der Verfasser dieser Zeilen dazu ausersehen, nach Weiler zu reisen, um über das Ereignis anschließend in einer Zweistunden-Sendung zu berichten.
Bis dahin beschränkte sich der Informationsstand, das Allgäu betreffend, auf bruchstückhafte Erinnerungen aus früher Jugendzeit. Einem kränklichen Mitschüler war nämlich in regelmäßigen Abständen ein Erholungsaufenthalt in der Nähe von Oberstdorf »verschrieben« worden. Wochenlang blieb er der Schule fern, um anschließend den neidvoll Unprivilegierten von grünen Wiesen, hohen Bergen sowie höchst interessanten »Anwendungen« im Genesungsheim zu berichten. Alle Anstrengungen, Schul- und Hausärzte vom desolaten Gesundheitszustand zu überzeugen, der dringend einer Allgäuer Kur bedurfte, sind gescheitert. Auch das spätere Leben hat mich aus unerklärlichen Gründen von dieser deutschen Kulturlandschaft fern gehalten.
Es galt also Neuland zu entdecken. Da von der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel zur Anreise abgeraten wurde — zu kompliziert — reiste ich im Automobil an. Bis Wangen verlief die Reise ohne besondere landschaftliche Höhepunkte. Dann schälten sich vor den tatsächlich immens grünen Wiesen die blauen Silhouetten anscheinend hoher Berge, die selbst der Ortsunkundige mit den Alpen in Verbindung zu bringen in der Lage war. Den Freund historischer Eisenbahneni heimelten links der Straße die Gleise einer Nebenbahn an. Wenn man sie nach einigen gewundenen Straßenkilometern, in einer Senke überquert, die die Natur in weiser Voraussicht zur Limitierung des Tempos angelegt hat, erscheint hinter der nächsten Biegung der graziöse Kirchturm des Marktes »Weiler-Simmerberg« …
Herrschaftliche Villen, ein imposanter Barockbau, eine Hutfabrik und eine Motorradhandlung: Erste Eindrücke vom Auto aus. Dann das »Kornhaus« und das »Rathaus« — Weiler ist ein Ort mit Vergangenheit und Bürgersinn. Vehementer Bürgerprotest hat den »autofreundlichen« Ausbau der Ortsdurchfahrt (ein direkter Weg nach Bregenz) mit Kanalisation des idyllischen Rauschebachs und Abriß des Kornhauses verhindert, erfahren wir beim ersten Mittagessen.
Ein milder Spätsommer-Nachmittag gibt diesem Weiler eine ganz besondere Atmosphäre. Am Abend beginnt im Kornhaus das »Kitsch«-Seminar. Den an »Akademie«-Tagungen trainierten Besucher erwartet ein Phänomen: der Raum ist großer als er im ersten Moment scheint. Der ehemalige Speicher ist museal ausstaffiert worden. Ein intelligenter Architekt hat seine Spuren hinterlassen, die alten Balken sind in Kiefer gefaßt; allerlei Gerätschaften aus dem beschwerlichen Alltag früherer Generationen von Bauern und Handwerkern sind angenehm zufällig »rangiert. Wichtiger scheinen die unzähligen, üppigen Blumensträuße, der allzeit ordnenden Hand von Frau Klepping, Kornhaus-«Herrin«, zu danken. Im Oberstock vermittelt eine Austeilung über religiösen Devotionalien-Kitsch dem Besucher das bestimmte Gefühl, nicht nur in ein sehr ungewöhnliches Ambiente, sondern auch in eine entsprechende Veranstaltung geraten zu sein. Festtagsstimmung im Kornhaus. Keine Spur von Volkshochschule auf dem Lande: »Kitsch oder nicht Kitsch?« , fragt der Gastgeber Harry Pross in seiner Begrüßungsrede und lädt dazu ein, die »Auseinandersetzung magisch« anzugehen.
Jener, der Kitsch bisher nur amüsiert via Walther Killys in den 60er Jahren erschienenen Sammlung »Deutscher Kitsch« zu Kenntnis genommen hatte, schreibt nachdenklich Pross‘ Fazit: »Kitsch als soziales Produkt ist Ausbeutung der Seelen zum raschen Umsatz ihrer Energie« in sein Notizbuch der geflügelten Worte.
Dazu besteht an diesem Abend mehrfach Gelegenheit. Es spricht ein Naturereignis in Gestalt von Abraham Moles. Seine kühne frankophile Kunst deutscher Sprache ist ein unvergleichliches Erlebnis. Seine Definition von Kitsch ebenfalls: Kitsch ist Kunst und Kunst ist Kitsch. Basta! »In einem luxuriösen Speisesaal auf dem Büffet wird Kunst angeboten; eine riesige Gurke ist geschnitzelt, geschnitzelt, geschnitzelt — zu einer Skulptur mit einem See — mit Fischen, Flamingos, Palmenbäumen und Figuren. Das ist reine Kunst…«. Also Kitsch ist Kunst. Anschließend wurde von Harry Pross »zur üblen Nachrede« in den Gasthof »Engel« gebeten. Anderenorts nennt man derlei »Gemütliches Beisammensein«. Auch dabei herrscht ein Geist der besonderen Art — eine Mischung aus intellektuellem Stammtisch und spätabendlicher Plauderrunde.
Eine gar historische Bedeutung sollte die nächste Sitzung des Seminars am kommenden Morgen für die Zukunft bekommen: das erste Referat, das Vilém Flusser in der Bundesrepublik hielt. Bis dahin war der Futurologe hierzulande ein Unbekannter. Jetzt hatte er sich von Harry Pross zu einem Ausflug in die geistige Provinz verleiten lassen. Wir lernten, wenn Flusser redet, geschieht Unvergleichliches. Kühne Theorie und gegen den Strich Gedachtes komprimiert sich zum rhetorischen Feuerwerk. Dabei kommt es nicht darauf an, alles zu verstehen, was Flusser sagt, sondern ihn zu erleben als eine jener großen Persönlichkeiten, die immer seltener werden. Das Credo seines Vortrags heißt: »Im Grunde ist Kitsch eine Methode, angesichts des Absurden des Menschseins gemütlich zu sterben. Und dies mag als Definition des Kitsches angesehen werden.« Seine Lust an kühnen gedanklichen Modellen neuer Perspektiven wirkt ansteckend und setzt sich in Mangolds Cafe-Garten fort.
Überhaupt lassen die Veranstalter dieses »Internationalen Kornhaus-Seminars« den Gästen viel Muße zum Gespräch, zum Spaziergang an den Ufern von Wildbächen -direkt aus einem deutschen Heimatfilm — und grünen Matten, wo die Milka-Kühe zu Hause sind. Und dann natürlich die Pross’sche Residenz: ein üppig
dimensioniertes Allgäuer Bauernhaus mit Blick auf Säntis et al, großer Wiese und ballsaalgroßer Tenne, einem Arbeitszimmer, in dem jede noch so große Bibliothek mühelos Stauraum findet. Unter der Linde im Garten bekommt der Gast an diesen Spätsommertagen einen Eindruck vom Vorzimmer des Elysiums.
Gegen Abend begibt man sich wieder ins »Kornhaus«, wo der Soziologe Philipp Wambolt in ironischer Verkehrung wissenschaftlicher Termini erklärt: »Ich trage meine Lederhose mit Betroffenheit, denn sie hat zwei Seiten!« Aus dieser kühnen Metapher, die er durch das Vorführen des zitierten alpinen Kleidungsstücks am eigenen Leib, in den Rang einer Performance erhebt, entwickelte Wambolt ebenfalls eine Theorie des Kitsches, die das »Sehen lernen« als wesentlichsten Punkt im verkitschten Alltag verstanden wissen will. Sein Credo: »Wahrheit der Idee und zugleich Wirken der Idee und so schön das Papier, auf dem alles steht; man kann es nebeneinander lassen…«.
In Weiler sind noch der italienische Politikwissenschaftler Carlo Mongardini, der Kommunikationstheoretiker Vicente Romano, der damalige Kultur-Chef von Radio Bremen, Helmut Lamprecht
und andere eindrucksvolle Geister zu hören. Mit einem Wäschekorb voll Tonbändern mit den Mitschnitten ihrer Vorträge und den anschließenden Diskussionen, reise ich nach acht Tagen aus der »pädagogischen« Provinz zurück in die urban-merkantile Stuttgarts.
Fortan gehören die spätsommerlichen Tage in Weiler zum festen Bestandteil des Kalenders — eine unplanmäßige, anregende Zäsur zwischen Sommer und Herbst. Ein paar Tage des geistigen Durchatmens. Es gelingt Harry Pross und dem Weiler’schen »Heimatverein« jedes Jahr aufs Neue, Themen, die im Schwange sind, originell zu verpacken. »Kornhaus-Seminar« Numero Zwei zum Beispiel nahm sich der strapazierten »Heimat« an und begann mit einem Paukenschlag: Lew Kopelew diskutierte mit Lilly Faktor-Flechtheim jüdisches Verständnis von Heimat und Heimatlosigkeit in einer »Zeit der Heimatlosen« . Die verlorene Heimat des Emigranten als Verlust sämtlicher Wurzeln oder die Chance zu einem Leben als Kosmopolit? Ein aufregender Diskurs über das Selbstverständnis von Intellektuellen vor dem Hintergrund der politischen Wirklichkeit in dieser Zeit.
Dazu die Umgebung des sämtliche Versatzstücke zum Thema sinnfällig demonstrierenden Kornhaus-Museums, mit anheimelnd rauschendem Hausbach vor der Tür! Auch die Mittagsglocke auf dem stattlichen Bauernhof der Pross’schen Nachbarn funktioniert noch. Im Festsaal vis-a-vis des Kornhauses spielt ein Laien-Theater-Ensemble abends einen »Bauernschwank« im Stil des »Komödienstadls«. Die »Heimat in vertrauten Gesten« — der Titel eines Referats — und ihre Brechungen gaben diesem Seminar etwas über den Tag hinaus Weisendes. Rückblickend wurde hier die gesamte Heimat-Diskussion der 80er Jahre auf den Punkt gebracht. Jenes Besinnen auf Heimatliches als Wert an sich, ohne die »Heimat zu verklären, die man nicht mehr hat«(Pross).
Das »Absehiednehmen« von gewohnten Ritualen des Alltags wird zum wichtigen in vielen Referaten, die im Rahmen der Weilerer Kornhaus-Seminare gehalten werden. Wobei der gewohnte Rahmen von Jahr zu Jahr vertrauter wird — der ist inzwischen mit der Infrastruktur — die Gastronomie oder die Konfektion betreffend — wohl vertraut. Die Neugestaltung des Marktplatzes wird ebenso registriert, wie die Einführung eines Geldautomaten an der
Sparkasse. Die Aussenwelt kontrastiert angenehm mit der irritierenden Innenwelt der Vorträge im Kornhaus. Mit dem »gefütterten« Menschen und dem »Essen nach Tschernobyl« beschäftigte man sich 1986 in Weiler. Für Abraham Moles war die »Mahlzeit ein Mikroereignis des Tages«, wobei er die Frage offen ließ, ob »Esskultur ein Produkt der Wünsche oder der Bedürfnisse« sei. Dazu meinte ein anderer Seminarteilnehmer anschließend: »Je faster desto freier, oder!?« Moles konterte: »Je naher man sich dem wesentlichen nähert, desto pitoresker wird man…«. Vilém Flusser entwarf eine kühne Vision von der Herstellung eines Menüs als Symbol für die Komplexität der Welt als einer »brodelnden Suppe, in die ein gewaltiger Kochlöffel eintaucht, um mit der Suppe eins zu werden«. Die örtliche Gastronomie offerierte im Anschluß regionale Feinschmeckereien ohne theoretischen Überbau.
Hermann Cohens These vom »Sinn der Freundschaft« stand 1987 über dem »Kornhaus-Seminar«. »Freunde und Andere — Nachdenken über Freundschaft« als Motto: »…die allgemeine Signatur des geistigen Verkehrs, wie sie für das Zeitalter charakteristisch ist, denen ihre jeweilige Kultur mißhagt und die das Vorgefühl einer Umwandlung der Dinge haben. In solchen Fällen klammert
man sich an das Urgefühl der Freundschaft…«. Zu den eindrucksvollsten Erfahrungen dieser Weiler-Tage gehörten die bestimmten, klarsichtigen Standpunkte von Raissa Orlowa-Kopelew, die in ihrem 1984 in deutscher Übersetzung erschienenen Erinnerungsband »Die Türen öffnen sich langsam« geschrieben hat: »Zu zweit schweigen zu können, gehört zu den kostbarsten Geschenken, die Freundschaft, Liebe und der einfache menschliche Umgang gewähren können. Unantastbarkeit des seelischen Territoriums — welch unschätzbares Recht des Menschen.« In der, für den Kurzzeitgast, anscheinend unversehrten Idylle des Allgäus, bekommt das Gespräch über »Freundschaft im Zeitalter der Abschreckung« etwas Ermutigendes und Erschreckendes zugleich. Noch ahnt man nicht, wie sich die Freund- und Feindbilder in naher Zukunft dramatisch verschieben werden. Doch in allem, was gesagt wird, schwingt mit, daß die Verhältnisse nicht so bleiben können, wie sie sind. »Freundschaft als Beweis der Humanität«, heißt es in der Einladung.
Über Freund- und Feindbilder, das Freundschaftliche und die Abgrenzung zu reden, wurde 1988 zum »V. Internationalen Kornhaus-Seminar« nach Weiler im Allgäu eingeladen: »Mundart und
Mündigkeit« war es überschrieben. »Dialekt, Schriftsprache und Computer in Konkurrenz« , so der Untertitel, nannte Vilem Flusser Codes, die dringend der »Umcodierung« bedürften. In seinen provozierenden Thesen zur Eröffnung sagte er dem bisher gewohnten sprachlichen Ausdruck durch die Schrift ein baldiges Ende voraus. Dies sei kein Verlust, im Gegenteil, neue Perspektiven der Kommunikation würden dadurch eröffnet — dank elektronischer Medien. Die Mühsal der Schriftsprache lasse sich durch ein »Alphabet der Bilder« überwinden.
Denn: »Solange man spricht, wie einem der Schnabel gewachsen ist, spricht man unklar und nicht exakt!« Das Präzise und Exakte war es immer, was Flusser am meisten interessierte, Mundart ihm folglich ein Graus. Natur verlange nun einmal danach, kalkuliert zu werden, wenn sie beherrscht werden wolle. Dies steht für Flusser außer Frage. Eine Möglichkeit dazu, sieht er in einer Umkehr von sprachlichem Denken in bildliches Denken. Das Publikum im wieder voll besetzten Kornhaus war angenehm verwirrt, wie meistens nach den kühnen Meisterwerken konkreter Utopie, die Flusser als rhetorischer Feuerwerker vortrug.
Seit seinem ersten Auftritt in Weiler hatte ihn inzwischen auch das bundesdeutsche Feuilleton entdeckt. Den Kulturbetrieb als solchen betrachtete er mit ironischer Distanz — im übrigen auch die Kornhaus-Seminare in Weiler.
Der Befindlichkeit realer gesellschaftlicher Wirklichkeit, ihrem sprachlichen Ausdruck gilt Harry Pross‘ besonderes Augenmerk. Er sucht, im Gegensatz zu Flusser, das »Fremde im Vertrauten« und umgekehrt. Ihm bereitet die sprachliche Uniformität der »Informationsgesellschaft« Sorge — ebenso wie die Einflüsse der elektronischen Medien, die aus fern nah und aus nah fern machen. Pross hofft auf die Rekonvaleszenz des »Jargon der Alltäglichkeit«. Daraus folgert der Spanier Vicente Romano, der vom Jargon der zahllosen privatrechtlich organisierten, lokalen Rundfunksender in seinem Heimatland berichtete, daß aus der Mixtur von sprachlichen Versatzstücken der elektronischen Medien und altvorderer Schriftsprache, die Mundart als »gebrochene Sprache« übrig bleibt. Ein anderer Seminarteilnehmer sagte im Hinausgehen, Mundart sei sowieso immer eine politische Frage, zwischen dem Gewöhnlichen und dem Allgemeinen eben.
Für Hermann Bausinger beginnt das Problem bei der »Reichweite von Mundarten« . Losgelöst aus ihrem geographischen und sozialen Umfeld werden Dialekte »negativ nivelliert« bzw. zur Karrikatur, verlieren ihre Bedeutung als Ausdruck von Alltagskultur.
An diesem »Kornhaus-Seminar« über »Mundart und Mündigkeit« wurde die Sinnhaftigkeit des »Weiler Stils« erneut deutlich: es werden Anstöße gegeben, die Plötzlich über das eigentliche Thema hinaus ganz andere Bereiche berühren und verblüffende Zusammenhänge offenkundig werden lassen. Die Sprache wurde hier schließlich als Reflex einer Gesellschaft im Umbruch begriffen.
Dabei kommt es nicht darauf an, bei der Abreise von Weiler die Welt in neuer Verpackung mit nach Hause zu nehmen, sondern auf das angenehme Gefühl, neue Perspektiven des Denkens erfahren zu haben. Die Begegnung mit großen Persönlichkeiten wie den Kopelews, den Flussers, Solms, Hans Abich oder Salcia Landmann in einer entspannten Ferienatmosphäre, machen die »Kornhaus-Seminare« so bedeutsam. Wie ein sprödes Thema, »Kriterien des Gedenkens« , lustvoll »angegangen werden kann, erlebte das Weilerer Publikum 1989. A propos Publikum: auch das ist ein Markenzeichen dieser Veranstaltung. Einheimische und Auswärtige kommen für vier Tage zusammen, um über Fragen nachzudenken, die nicht unbedingt mit der Bewältigung des Alltags in ursächlichem Zusammenhang stehen. Zwar sind die angereisten Intellektuellen in der Überzahl, aber die »Internationalen Konrhaus-Seminare« sind zu
einem festen Bestandteil der örtlichen Kultur geworden — ganz selbstverständlich gehören sie mittlerweile dazu. Der Bürgermeister lädt die Teilnehmer jetzt zum Auftakt zum Empfang in den Rathaus-Sitzungssaal… Roswitha Ennemoser vom »Westallgäuer Heimatverein«, aus Südtirol gebürtig, hat zusammen mit Harry Pross die Institution »Kornhaus-Seminar« zu einer nonchalanten Angelegenheit gemacht, die mit Feinsinn und Diskretion in die zurückhaltende örtliche Kulturlandschaft integriert wurde. Deshalb wurde daraus auch keine rein »auswärtige Angelegenheit«, die sich einmal im Jahr mit exotischen Paradiesvögeln schmückt und ebensogut woanders stattfinden könnte.
Christa Dericum nahm sich bei »Jubilieren und Memorieren« ganz selbstverständlich des Bildhauers und Malers Kurt Passon an. Passon lebt und arbeitet in der Nähe von Weiler. Er ist einer der originellsten Querdenker, die man sich vorstellen kann, sein vielfältiger Stil entzieht sich der einfachen Katalogisierung. Aquarell oder Federzeichnung, Vertrautes und Entrücktes, Freundliches und Unheimliches gehen in seinen Bildern eine verblüffende Verbindung ein, wobei es der Künstler mit dem besonderen geistreichen Witz seiner
Persönlichkeit versteht, den Betrachter aus der Reserve zu locken. Christa Dericum nannte ihre Einführung in das Werk Kurt Passons »Urgedächtnis — Bilder« . Kurt Passon und seine Frau gehören von Anfang an zu jenen, die den »Kornhaus-Seminaren« Profil geben.
Die Passon’schen Vorlagen für die »Kornhaus-Seminar«-Plakate haben sich inzwischen zu einem Gütesiegel entwickelt. Auf einem stehen folgende Sätze: »Es war einmal ein Mann, der sagte er sei sehr klug, denn er wisse alle Wege in dieser Welt. Es dauerte aber nicht sehr lange, da wurde er nicht mehr gesehen. Er hatte sich verirrt und so wartet man noch heute auf seine Wiederkehr…«. Ein anderes Paradoxon aus den Weiler Erinnerungen prägte 1990 Abraham Moles in Verbindung mit »Freizügigkeit und Vorurteile im Europa der Regionen« , indem er sagte: »Was ist ein Chinese in Weiler? Ein Phänomen!« Pross dazu: »…und viele Chinesen werden als bedrohlich empfunden…«. Da haben wir es wieder, die Sprache und die gesellschaftliche Wirklichkeit. Ein Thema, das in diesem Moment nur subkutan von der Allgemeinheit als relevant
betrachtet wurde, ist in Weiler gewissermaßen »vor der Zeit« thematisiert worden. Noch konnte oder wollte sich kaum einer vorstellen, was ein paar Jahre später in Mölln oder Hoyerswerda passierte. Inzwischen ist es »an der Zeit«, die »schreckliche Sünde des Sitzens abzusitzen«(Flusser).
Neben den »Stamm-Referenten« wie Vilem Flusser und Helmut Lamprecht sind auch in diesem Jahr in kluger Kombination wieder Beiträger nach Weiler eingeladen worden, die zum erstenmal mit von der Partie sind. Das spannende Thema erlebte eine nicht minder spannende Rezeption zwischen Webrahmen und Dreschflegeln.
Auch im darauffolgenden Jahr wurden in der letzten Augustwoche im Kornhaus zu Weiler wieder »Botschaften der Freiheit« programmatisch und phantasievoll gleichermaßen angeboten: Märchen. Vom Märchenerzähler aus Kurdistan, der für die Sektion 1001 Nacht zuständig war, bis zu Günter Kunerts kühnen lyrischen Phantasieflügen reichte das Spektrum.
Über dessen — bildlich gesprochen — »Ausgerissene Flügel« sprach der in literarischen Flugsachen als Experte ausgewiesene Helmut Lamprecht. Eher skeptisch beurteilte der Pädagoge Manfred Schmeichel die märchenhafte Utopie von der »Botschaft der Freiheit« . Ob »Hans im Glück« denn zum Schluß seiner Odyssee ein Gefühl der Freiheit wenigstens sicher hatte — darüber waren sich die Teilnehmer des Seminars am nächsten Morgen höchst uneins. Sein Pendant Sailor in »Wild at heart«, dem Film von David Lynch, hat zwar die konkrete Erfahrung amerikanischer Möglichkeiten, ist am Ende seines Weges aber auch nur bedingt frei: ein Nachmittagsvortrag beschäftigte sich an seinem Beispiel mit »Märchen auf Zelluloid« .
Wo fängt die Wirklichkeit an, wo hört das Märchen auf? Etwas, das schwer zu bestimmen ist. Die Tage von Weiler waren ein Ausflug in die jeweilgen Tag- und Nachtseiten. Und Freiheit? Die ist selten, auch im Märchen; die Dreifaltigkeit Märchen, Mythos, Phantasie gehalten, Freiheiten mehr einzuschränken, als zu eröffnen. Den entsprechenden Diskurs dazu lieferte Wulf Wülfing.
Es waren keine Märchenstunden, die der »Westallgäuer Heimatverein« und Harry Pross anboten. Getreu ihrer Maxime, daß Sprache die Welt zwar beschreiben, aber nur selten erklären kann, wurde das Märchen als spiritueller Versuch erklärt, die Schrecken der Welt in verwertbare Formeln umzuwidmen. Gedankenflüge aus der Wirklichkeit, wie von Peter und Anneliese, die in Basewitz‘ »Peterchens Mondfahrt« das Fliegen lernen. Doch sie haben wenig Freude daran, in der Galaxie haust der böse Mondmann und reißt Maikäfern Beine aus. Für die beiden Kinder jedoch ist es nur ein Spiel, ein Traum, aus dem sie aufwachen dürfen, auch Schneewittchen spuckt den Apfel wieder aus. In vielen Märchen nimmt die Geschichte im Spiel ihren Lauf: Man kommt vom Wege ab, verliert sich in der Liebhaberei, die dann zum Alp wird. E.T.A. Hoffmann hat es immer wieder beschrieben. In Mozarts »Cosi fan tutte« wird aus weltfremdem Spiel bitterer Ernst. Über das Spiel kommen die Protagonisten auf einer anderen Seite der Wirklichkeit an, aus der es, im Gegensatz zum Märchen kaum Hoffnung auf Befreiung gibt.
Deshalb war es konsequent weiter gedacht, auf das Märchen, das Spielen folgen zu lassen: »Vom Spielen« nannte sich das »IX. Internationale Kornhaus-Seminar« 1992. Im Mittelpunkt stand ein provozierendes Referat des jüdisch-schweizerischen Psychotherapeuten und Kulturphilosophen Aron R. Bodenheimer über »Cosi fan tutte« . Eine Interpretation der Oper gegen den Strich, die bei strengen Musikwissenschaftlern helles Entsetzen auslöste. Ein typisches Kornhaus-Ereignis. Ein weiteres Mitglied aus der Reihe brillanter Querdenker gab sich die Ehre: Liebe als Spiel: sie ist das Aufregende, Treue, das Langweilige. Im Übrigen sei auch »Schaffen und Scheißen eins«, meinte der Referent beiläufig, wenn man es als sinnliche Lust und/oder Spiel betrachte. Mit Moral habe das alles sowieso nichts zu tun, das Spiel als Solches entziehe sich derlei Kategorien. Im Übrigen könne man aus Moral auch keine Musik machen…
Aber aus Spiel kann sehr schnell blutiger Ernst werden, nämlich dann, wenn die Spielregeln negiert werden — Mozart und sein Librettist Lorenzo da Ponte haben es in »Cosi fan tutte« exemplifiziert. Mit ähnlicher Genialität einige hundert Jahre später in einem anderen Medium, der französische Filmregisseur Jean Renoir: »La
règle du jeu« (1939) zeigt den spielerischen Zeitvertreib einer Schloßgesellschaft mit Hasenjagd und anderen Lustbarkeiten. Irgendwann wird daraus Mord und Totschlag. Auch die arbeitslosen Jugendlichen in der Nähe von Stuttgart wollten eigentlich nur Spaß machen, als sie im Sommer 1992 einen albanischen Arbeiter mit einem Baseballschläger umbrachten. »Spiel kann mörderisch sein«, sagte Harry Pross in seiner Einführung in das Seminarthema.
Spannend wurde es deshalb bei diesem Thema dann, wenn es um die Bestimmung von Nahtstellen ging, wenn das Spiel aus und kein Spiel mehr ist. Rudolf Prinz zur Lippe: »Spiel wird seit einiger Zeit nach zwei Seiten bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Entweder interessieren sich die Intellektuellen nur für die Regeln oder Spielerei wird als Freizeitspaß, gelegentlich auch als ‚Motivation‘ für den Ernst des Lebens eingesetzt. Wesen allen Spielens ist jedoch gerade Bewegung in Wechselbeziehungen zwischen Fortsetzung und Veränderung, Erwartung und Zufall. Hier wie Dort, Mir und Dir, Struktur und Ruß, Zeit und Ewigkeit…«
Lippes Vortrag, »Gelebte Form, die spielend sich entwickelt« überschrieben, bildete den Abschluß des Seminars. Ein würdiger Schlußpunkt. Mit einem Seminar über die »Zeit« soll die Kornhaus-Ära Pross 1993 zu Ende gehen. Vielleicht ist das konsequent, denn: Auch das Unkonventionelle und geistreich Ungewöhnliche unterliegt der Abnutzung. So werden diese Korhaus-Seminare ihren Glanz behalten… Ein spätsommerlicher Glanz, zu dem die üppigen Balkonkasten-Geranien am Hause Anneliese ebenso gehören, wie die letzten warmen Tage des Jahres in den Pausen vor dem Kornhaus. Bei der Abreise war es meist kühl — es herbstelte…