Fünfzig Jahre nach der Machtübergabe an Hitler findet sich die Zweite Deutsche Republik in einer wirtschaftlichen Krise, ähnlich derjenigen, die der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei Hitlers die Wähler in Millionen zutrieb. Anders aber als 1932/33 kann die parlamentarische Demokratie heute als stabil gelten, vielleicht im Verhalten ihrer Repräsentanten eher als überstabilisiert. Es besteht offensichtlich eine Differenz über das Machbare und Wünschbare zwischen »Bonn« und der »Basis«, wie die gängigen Ausdrücke für Kommunikationsschwierigkeiten zwischen Regierenden und Regierten heute lauten. In ihrem vierten Jahrzehnt steht die parlamentarische Demokratie der Bundesrepublik zum ersten Mal auf der Probe.
In einer solchen Situation stellt sich die Frage nach dem gemeinsamen Orientierungsrahmen, nach der Ideologie. Da ist es mit vollmundiger Rede nicht getan. Offensichtlich reduziert die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise die schon durch das Tempo des sozialen Wandels verringerte Möglichkeit zu antizipieren, private und öffentliche Pläne zu machen, auf ein Minimum. Jeder steckt zurück. Wenn aber private Hoffnungslosigkeit und öffentlicher Orientierungsmangel zusammenkommen, ist Gefahr im Verzug.
Damals füllten sich die braunen Uniformen mit Existenzen, die ihren eigenen Lebensplan retten wollten, den die Niederlage im Ersten Weltkrieg, die Inflation, die Arbeitslosigkeit zunichte gemacht hatten. 1919, 1923, 1929, 1933 als Eckdaten genommen, waren nur 14 Jahre im Leben der Zeitgenossen; aber genug, um eine Masse von frustrierten Jungen und depossedierten Alten zusammenzubringen. Auch heute geht es nicht nur um die leeren Kassen der Ämter, der Firmen und der Privaten, sondern um die Verluste an Zukunftserwartung und an Mitteln der Selbstdarstellung in der Gegenwart, von der jegliche Zukunft ausgeht. Der Arbeiter oder Werkmeister, der es in ununterbrochener Betriebszugehörigkeit »zu etwas gebracht« hat, der womöglich mit einem staatlichen Verdienstorden ausgezeichnet worden ist zu seinem 25. oder 40. Jubiläum, aber danach entlassen wird, muß am »System« ebenso zweifeln wie der im Überfluß aufgewachsene Junge, dem jetzt die Ausbildung im Betrieb oder an der Universität verweigert wird oder den der Staat für das bestandene Staatsexamen nicht honoriert.
»Ich verstehe die Welt nicht mehr, es gehet ein ander Welt herfür«, heißt es bei einem Chronisten des Spätmittelalters und am Ende eines Trauerspiels von Hebbel. In der sozialen Praxis steht die-
ser Satz am Anfang der Tragödie. Wer »nicht mehr« zu verstehen glaubt, wird Anschluß an Traditionsbestände suchen, die einfache Schlüsse zulassen, »fragwürdige Traditionsbestände«, wie sie Hannah Arendt beschrieb. Ob er im Einzelfall je verstanden hat und ob das »nicht mehr« wahr ist, kann dahingestellt bleiben. Wir haben in den letzten Jahren eine allgemeine Rückwendung zu verzeichnen, die ich mir nicht im entferntesten so weitgehend vorgestellt hatte, als ich 1965 einen Essay zur »Dialektik der Restauration« veröffentlichte. Das war vor der »Nostalgie«, lange vor der »Tendenzwende« und vor dem Ruf nach dem »einfachen Leben«, der und im Grünen. Es war aber auch, ehe eine amerikanische Raumfähre 1982 zwei kommerzielle Fernsehsatelliten als Waffen der Massenlenkung im All stationierte, vor der Stationierung von Waffen zur Massenvernichtung. Wird diese Stationierung eines Tages so wenig verhindert werden, wie der Kampf der Supermächte um die symbolische Herrschaft aus dem Weltall verhindert worden ist?
Elektronische Lenkung der Völker und Atombombe machen unsere heutige Lage mit jeder vorhergegangenen unvergleichbar, auch mit der vor 1933. Ich bin der Meinung, daß die elektronische
Magie gewichtiger ist, weil sie unser »symbolisches Universum« (Ernst Cassirer), in dem wir zu Menschen werden, radikal ver-ändert, freilich vor dem Hintergrund möglicher Selbstzerstörung der Menschheit.
Die Neuauflage des vorliegenden Buches soll vor falschen Rückbesinnungen warnen. Sie mag auch nützlich sein, die Sprechblasen gewisser Politiker auf ihre Herkunft zu orten. Ich schrieb es in den fünfziger Jahren, um nach dem Chaos der Hitlerzeit die Komponenten der Ideologie zu verdeutlichen, in welcher der Nationalsozialismus groß werden konnte. In glücklichen Heidelberger Studienjahren (1945-49) durch Alfred Weber, Gustav Radbruch, Willy Hellpach und nicht zuletzt Hans v. Eckardt thematisch aufgeweckt, fand ich 1952 bei einem Forschungsaufenthalt an der Hoover Library in Stanford/Kalifornien Material, das damals in Deutschland nicht zugänglich war. Die Form, die es dann in der damaligen Fischer Bücherei annahm, war bedingt durch Walther Hofers Dokumentenband »Der Nationalsozialismus« und durch die anderen Bestrebungen des Verlags, allgemeinverständliche Schlüsse aus der Zeit vor Hitler für die Zeit danach zu ziehen. Hans Rothfels‘ »Die deutsche Opposition gegen Hitler«, Janko v. Musulins »Proklamationen der Freiheit« erschienen in derselben Reihe.
»Die Zerstörung der deutschen Politik« dachte ich mir in den fünfziger Jahren als publizistische Herausforderung. So spiegelt sie die Auseinandersetzungen jener Jahre mit dem »Neo-Nazismus« wider, der die Integration der Rechtsparteien in die CDU überlebt hatte. Es war und scheint mir auch heute nötig, über die deutsche Orientierung nachzudenken, in welcher die Naziideologie nur ein Teil war. Der Sozialdarwinismus, der ihr vorausging, lebt wie eh und je und schafft sich seine Opfer.
1983 neu geschrieben, würde das Buch sich zuerst mit der seither verbreiteten Mode auseinandersetzen müssen, eine Ideologie des Faschismus vorauszusetzen und dann die deutsche Spielart zu beschreiben. Ich bin der Meinung, daß der Nationalsozialismus als deutsches Phänomen verstanden werden muß, neben dem sich die gleichzeitigen Faschismen vergleichsweise gesittet ausnahmen, und würde etwas zu Stalins richtigem Wort sagen, daß »Hitler kommen und gehen, aber das deutsche Volk bleibt«. Wir sind es gewesen, die den europäischen Antisemitismus zu einer perfekten Mordmaschine entwickelten, nicht die Anhänger der Mussolini, Franco, Pilsudski und wie sie alle heißen mögen. Auschwitz bleibt unser Problem und nicht das der ukrainischen, tschechischen, polnischen und sonstigen Folterknechte. Auch versagte die marxistische Klas-
senpolitik, mit der sich Linke heute gerne herausreden möchten. Die stärkste Arbeiterbewegung der Welt hat im Land von Marx und Engels einen Hitler weder verhindert noch beseitigt. Die deutsche Bourgeoisie hat ihren historischen Unterwerfungen unter unkontrollierte Mächte Schande zugefügt, die noch heute brennt.
1983 sind die Leser dieses Buches andere als bei der ersten Ausgabe; auch der Autor schreibt mit 60 Lebensjahren anders als mit 30; aber die Probleme der Völker ändern sich so schnell nicht. Die Erstausgabe rief böse Kritik von Leuten hervor, die sich ihre »Vergangenheit nicht kaputtmachen lassen« wollten. Die Gemeinsamkeit von Vergangenheit ist heute eine andere als 1958. Viele Zeitgenossen sind verstorben. Die Vergangenheit der zwölf Jahre »Drittes Reich« ist noch vergangener als dazumal. Die Geschichtsschreiber heben dies und jenes aus der Vergangenheit hervor, anderes nicht. Was vergangen geglaubt wird, kann aber in anderer Form wieder auferstehen.
Die rationale Unterscheidung ist in den höchst komplizierten, von Zeitmangel, Erfahrungsarmut und stereotypen Vereinfachungen gezeichneten Lebenszusammenhängen eher schwieriger geworden als in den fünfziger Jahren.
Der aufmerksame Leser wird in den Dokumenten dieses Bandes Argumente wiedererkennen, wie sie heute von Leuten gebraucht werden, die um 1933 und später geboren worden sind: sie wissen nicht, wessen Sprache sie reden.
Wissen sie es wirklich nicht? — Sie verschärfen jedenfalls die gegenwärtige Krise. Es ist, wie Heinrich Böll 1952 in seinem »Bekenntnis zur Trümmerliteratur« schrieb, noch immer »unsere Aufgabe, daran zu erinnern, daß der Mensch nicht nur existiert, um verwaltet zu werden — und daß die Zerstörungen in unserer Welt nicht nur äußerer Art sind und nicht so geringfügiger Natur, daß man sich anmaßen kann, sie in wenigen Jahren zu heilen«.
Der Widerwillen gegen das Unbillige, Ungerechte, weil Dogmatische wächst in Deutschland; aber von der humanen Unabhängigkeit des Erasmus sind wir in diesem »Luther-Jahr« 1983 noch weit entfernt. Das »cedo nulli« (»ich weiche keinem«) des Humanisten ist die Hoffnung für morgen.
Harry Pross