Protest! Protest! Hungerrevolte in Albanien. In Paris blockieren wohlgenährte Bauern auf ihren Traktoren die Boulevards. Sie sind gegen die Landwirtschaftspolitik der EG in Brüssel. In ihrer Existenz bedrohte ostdeutsche Arbeiter besetzen die Fabriken. Rituale der westdeutschen Tarifpolitik: Öffentlich Bedienstete verlangen auf der Straße höhere Löhne. In der Schweiz ist ein weiteres Heim für Asylbewerber abgebrannt. In Palästina versuchen Halbwüchsige, israelische Besatzungssoldaten zu steinigen. Rassenunruhen in USA. Weiße Südafrikaner fahren laut hupend in ihren Cabriolets durch die Straßen: Protest gegen die Rassenpolitik ihrer weißen Regierung. In Moskau prügeln russische Polizisten auf demonstrierende Altkommunisten ein. Tschechischer Protest gegen die Auflösung der Tschechoslowakei. Friedensfreunde in Belgrad gegen ihre kriegführende Regierung. Vertreter bedrohter Völker gegen den «Umweltgipfel» in Rio de Janeiro…
Das Fernsehen funkt die Meldungen täglich in jedes Haus: vielerlei Demonstrationen ungewöhnlichen Verhaltens, Mord, Totschlag, hochgerissene Fahnen, Transparente, herab gezerrte Denkmäler, verwüstete Friedhöfe, Streiks, protokollarische Selbstdarstel-
lungen der Macht, Umzüge, Aufmärsche, Massenkundgebungen und Einzelattentate, und neue Parolen, immer wieder neue Parolen… Spruch und Widerspruch, Protest und Gegenprotest.
Liegt nicht schon ein Widerspruch zwischen dem Weltbild, das wir täglich vorgesetzt bekommen, und der Wirklichkeit? Ist die Protestgesellschaft nur ein Phantom der Mediengesellschaft, die ihre globale Vernetzung mit Sensationsnachrichten finanziert? Was täglich auf den Philippinen, in Kambodscha, in Brasilien oder in Indien geschieht, erfahren wir auf dem Bildschirm nicht, vielleicht auf der dritten oder vierten Seite der Tageszeitung. Wenn aber Empörer einen Prominenten verprügeln, Autos in die Luft gesprengt werden, Feriensiedlungen in Korsika angezündet werden oder Indianer sich gegen »Siedler« wehren, dann flimmert das Ereignis noch am selben Tag satellitenvermittelt ins Haus. Am farbigen Abglanz haben wir das Leben, schrieb Goethe.
Ist es das Leben, was da abglänzt? Protest ist Wirklichkeit (was immer das heißen soll), aber vielleicht ist er schon darauf angelegt, übertragen zu werden? Das läge nahe, denn er leitete von einem Zustand in den anderen über. Proteste können sowohl Hergebrachtes
verteidigen wie Neues ankündigen. Bestenfalls erleuchten sie für einen Moment den Geist, indem sie Möglichkeiten zeigen, wo vorher keine gesehen wurden. Sie sind ihrer Sache nach auf Publikum angewiesen, warum dann nicht auf das größtmögliche?
Aber wie verhielt sich Protest unter anderen Kommunikationsmöglichkeiten? Abraham und Prometheus, jener Jesus von Nazareth, der die gesicherten Einnahmen des Tempels störte, indem er gegen Händler und Geldwechsler handgreiflich wurde? Sie relativieren die Annahme, der tägliche Protest sei nur ein Produkt der Medienindustrie. Diese ihrerseits eine Agentur der Werbewirtschaft und die ein Motor des Konsumkapitalismus.
Zwar bestimmen die Mitteilungsstrukturen die Reichweiten und die Zeiten der Übertragung. Sie sind das Leben, das den farbigen Abglanz produziert; aber der ist nicht »das Leben« selber. Es gilt, Bild und Sache zu unterscheiden, das, was wir uns vorstellen, nicht zu verwechseln mit dem, was wir wahrnehmen, und die Wünsche der Protestierenden von deren Erfüllung möglichst scharf zu trennen.
Der Essay soll keine Weltgeschichte des Protests sein; obwohl sich die Weltgeschichte so gut wie als Weltgericht auch als Weltprotest lesen ließe. Schließlich ist der Protest auch ein fortlaufendes Verfahren. Die folgenden Seiten widersprechen lediglich der Annahme, daß gegensprechen, sich widersetzen, vor anderen bezeugen »nichts bringt«.
Solche Einschätzungen häufen sich aus vielerlei Gründen. Da ist die Ohnmacht des einzelnen gegen die Übermacht der unentrinnbaren Großformationen, den Bürokratien mit ihren vernetzten Datenspeichern. Die Angst vor Umweltverlust und die Angst vor den Folgen der Gentechnik. Die alltägliche Beschränkung des individuellen Aktionsradius im Verkehr. Die larvierte Depression, im Atomzeitalter zu leben.
Die Erfahrung, daß der Widerspruch sich häuft und gehäuft doch nicht das erbringt, was er bezwecken sollte, deprimiert viele. Aber daß Protest anderes bewirkt, heißt nicht, daß er nichts bewirkt, sondern nur, daß er in seinen Kettenreaktionen schwer abzuschätzen ist. Das enttäuschende Ergebnis zeugt nicht gegen den Widerspruch, sondern von der Inkompetenz der Schätzenden. In der Welt der Gedanken, fand Pascal, nimmt unsere Vernunft eben den
Ort ein, den unser Körper in der Weite der Welt hat. Das ist nicht eben viel, weil unsere geistigen Fähigkeiten auf die Sinne angewiesen sind. Sie bleiben auch im Zeitalter globaler Vernetzung auf das Wahrnehmbare beschränkt. Die ins Haus gefunkte Welt endet doch im Rechteck des Gerätes. Trägt sie Widerspruch heran, so müssen die Sprachkenntnisse und das Sprachgefühl des in seinen Sessel gebannten Empfängers ihn erschließen, sonst bleibt er ein Potpourri zusammengesetzter Worte und Bilder. Das gleiche gilt für den nichtsprachlichen Ausdruck von Unwillen gegen eine Willensäußerung. Auch Gesten, Mimik, Habitus, das affektierte Auftreten und das bescheidene Getue, der fromme Augenaufschlag und die kokette Attitüde sind vor Fehleinschätzungen nicht sicher.
Spruch und Widerspruch stehen also nicht nur für verbale Bekundungen, sondern für vorlogische Äußerungen des Willens und Unwillens. Neben, vor und mit dem sprachlichen Zeichenvorrat kommt eine gewisse Sensibilität für noch schwerer einzuschätzende Verhaltensweisen in Betracht, wenn von der Wirksamkeit des Widerspruchs die Rede sein soll. Deshalb ergänzt Bildmaterial den Text.
Die Illustration dieses Buches zielt also auf Reproduktionen, die »an sich« etwas mitteilen und die Sensibilität des Betrachters für die Grundkategorien aller bildlichen Darstellung stärken: oben und unten, hell und dunkel, innen und außen — »Nieder mit dem Aufruhr!«, »Ausländer raus!«. Es sind die Kategorien, in denen sich auch der nichtverbale Widerspruch selbst bewertet — »Hoch« die Protestierer — »Nieder« seine Adressaten. »Hell« die »Aufklärung«, die sie verkünden, »dunkel« die Mächte, die ihr widerstehen. Und wenn auch die Zwingherren drinnen sitzen wie die Besitzenden aller Klassen, von Höfischen über die Bürger bis zu den Bürokraten unserer Tage, so formiert sich dennoch die Opposition, wenn sie draußen sich bewegt, um einen inneren Kern, der in der Demonstration in der Mitte der Vorwärts schreitenden erkennbar ist. Die Flächigkeit des Bildes, des Fotos, des Fernsehspots verstärkt noch den Eindruck des »Hohen« und »Innen«, verglichen mit der realen Bewegung auf der Ebene, die den wahrgenommenen Ausschnitt relativiert.
Ob der weniger telegene Widerspruch, der in einem Appell mit Unterschriftensammlung sich ausdrückt und höheren Ortes überreicht wird, mehr bewirkt als eine Straßendemonstration, kann ge-
nerell nicht entschieden werden. Das hängt vom Thema ab, von der Zahl der Protestierer, ihrer Prominenz, von den Adressaten und vom Publikum. In der Schweizer Verfassung ist die Petition ein Antrag des »Souveräns«.
Das Publikum öffnet sich dem Protest, trägt ihn weiter und kann das Thema sich zu eigen machen oder es verwerfen. Im Fall der Unterschriftensammlung bleibt der Eindruck abstrakt. Bei einer Straßendemonstration wirkt er auf die anwesenden Zeugen weiter und über Fotografen und Kameraleute durch die Bildausschnitte fort, die sie verfertigen und die über die Verteilungsapparate mit dem entsprechenden Kommentar versehen weiter verbreitet werden.
Was heißt Protest? Die Unterscheidung zwischen legalen Äußerungsformen und solchen Protesten, die nur dem Ausdruck des eigenen Selbst, der Selbstverwirklichung dienen, scheint mir von geringem Nutzen. Auch legitime Ausdrucksmittel bringen nichts anderes als das Selbst dessen ans Licht, der sie verwendet. Emotionen und Willensbekundungen kennzeichnen auch das legale politische Leben. Die Gegenüberstellung von illegaler Exaltation und legaler Bescheidung besagt dabei wenig.
Protestieren hat zu allen Zeiten immer wieder etwas anderes geheißen. Kein Protest ist außerhalb seines Anlasses zu verstehen und ohne Kenntnis dessen, wogegen er eingelegt wird. Auch kommt es sehr darauf an, wer protestiert, denn was bezeugt wird und wogegen Einspruch erhoben wird, hat seine Einheit nur im Protestierenden selber. Das Sichverwahren gegen etwas kann viele Gründe haben und so viele Äußerungen, daß es nicht ohne weiteres Protest genannt werden kann. Auch ein Türschloß ist eine eingelegte Verwahrung, aber es ist noch kein Protest. Ich kann aber eine Tür, die sonst offensteht, so schließen, daß der Protest deutlich wird: ich kann jemand aussperren, um ihm deutlich zu machen, daß mir sein Verhalten nicht gefällt. Dann protestiere ich gegen dieses Verhalten und liefere einen Beweis meiner Schlüsselgewalt.
An solchen kleinen Protesten ist der Alltag reich. Wir bezeugen mit ihnen unsere Unzulänglichkeit. Es ist dann nicht von Protest die Rede, sondern davon, daß man »es der Tante schon zeigen« will, wer der Herr im Haus ist, oder dem Neffen »beibringen, was sich gehört«. Jemanden absichtlich warten lassen, einem ein Bein stellen, jemanden nicht warnen vor drohender Unbill, ihn »hineinfallen« lassen — fast jede Art unfreundlichen Verhaltens ist vorstellbar, um
jemandem einen Denkzettel zu verpassen, der dem Protestieren gleichkommt. Protestieren heißt, sich gegen etwas oder jemanden verwahren: Im Italienischen protesto, französisch protêt, russisch, englisch, holländisch protest — ein wahrhaft europäisches Wort, das immer bedeutet: Einspruch erheben, sich verwahren, etwas abwehren wollen.
Protestieren heißt aber mehr als bloß widerborstig zu sein, unzugänglich und abweisend. Die Ausdrücke, die wir hierfür haben, genügen, um den jeweiligen Sachverhalt erschöpfend zu benennen. Im Protestieren ist die ganze Geschichte gegenwärtig, die den lateinischen Ausdruck bis heute erhalten hat. Wörter haben ihre Geschichte, und man kann nicht aus ihnen herausnehmen, was im Laufe von Jahrhunderten oder Jahrtausenden in sie eingegangen ist. So ist Protest eben mehr als Verwahrung und Einspruch und Verweigerung, obwohl es das alles auch heißt. Es hat die lange Geschichte in das Wort Protestieren jenen stolzen, nach vorne weisenden Ton hineingebracht, der bei Goethe so deutlich herausklingt: »Auch ich soll gottergebne Kraft / nicht ungenützt verlieren, / und will in Kunst und Wissenschaft / wie immer protestieren.«
Im Lateinischen protestari, das manche Wörterbücher verzeichnen, manche nicht, steckt außer der Vorsilbe pro = vorne, vor, für, das Hauptwort testa = das aus Ton Gebrannte. Dieses aus Ton Gebrannte ist die Scherbe, die beim griechischen Scherbengericht entschied. Auf Scherben wurden die Namen der zur Verbannung Verurteilten eingeritzt. Papier war zu teuer. Dadurch gewann testatio die Bedeutung von Anrufung zum Zeugen, und im Lateinischen heißt darum testatus = augenscheinlich, unleugbar, offenkundig, bezeugt. Das Bezeugte kehrt im modernen Gebrauch von Test als Warentest oder Schulreifetest wieder, aber auch im Testament, dem letzten bezeugten Willen, dem Vermächtnis.
Wer protestiert, bezeugt von Anfang an, daß er mit einer Sache nichts zu tun haben will. Er ist offenkundig gegen etwas, das heißt aber, für etwas anderes. Und so heißt protestieren eigentlich, eine andere Einstellung ganz vorne bezeugen, nicht unähnlich jenem griechischen Helden Protesilaos, der, obwohl er eine schöne Frau namens Laodamia hatte, als erster von allen Griechen an die trojanische Küste sprang und prompt als erster im Kampf fiel. Wäre er weiter hinten geblieben, hätte er noch länger leben können. Aber freilich, dann wüßten wir auch nichts von ihm, ein anderer hätte den Trojanischen Krieg eröffnen müssen…
Der Protest beantwortet also eine Mitteilung zwischen Menschen oder von Menschen und Sachen. Er setzt mindestens ein empfindendes Wesen voraus, das zu einem anderen sich verhält. Das heißt, daß dem Protest eine Verbindung vorausgeht: Erst muß einer und ein Gegenüber da sein, ehe einer von beiden sich gegen den anderen verwahren kann. Diese einfache Grundbedingung wird meistens vergessen, wenn vom Protest gesprochen wird. In der Volkslegende ist sie die Hauptsache. Im Sich-Verwahren gegen einen anderen ist die Anerkennung des anderen schon enthalten; genaugenommen ist der Protest ein Maß der Anerkennung, das ausmißt: bis hierher und nicht weiter.
Wo viel protestiert wird, ist viel Leben. Der Protest sichert den Spielraum der Freiheit. So heißt es in einem Gedicht von Herder: »Mustre die Ideen, / du Weise, Liebliche, und wähle dir… / die andern sende mit Protest zurück.«
Protest setzt Öffentlichkeit voraus. Als »Protestation« kam das Wort in das mittelalterliche Reichsrecht, um widersprüchliche Ansichten in das Verfahren einzubringen. Die nachhaltigste Wirkung hatte die »Protestation« reformwilliger Stände in der katholischen Kirche auf dem Reichstag von Speyer 1529. Sie brachte den Protestierenden die abwertende Bezeichnung »Protestanten« ein. Seitdem
ist der deutsche Begriff von »Protest« zugleich positiv und negativ besetzt, weit über das formale Verfahren hinaus.
Protest ist also eine Mitteilungsform. Sie hat folgende Merkmale:
1. Protest ist eine entschiedene, öffentliche Antwort im Widerspruch zu einer vorausgegangenen Mitteilung, eine wahrnehmbare Opposition zu einer Position. Er wendet sich immer an zwei Adressaten: an den Urheber der Mitteilung, gegen die sich der Widerspruch richtet, und an ein Publikum als dritte Instanz. Er soll dieses Publikum für die Opposition gewinnen.
2. Die Protestierer, die Adressaten des Protestes und das Publikum müssen durch ein Thema verbunden sein, das sie alle etwas angeht. Dieses Interesse zu finden und zu mobilisieren heißt, die Opposition weiter auszudehnen, sie zu propagieren. Die 14 reformierten Reichsstädte und fünf Fürsten, die 1529 protestierten, zogen die Gegenreformation auf sich, als sich ihre Position verbreitete. Man kann die Gegenreformation als Protest gegen die Protestanten verstehen, denn sie thematisierte den ursprünglichen Widerspruch aufs neue.
3. Der Protest kann nicht umhin, die Positionen, gegen die er opponiert, oder die Einrichtungen, denen er widerspricht, indirekt anzuerkennen. Wie der Dieb, indem er fremdes Eigentum ent-
wendet, den Begriff des Eigentums stärkt, so bestätigt der Protest gesellschaftliche Funktionsbereiche, indem er sie zum Thema macht. Deshalb wird gehäufter Protest leicht zum Spielball etablierter Interessen und zum manipulierbaren Instrument ihrer Funktionäre. In den Kalkulationen etablierter Parteien spielt die Frage nach eventuell mobilisierbaren Protestpotentialen eine wichtige Rolle.
4. Ein Thema, das alle angeht, rührt immer an letzte Fragen. Protest erhebt sich, wo Grundlagen des Denkens, Ursprünge des Lebens einzelner oder von Gruppen in Frage gestellt werden. In der »Protestation« von Speyer 1529 wollten die reformwilligen Stände nicht das Recht verlieren, das ihnen drei Jahre zuvor der Reichstag zugebilligt hatte, nämlich ihre Glaubensangelegenheiten selber zu bestimmen. 1526 hatten sie diesem Reichstagsbeschluß zugestimmt, 1529 verkündeten sie öffentlich, die Herrschaft über die Seelen stehe nur Gott zu und könne nicht Sache von Mehrheitsbeschlüssen sein. Damit stand »die Freiheit des Christenmenschen« zur Debatte, ein Prinzip, das alle anging und religiöse Widersprüche in den nachfolgenden Jahrhunderten speiste. Denn was er glaubt, ist dem Menschen am nächsten, und was ihm am nächsten ist, glaubt er gern. »Dies geht mir nahe«, anderes »sei fern von mir« bezeichnet in der
Umgangssprache den räumlichen Faktor des Fürwahrhaltens. Mit »eigenen Augen sehen« geht über das »Hörensagen« hinaus, obwohl das Hörensagen einen weiteren Umkreis erfaßt, als die eigenen Augen sehen können.
Sich eine Meinung über den Protest zu bilden ist im Politischen weniger leicht als gegenüber den vorpolitischen Formen, in denen das Gemüt leicht annimmt, was der Verstand mißbilligt. Radikale Gegner des Staates, wie der Freund Ralph Waldo Emersons, der amerikanische Anarchist David Henry Thoreau, haben darum die Meinungsbildung selber denunziert: »Wie kann sich jemand nur damit zufriedengeben, daß er eine Meinung hat! Was für eine Genugtuung liegt darin, wenn es seine Meinung ist, daß er bedrückt sei? Wenn dein Nachbar dich auch nur um einen Dollar betrügt, dann genügt es dir nicht zu wissen, daß du betrogen worden bist, auch nicht, ihm eine Bittschrift zuzustellen, er möge dir die Schuld zurückzahlen; vielmehr wirst du wirksame Schritte unternehmen, um sofort die ganze Summe zurückzubekommen und die Gewähr, daß du nicht wieder betrogen werden wirst. Wer nach Grundsätzen handelt, das Recht wahrnimmt und es in Taten umsetzt, verändert die Dinge und Verhältnisse; dies ist das Wesen des Revolutionären, es gibt sich nicht mit vergangenen Zuständen zufrieden.«
Zwanzig Jahre nach Thoreau, in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts, suchte in Frankreich A. Blanqui das dem Protest innewohnende irrationale Moment zu rechtfertigen:
»Die Theoretiker behandeln die Revolutionäre von oben herab übermütig unter dem Vorwand, daß diese keine Formel besitzen, um das zu ersetzen, was durch sie zu Boden falle. Warum sollten die Revolutionäre nicht gerade so gut eine Formel feststellen können wie diese so trefflichen Organisatoren? Sie haben ja nur zu wählen unter den Mitteln, die man ihnen anbietet, unter den von so vielen Architekten aufgeführten Gedankengebäuden. (…)
Alle verlangen von Euch eine Formel, eine Verwaltung, ein System, Verordnungen — die Anarchisten, die Gegner der Regierung ebensogut wie die übrigen. Die einen verlangen eine neue zentralistische Ordnung, die anderen wollen dezentralisieren, aber alle sind darin einig, ein System zu verlangen.
Wunderbare fixe Idee! Die Revolutionäre haben ja gar nicht den Anspruch, eine vollständig neue Welt, eine neue Organisation zu schaffen. Sie sehen nur ganz gut ein, worin die alte Welt fehlerhaft ist, sie kennen die Strafbarkeit dessen, der der Menschheit den Weg versperrt. Sie haben ihn gerichtet, verurteilt und sie vollziehen dieses Urteil.«
Beide Extreme, der Protest für die Veränderung um ihrer selbst willen und der Protest gegen jegliche Veränderung um des Erhaltens willen, sollen unzumutbare Folgen abwehren. Die einen verwirklichen sich selbst, indem sie sich mit einem stabilen System identifizieren. Die anderen entlasten sich von dem Druck, den alle Systeme auf ihre Einwohner ausüben, indem sie aufbegehren. Solcher Protest ist Selbstverwirklichung des Individuums und Entlastung von unerträglichem Druck. Was als unerträglich empfunden wird, ist subjektiv. Die objektive Unerträglichkeit der Systeme setzt eine gedankliche Konstruktion voraus, eine Lehre, eine Überzeugung, eine Glaubenswahrheit, an der das Subjekt seinen Zustand messen kann.
Ohne Prinzipien kann die verworrene Urmasse nicht gelichtet werden. Prinzipien werden hervorgerufen, wenn aus dem Allgemeinen eine Frage sich den Interessen der Leute unmittelbar aufdrängt, eine Frage, die zur Stellungnahme zwingt, eine Frage, die öffentlich verantwortet werden muß. Eine Frage zu verantworten heißt, diejenige Antwort zu erteilen, über die hinaus es keine zu geben scheint, die jeweils äußerste Antwort.
Die »festen Prinzipien« sind diejenigen, die in der betreffenden Bevölkerung als unumgängliche Antworten eingebürgert sind, gleichsam die »richtige« Lösung für Rätsel, die Ansehen und Würde verleiht. Hierin grundet die Teilidentität von Prinzipien und Autorität: Prinzipien haben Autorität, weil sie einen Vorrang bezeichnen. Schwerlich wird jemand Autorität zuerkannt werden, der die »festen Prinzipien« einer Bevölkerung leugnet. Revolutionen setzen nicht neue Prinzipien, sondern interpretieren die alten neu. Am sichersten geht, wer das Neue möglichst alt begründet und zurückblickt, mindestens auf den »Anteil der Arbeit an der Menschenwerdung des Affen« (Engels), denn Autorität erlangt, wer dem Undurchsichtigen eine jeweils äußerste Antwort erteilt.
Das heißt: Prinzipien konkretisieren sich im Verhältnis von Frage und Antwort. Wo keine Frage auftaucht, stellen sich auch keine Prinzipien. Fragen öffentlich im Widerspruch zu stellen heißt, prinzipielle Antworten herauszufordern. Deshalb tangiert jeder Protest in unserem Kulturkreis heute in irgend ein er Form unser Prinzip der Menschenrechte. Aber dieses Prinzip ist weit davon entfernt, allgemein anerkannt zu sein. Menschenrechtsverstöße sind an
der Tagesordnung, nicht nur in Diktaturen und im teileuropäisierten Orient, sondern auch in den westlichen Kernländern, die ihm mit den Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts erste Geltung verschafft haben. Die Wirksamkeit des Widerspruchs erweist sich im Kampf um Menschenrechte universell.
Mit dem Datum vom 23. Mai 1968 war in der Sorbonne, der Universität von Paris, ein Revolutionsgedicht angeschlagen, das den Titel hatte: »Unmöglich zu schreiben«. Darin hieß es: »Seit einer Woche seh ich dem Ausbruch der Zukunft ins Auge«, man müsse jetzt viel herumwandern, alle Manifeste und Proklamationen lesen. Die anderen glaubten zwar, das ganze sei Rummel, aber »wir müssen uns hüten zu schlafen« und »dürfen, bei Strafe nicht, das Rendezvous mit dem Morgenlicht des anbrechenden Tages versäumen«. Am 23. Mai war die erste Straßenschlacht der Studenten mit der Polizei vorbei; die zweite stand bevor. Die Mißstände waren aufgedeckt, und die Begeisterung der Rebellen drängte zum Neubeginn. »Die Phantasie ergreift die Macht… «, verkündeten andere Plakate.
Es war der Moment, in dem der Protest so viel erreicht hatte, wie Protest erreichen kann, und wo der weitere Ablauf der Ereignisse von der Reaktion der Nichtprotestierer abhängt: Wird das Publikum sich den Protest zu eigen machen? Ihn zurückweisen? Zurückprotestieren und eine Gegenbewegung in Gang setzen? Das ist entscheidend, denn Protest läßt sich nicht beliebig in die Länge ziehen. Protest erheben heißt, jedesmal sich neu aufzurichten, neu zu demonstrieren, neu zu werben, vor allem, einen plausiblen Protestgrund zu thematisieren, entweder einen neuen oder den alten so hergerichtet, daß er zusätzlichen Adressaten einleuchten kann.
Die Phantasie ergriff die Macht nicht, sondern verblühte. Dennoch kann es sein, daß die Dichter-Revolutionäre recht hatten, daß in den Maitagen von 1968 die Pariser »Nacht sich lichtete«. Das wird sich zeigen, wenn einmal hundert Jahre später allgemeine Übereinstimmung herbeigeführt ist über das, was nach dem Mai 68 in Europa nicht mehr so ist, wie »es« vorher war. Eine Protestbewegung hat dann ihr Höchstes erreicht, wenn sie die Vorstellungswelt ändert, wenn sie den Menschen beigebracht hat, Dinge anders zu sehen. Eine Konvention, wie etwas zu betrachten sei, wird
durch eine andere ersetzt. »In phantastischer Energie des Hasses entlud sich die verletzte Empfindung der Jugend.« Das gilt nach der Selbstzerstörung des Sowjetismus seit 1989 wie für die Invasion Napoleons, aus deren Anlaß Karl Immermann den Satz schrieb.
Die neue Betrachtungsweise betrifft häufig, wie in der deutschen Einigungsposse, nicht die Welt, wie sie ist, sondern wie sie sein soll. Man will nicht eine neue Ansicht der Wirklichkeit, sondern einen neuen Traum von Wirklichkeit. Das heißt Romantik.
Die Menschheit verdankt den romantischen Bewegungen Schönheit, Anmut und Stimmung; aber auch Terror und Schrecken bei den Versuchen, ihre Träume zu realisieren. Die Verwandtschaft der Berliner Mauerkünstler und der Plakatdichter von 1968 mit dem frühen Schiller, dem jungen Puschkin, mit Heinrich Heine, mit Byron, Lautréamont, Ringelnatz, ja mit der Zürcher Anti-Kunst des Dada und Majakowski ist offensichtlich.
Soweit die Verwandtschaft die Kunstmittel betrifft, waren alle diese Protestierer zu ihrer Zeit neu. Sie haben die Maßstäbe verändert. Den jeweiligen Gefühlsausbrüchen kann man das nicht nachsagen. Sie waren jung, nicht neu, Zusammenstöße mit einer auf den ersten Blick beurteilten Welt: Schiller empörte sich gegen die Schulzucht. Die jungen russischen Offiziere, die nach den napoleonischen
Kriegen im Dezember 1825 gegen den Zaren protestierten und als »Dekabristen-Dezemberer« hingerichtet wurden, hatten das vergleichsweise freie Mitteleuropa erlebt. Sie rebellierten aus dem Gefühl, nicht aus exakter Kenntnis. Und so nach ihnen, was an protestierender Jugend seitdem Namen gewonnen hat.
Protest ist generell Selbstverwirklichung des einzelnen und Entlastung von sozialem Druck. Das zeigten jüngst die Leipziger, Dresdner, Berliner Proteste in der DDR.
Wollte man bei jedem Protestierer genaue Kenntnis der Umstände voraussetzen, gegen die er protestiert hat, dann dürfte strenggenommen über einen Umkreis von zehn oder zwanzig Menschen hinaus, in dem wir Tag für Tag leben, überhaupt nichts gelobt, getadelt, angenommen oder abgelehnt werden. In Wirklichkeit verwahren wir uns doch gerade gegen Entwicklungen und Tendenzen, die uns ängstigen und bedrängen, weil wir sie nicht verstehen. Wer kennt schon genau, was vorgeht? Protest gegen atomare Vernichtungswaffen und Kernkraftwerke muß kein Physikstudium voraussetzen. Um als Wandervogel Natur und Spiel dem bürgerlichen Salon vorzuziehen, brauchte man nicht beim Reichskanzler v. Bülow Kaffee zu trinken. Die Dadaisten brauchten die einsamen Entschlüsse der Generalstäbler des Ersten Weltkriegs nicht zu
kennen, um sich zu empören, und die Geschwister Scholl nicht die des »Führers«, um aufzubegehren. Der Protest gegen den Vietnam-Krieg bedurfte keines Lokaltermins.
Die sich mehrenden Proteste der »Dritten Welt« gegen die selbsternannte »Erste Welt« reflektieren die Anmaßung, die in dieser Zählung liegt, den Hochmut und die Arroganz, die Pascal vor drei Jahrhunderten kritisierte. Vor hundertfünfzig Jahren, als das Bürgertum zur herrschenden Klasse aufgestiegen war, prophezeiten Marx/Engels, die Bourgeoisie werde durch die »unendlich erleichterten Kommunikationen« auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation reißen. So ähnlich ist es gekommen. Der Westen propagiert diese Zivilisation als seinen Lebensstil weltweit durch Fernsehen, Radio, Presse, durch seine Produkte und seine Reisenden.
Dagegen revoltiert die Armut der Welt, deren Begehrlichkeiten geweckt, doch nicht befriedigt werden. Die Aktivisten versuchen, ins gelobte Land des scheinbar unbeschränkten Konsums zu gelangen. So haben einst die Europäer Amerika besiedelt, um ihrem Elend zu entkommen. Heute ziehen die USA Grenzzäune hoch, um dem Ansturm mexikanischer Immigranten Herr zu werden. Westeuropa sieht sich zusätzlich dem Druck aus dem verarmten ehemaligen Sowjetimperium ausgesetzt.
Ein Gespenst geht um in Europa — das Gespenst der »Überfremdung«. Die »Weißen« fürchten unweise, es könne ihnen das Schicksal bereitet werden, das sie den Ureinwohnern beider Amerikas, Australiens und der asiatischen Inseln bereitet haben. Die Migranten repräsentieren eine Welt »dritter Klasse«, die beginnt, sich im Protest gegen fünfhundert Jahre europäischer Expansion zu einigen, gerade zum Jubiläum der Amerikafahrt des Kolumbus. Noch trifft er seine Adressaten nicht wirklich. Aber mit dem Zerfall europäischer Staatsgründungen wie derjenigen der Sowjetunion, die als großer Protest gegen das alte Europa begann und über das Stadium des Experiments nie hinausgekommen ist, setzen sich rundum außereuropäische Traditionen durch. Iranische, türkische, arabische, indische, afrikanische. Die Europäer können sich nicht abkapseln. Sie müssen sich den Fremden öffnen, wenn sie ihre eigenen Prinzipien nicht aufgeben wollen, darunter die Religions- und Meinungsfreiheit. Bisher haben sie die Völker der Erde nach europäischen Vorbildern beeinflußt, ihre Techniken und Sitten bis in die hintersten Winkel exportiert. Nun zeigt sich, daß die Religionen gar nicht, die Rechtsauffassungen und Bräuche nur oberflächlich »europäisiert« worden sind. Es kommt mehr und anderes auf die »Alte Welt« zurück, als sie hinausgetragen hat.
Wenn »der Westen« in dieser Situation sein Prinzip der Menschenrechte verrät und den Pluralismus der Werte leugnet, könnte eines nicht zu fernen Tages die Waage der öffentlichen Moral versagen.
Sicherlich zeigt die »Protestgesellschaft« nicht das Ende der Widersprüche an. Die Vorstellung, daß reale Widersprüche sich am Ende aufheben könnten wie in der Studierstube These und Antithese, darf wohl als erledigt betrachtet werden. Jedoch erscheint Protest in seinen historischen Formen als ein europäisches Amalgam aus griechischer Logik, römischem Rechtsdenken, jüdischer Schriftbesessenheit und christlichem Missionseifer. Fünf Milliarden Menschen glauben aber an verschiedene Götter, haben unterschiedliche Obsessionen und denken abweichend über Freiheit und Würde des Menschen.
Das führt notwendigerweise zu anderen Bewertungen der öffentlichen Kundgaben, die wir unter Protest summieren. Widersprüche sind nicht ihrer äußeren Anlässe wegen unserer Anteilnahme sicher, sondern weil wir nachdenken können, was sie aussprachen, und es für richtig oder falsch erklären. Wenn ich nachlese,
was die Bauern des 16. Jahrhunderts, was Moses oder Aristophanes zu Protest gaben, und es richtig finde, dann stimmt mein Denken dem ihren zu. Etwas Brüderliches, Harmonie verbindet mich mit ihnen, so mit dem Protest gegen akutes menschliches Leid.
Mit unserem Urteil stellen wir uns dann selbst zur Debatte. Möglicherweise erregen wir damit Protest. Wir verbinden uns durch Zustimmung oder Ablehnung mit dem, was wir beurteilen, und werden selber beurteilt, »wes Geistes Kind« wir sind. Das läßt sich nicht vermeiden. Die Geschichte ist nicht ein Film, der abläuft und den man von außen betrachtet. Als Geschichte wird morgen erzählt werden, was wir heute äußern. Indem wir die Proteste anderer nachvollziehen und uns damit der Beurteilung durch wieder andere aussetzen, wirken wir mit. Mit den Themen wechseln die Meinungen, mit den Meinungen die Themen. Der Widerspruch bleibt.