Daß in jenen Junitagen 1982, an denen das Symposium stattfand, dem die nachfolgenden Beiträge entstammen, die »ganze zivilisierte Welt«, wie man so schön sagt, vom »König Fußball regierte« wurde, verdanken wir zwei Elementen von Kommunikation: erstens dem Ritual der Weltmeisterschaften und zweitens der Medientechnik, die in ihrem heutigen Zustand erlaubt, via Nachrichtensatelliten die Berichte von Spielen der 24 Mannschaften auf 17 spanischen Fußballfeldern überall dorthin zu funken, wo Medien der periodischen Berichterstattung die Mitteilung an ihr Publikum weitergeben. Wie es sich für Könige geziemt, haben ausgewählte Meldungen vom Fußball für die Zeit vom 13. Juni bis zum 11. Juli die oberen Quadranten der Titelseiten von Zeitungen und die besten Sendezeiten von Hörfunk und Fernsehen eingenommen. Das heißt, sie haben, je nach dem wer spielte, andere Nachrichten von bevorzugten Wahrnehmungspositionen verdrängt — wie Krieg und reisende Staatsmänner —, weil weder der Raum in der Zeitung, noch die Zeit im Radio beliebig vermehrbar sind.
Die periodische Berichterstattung ist an den Kalender fixiert. Sie interpretiert das kalendarische Ritual in den Grenzen, die ihr die Verfügbarkeit von Signalen als den materiellen Trägern für Bedeutungen — das Zeitungspapier, die Radiofrequenzen — setzen.
Die periodische Berichterstattung ist ritualisierte Kommunikation durch die zeitlich geregelte Wiederholung von kombinierten Zeichen und Symbolen, wie sie im Erscheinungsrhythmus der Presse und im Programmablauf der Radio- und Fernsehstationen vorkommen.
Die zeitlich geregelte Wiederholung ist das wichtigste Merkmal des Rituals. Sie bringt Ordnung in die Praktiken der Kultur, indem sie die organische Lebenszeit der Subjekte in gleiche Mitteilungen einbindet. Ritualisierung heißt Synchronisation von Subjekten. Zugleich entlastet die Wiederholung das Subjekt in seiner Notwendigkeit, sich zu »erneuern« (Viktor v. WEIZSÄCKER), indem es ihm das Numinose, das Unbekannte, Unvertraute, Befremdliche weitgehend erspart. Das gilt für den Mitteilenden wie für den, der Mitteilungen empfängt, also für Veranstalter wie für Teilnehmer. Das Ritual ist ähnlich ökonomisch wie die Metapher; sie simplifiziert durch ein Sprachbild den Diskurs, aber kann ihn gerade deshalb
auch seines Sinnes berauben. Die Verringerung des Aufwandes für die Einzelmitteilung, die durch die Kombination schon bekannter Kommunikationen im Ritual ermöglicht wird, kann das Ritual schließlich seiner Sinnbezüge entleeren. Der Sinn läuft gewissermaßen aus, das Ritual »erstarrt« zu Routine. Die Wertvorstellungen sind tangiert. Nun wird verringerter Zeitaufwand ein fraglicher Gewinn.
Die gleichzeitige Inanspruchnahme der Lebenszeit vieler für das Ritual, im Falle der Fußballweltmeisterschaft von Millionen, ist eine Machtfrage. Deshalb haben schon vor Beginn der kurzen Regierungszeit des »Königs Fußball« andere Machthaber sich ausgerechnet, wieviele Arbeitsstunden ihnen verloren gehen, wenn die Arbeiter und Angestellten über dem Fußballereignis nicht so kommunizieren, wie es ihnen der industrielle Arbeitsritus als die zentrale Instanz der Industriekultur vorschreibt.
Wir haben es also in diesem Fall mit drei verschiedenen Ritualen zu tun: erstens mit dem alles dominierenden Arbeitsritus, zweitens mit den Ritualen der Publizistik, drittens mit dem der Weltmeister-
schaft im Fußball. Sie war die zwölfte ihrer Art und ökonomisch betrachtet eine Veranstaltung der Unterhaltungsindustrie. Politisch sind Weltmeisterschaften Anlässe des sich seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges anbahnenden »Weltsyndikats« (Alfred WEBER). Das »Weltsyndikat« muß die relative Ohnmacht der Staatsmehrheit gegenüber den Supermächten durch zahlreiche Identifikationsangebote kompensieren — wobei zunächst offen bleiben mag, ob der Fußball ein Markt ist, »der nicht funktionieren kann“, wie Peter SARTORIUS in der Süddeutschen Zeitung überlegt hat (Mit Hurra in den Ruin, SZ am Wochenende, 12./13.6.1982, S.1). Die sich vermehrenden kleinen Staaten sollen die Vorstellung gewinnen, daß sie auch etwas zählen (»Partizipation«). Darüber nachzudenken, gaben schon die Olympischen Spiele Anlaß (PROSS, Die Spiele und das Weltsyndikat, in: Die Neue Rundschau 1/90, 1980). Die Prognose lautet, daß globale Rituale allmählich ein neues »Weltbild« durchsetzen. Der Fußball und ähnliche Weltmeisterschaften wären unter diesem Gesichtspunkt rituelle Elemente einer neuen Kosmologie, wozu der Fußball sich besonders eignet, weil auch die Erde als Ball symbolisiert wird. Fußball und Erdball haben beide Kugelgestalt; und es zeigt wohl unsere ganze Rückständigkeit, wenn wir noch nicht angenommen haben, daß es die Fußballer sind, die das Himmelsgewölbe stützen
müssen, wie weiland der unglückselige Atlas, nachdem er vorwitzig genug war, sich mit Zeus zu messen. Der Fifa-World-Cup macht es überdeutlich.
Weltmeisterschaften in Sport und Spiel sind möglich, weil die Entscheidung auf dem Spielfeld in der Vorstellung der Teilnehmer, also der Spieler und ihres Publikums, auf andere Felder des sozialen Nebeneinanders übertragbar sind. Der Vertikalismus der Wertvorstellungen, den jedes Kollektiv gemeinsam hat, wird durch die Teilnahme am Ritual der Meisterschaften bestätigt. Darum ist es, wie man von Sportlern oft hört, aber auch von sonstigen Wettstreitern, »die Hauptsache, dabei zu sein«. Für Honduras, liest man, sei schon »das Dabeisein ein Triumph«. Das Spiel als Initiationsritus in eine »Weltöffentlichkeit« . Das »inter esse« hängt weitgehend an der Publizität, die das Ritual hat, genauer gesagt an der Multiplikation, die der Termin durch die periodische Berichterstattung erfährt. Das heißt, ob das primäre Ritual der Meisterschaft, nachdem es durch Terminierung seinen Anspruch darauf angemeldet hat, nun auch in die Interpretation des kalendarischen Rituals hineinkommt, die im Programmritual von Radio und Presse erfolgt. Dieser Programmritus ist abhängig von der Zeit, die seine Teilnehmer als
Leser und Zuschauer erübrigen. Die Interpretation des kalendarischen Rituals ist, vom Publikum her betrachtet, Konsum als »Freizeit«beschäftigung, von den Kommunikatoren her gesehen aber Produktion. Das heißt, daß Kommunikatoren und Rezipienten vom selben Arbeitsritus abhängen, der durch die Synchronisation der Tätigkeit von Millionen die Industriekultur ermöglicht hat (Pross, Zwänge. Essays über symbolische Gewalt, Berlin 1981, S. 78 ff). Die Wiederholung des Momentanen als aktuelles Element unterliegt der minutiösen Ökonomie der Signale.
Das rituelle Spiel der Meisterschaften mit ihrer in die Antike zurückreichenden Praxis ist als Bestandteil des umfassenderen kalendarischen Rituals angewiesen auf dessen Interpretatoren, diese aber sind Angestellte im industriellen Arbeitsritus und total abhängig von der Technik ihrer Kommunikationsmittel. Die Medientechnik folgt dem Prinzip, den Aufwand des Kommunikators für die Einzelmitteilung zu verringern, d.i. in kürzerer Zeit über weitere Räume
mehr Rezipienten zu erreichen (Ausbau der nachrichtentechnischen Infrastruktur, Sendernetze, Kampagne gegen Analphabetismus, Expansion der sekundären Medien, Investitionen der potentiellen Rezipienten im tertiären Bereich). Der Technologievorsprung wird zur Machtfrage. Signalökonomie bewirkt Kulturwandel (PROSS, Signalökonomie und Bedeutungsschwund, In: ders., Politik und Publizistik in Deutschland seit 1945, München 1980), Was der Kommunikator an Aufwand für die Einzelmitteilungen erspart, muß von den Rezipienten an subjektiver Lebenszeit und Mitteln aufgewendet werden. Verlagerung der Energiekosten auf die Empfänger als versammelte Masse, Lesepublikum, Rundfunkteilnehmer. Weltmeisterschaften fördern deshalb auch den Umsatz der Elektroindustrie.
Aus dem Prinzip, den Aufwand für die Einzelmitteilung zu verringern, ergeben sich die ungeschriebenen Gesetze der journalistischen Praxis, die über Plazierung, Länge bzw. Dauer der Beiträge bis in die Wort- und Bildwahl hinein entscheiden. Der Journalist ist in dieser Hinsicht der Kleriker einer unbestimmten Kosmologie, wenn Kompetenz der Interpretation als Merkmal des Klerus gilt.
Solange das Publikum seinen Zelebrationen folgt, ohne die verbalen und bildlichen Inhalte auf ihre formalen Bedingungen zurückzuführen, verhält es sich nicht anders als der Gläubige, der an einem Initiationsritus teilnimmt, ohne diesen als symbolische Veranstaltung zu relativieren.
In der Zeit des 2. Weltkrieges schrieb in Amerika, weit vom Schuß, Susanne LANGER, das Ritual sei eine symbolische Transformation von Erfahrungen, die in keinem anderen Medium adäquat zum Ausdruck gebracht werden könne (Philosophy in a New Key, Harvard 1940). Das Zusammentreffen von Fronleichnamsprozessionen, NATO-Gipfeltreffen und Friedensdemonstration am Donnerstag, den 10. Juni 1982, bestätigen LANGER.
Bemerkenswert in diesem Zusammenhang scheint mir aber Ernst CASSIRERS Feststellung, nichts sei besser imstande »all unsere aktiven Kräfte in Schlaf zu lullen, unsere Urteilsfähigkeit und Fähigkeit kritischer Entscheidung, unser Gefühl für Persönlichkeit und individuelle Verantwortung hinwegzunehmen, als die ständige,
uniforme und monotone Vollziehung der gleichen Riten. Tatsächlich ist in den primitiven Gesellschaften, die von Riten gelenkt werden, individuelle Verantwortung eine unbekannte Sache. Was wir hier finden, ist nur eine kollektive Verantwortung. Nicht das Individuum, sondern die Gruppe ist das wirkliche »›moralische Subjekt‹« (Ernst CASSIRER, Vom Mythos des Staates, Zürich 1949, S. 371).
CASSIRER rechnete mit den nationalsozialistischen Riten ab, die in Berlin im Reichspropagandaministerium organisiert und in der Zentrale der Geheimen Staatspolizei sanktioniert wurden. Cassirers Argument lief denn auch darauf hinaus, daß die deutsche Nation wie eine »primitive Gesellschaft« durch Rituale gelenkt werde mit dem Kollektiv als »moralischem Subjekt«.
Wie sieht das »moralische Subjekt« heute aus?
Semiotik und Kommunikationstheorie sind politische Wissenschaften, wenn sie die Lenkungsmechanismen der Kulturen bewußt machen.