In seinem »Diskurs über die freiwillige Knechtschaft des Menschen«, den Boetie achtzehnjährig geschrieben haben soll, führte er die Knechtschaft auf Gewöhnung zurück. Das ist nicht sehr erstaunlich, denn junge Leute tun sich schwer, ihren biologischen Rhythmus dem Sozialtakt einzupassen, den ihr Milieu ihnen abverlangt:
»Von Natur, Art und Wesen ist der Mensch frei und will frei sein, gleichzeitig aber bedingt diese selbe Natur, daß er Gewohnheiten beibehält, die ihm durch die Erziehung eingepflanzt werden. Alle Dinge, zu denen der Mensch erzogen ist und an die er sich gewöhnt hat, erscheinen ihm dann natürlich. Wir aber lassen nur diejenigen Eigenschaften als angeboren gelten, wozu seine einfache und nicht veränderte Natur den Menschen aufruft. Daher wir denn zu dem Schluß kommen: Der erste Grund für die freiwillige Knechtschaft
ist die Gewöhnung. Es geht den Menschen eben nicht anders als den braven Gäulen, die zuerst in den Zügel beißen und dann bald danach damit spielen. Eben schlugen sie beim Anschirren noch wild aus, und jetzt tänzeln sie bereits stolz unter dem Sattel. Ganz so sagen die Menschen, sie seien immer schon Untertanen gewesen, schon ihre Väter hätten gedient, und sie fühlen sich daher verpflichtet, das Übel zu ertragen, ja, sie bilden sich sogar noch etwas darauf ein. Damit begründen sie das Besitzrecht ihrer Tyrannen immer fester.
In Wirklichkeit aber rechtfertigen die Jahre und die Dauer der Zeit kein Unrecht, sie vergrößern es nur. Immer wieder gibt es einige wenige, die, besser veranlagt als die anderen, das Joch verspüren und es abzuschütteln versuchen. Diese finden sich niemals mit der Unterwerfung ab. So wie Odysseus über Land und Meere nach dem Rauch seiner Hütte Ausschau hielt, so sind sie in ihrem Innersten gedrängt, nach ihren natürlichen Rechten Ausschau zu halten und sich der Freiheit ihrer Vorväter und ihres ursprünglichen Wesens zu erinnern. Diese Menschen von sauberen Denken und klarem Geist haben Augen, welche mehr sehen als die des gemeinen Volkes. Das Volk nimmt nur war, was ihm unmittelbar vor der Nase liegt, und es achtet nicht darauf, was davor und dahinter ist, es
ruft sich nicht die vergangenen Ereignisse ins Gedächtnis zurück, um danach die Gegenwart zu beurteilen und die Zukunft abzuschätzen.«
Zu diesen Aufrührern, die sich nicht abfinden, die »mehr sehen«, wird der 1919 ermordete Gustav Landauer seine Vorgänger William Godwin, Stirner, Proudhon, Bakunin, Kropotkin und Tolstoi zählen. Von Tolstoi berichtet Romain Rolland, der sich 1914 gegen die Kriegstreiber erhob, er habe als junger Mann ein Medaillon mit dem Bild Rousseaus getragen. Boetie nennt Casca, Cassius und Brutus die Befreier Roms von der »giftgetränkten Sanftheit« Caesars. Auf deutschen Gymnasien beeindruckt Caesars Ausruf: »Auch du, mein Sohn Brutus« den zehnjährigen Lateinschüler, und ob er bei Sallusts »Verschwörung des Catilina« etwas vom Recht des Widerstandes ahnt, ist doch sehr die Frage. Boetie hingegen lehrte aus antiken Texten, im Zeitalter blutiger Religionskriege, nichts sei Gott tiefer verhaßt als die Despotie in allen ihren Formen. Sie diene dazu, um in den unteren Volksschichten eine freiwillige Knechtschaft hervorzurufen. In der Übersetzung von Walter Koneffke (Ed. Heinz-Joachim Heydorn, 1968) wörtlich:
»Es sind immer nur vier oder fünf Handlanger, die den Despoten schützen, es sind immer nur vier oder fünf Beflissene, die ihm sein ganzes Land in Schach halten, es sind immer nur fünf oder sechs, die das Ohr des Tyrannen haben, und sie sind öfter freiwillig zu ihm gekommen als von ihm herbeigerufen, um die Mittäter seiner grausamen Handlungen zu spielen, um die Teilnehmer seiner Belustigungen zu werden, um die Zuhälter seiner Lüste, die Nutznießer seiner Raubzüge zu machen. Diese fünf oder sechs Kreaturen dressieren ihren Herrn ganz und gar auf die gemeinsamen Interesse ihres Vereins, so daß der Despot seine Gemeinheiten hinfort nicht mehr aus seiner eigenen Bosheit heraus, sondern vielmehr aus ihrer gemeinsamen Bosheit begeht. Diese sechs haben nun sechshundert unter sich, welche aus dieser Ordnung ihren Vorteil ziehen. Und diese sechshundert haben danach sechstausend an der Hand, die sie zu Gouverneuren von Provinzen und zu Herren über die Steuer- und Finanzämter machen. Auf diesen Posten können die Unterkreaturen ihre Habsucht und Grausamkeit austoben, solange es den Oberkreaturen paßt. Begehen nun die Unterkreaturen massenhaft Verbrechen und verfallen dadurch der Strafe, so können sie sich den Gerichten nicht aus eigener Kraft entziehen, sie müssen daher immer im Schutze und Schatten ihrer Auftraggeber bleiben. Hinter ihnen trabt alsdann ein unabsehbares Gefolge.
Wer sich den Spaß machen und dieses ganze Knäuel abwickeln wollte, der würde nicht sechs, nicht sechshunderttausend, sondern sechs Millionen finden, die alle durch eine einzige Schnur an den Despoten gebunden sind. Der Tyrann bedient sich ihrer wie Jupiter, der sich bei Homer rühmt, er habe alle Götter an der Kette und können sie zu sich heranziehen, sobald er nur daran ziehen wolle. Genau so ging es, als der Senat unter Julius Cäsar gewaltig anwuchs. Da wurden immerfort neue Posten erfunden und neue Ämter eingerichtet. Man behauptete, diese neuen Stellen würden zur Reform der Justiz ins Leben gerufen, in Wahrheit dienten sie zur Festigung der Despotie.
Unter diesem Gesichtspunkt ist nun festzustellen, daß das System der Tyrannei mit seine n Begünstigungen und Gewinnmöglichkeiten schließlich genau so vielen Menschen Nutzen bringt, als es Menschen erzeugt, welche immer heftiger und heftiger nach Freiheit verlangen.«
Boetie kehrt das gängige Muster um: Seit Homer, Platon, Aristoteles gilt, daß ein Führer, Steuermann, ein archos als Architekt den Bewegungsraum der Ordnung vorgibt, einen festen Grund kol-
lektiver Bräuche, Sitten und Regeln der Herrschaft. Wo jeder tun kann, wie ihm beliebt, macht Zuchtlosigkeit, Gesetzlosigkeit gemeinsames Leben unmöglich. Permanente Ausschreitungen führen schließlich zur Pöbelherrschaft der Sklaven ohne Herren. Sie bringen, weil der Zustand unerträglich ist und der Menschennatur zuwider, einen Despoten hervor.
In Platons »Politeia« ist Demokratie eine ungerechte Staatsform. Sie läßt allerlei Verfassungen zu und läuft ständig Gefahr, außer Kontrolle zu geraten. Boetie untersucht, wie es möglich ist, daß sich viele »durch eine einzige Schnur« am Despoten hängen. Vielleicht muß man dabei erinnern, daß zu seiner Lebenszeit als Ratsmitglied der Stadt Bordeaux und Freund des Bürgermeisters Montaigne, antike Vorbilder den absolutistischen Staat mit seinen statischen und archivalischen Fundamenten heraufführten.
Zweifellos geben seine Beobachtungen über wachsenden Bürokratismus als Herrschaftsmittel Hinweise auf aktuelle Mißstände. Der Kultursoziologe Alfred Weber hat 1946 vor der Bürokratie in der freiheitlich orientierten Neubaugesellschaft gewarnt und »spontane Handlungsgruppen« zu ihrer Korrektur gefordert. Sie sind inzwischen als »Bürgerinitiativen« institutionalisiert und laufen Gefahr, an Spontaneität zu verlieren.
Das Menschenleben ist im einzelnen eine Folge von Abschieden. So auch der Rückblick auf ältere Texte wie die vorliegenden. Wenn auch die Fragen der Menschheit gleich bleiben, so ändern sich doch die Techniken ihrer Vermittlung und damit die Dimensionen ihrer Wirklichkeit. 1903 sagte der Nationalökonom Werner Sombart in seiner »Deutschen Volkswirtschaft im 19. Jahrhundert«, das Zusammenwirken der Elektrizitätsgesellschaften mit dem Bankgewerbe führe ein neues Stadium des Kapitalismus herauf. Damals starrte die Welt auf die Standorte von Kohle und Eisen, Schlotbarone und ihre Gewalt über Stahlkocher. In Nordamerika hatten die Eisenbahnen Atlantik und Pazifik verbunden, in Bismarcks Kriegen das Deutsche Reich mit »Blut und Eisen« verfügt. »Nach meiner Meinung ist die Niederlage im Krieg für ein Volk, das unter unfreien Bedingungen lebt, für seine Entwicklung eine größere Hilfe als ein Hindernis. Siege machen eine Regierung im Gegensatz zum Volk arrogant und dreist. Niederlagen zwingen die Regierung, dem Volk entgegenzukommen und seine Sympathien zu gewinnen.« So der Sozialdemokrat August Bebel l866.
Richtig; aber die erfinderischen Techniker ließen sich nicht aufhalten; Edisons Glühlampe und Siemens elektrische Lokomotive im selben Jahr 1879, bald darauf Daimler, Maybach und Benz mit Straßenfahrzeugen an Benzinmotoren. Mit dem Transatlantikfunk bereitet Marconi der Sprache des Britischen Empire eine Zukunft nach dessen Untergang vor. Schon steigen erste Motorflugzeuge, Zeppeline auf, und der Emigrant Lenin stellt sich Kommunismus als »Elektrifizierung plus Sowjetmacht« vor. Die Pazifistin Bertha von Suttner, »Die Waffen nieder« (1889), bewegt den steinreichen Erfinder des Dynamit, Alfred Nobel, einen Friedenspreis zu stiften. Er kann den Machbarkeitswahn der Regierenden und der Regierten nicht aufhalten, auch nicht im freien Amerika, das Politik als Beute des Erfolgreichen versteht. Ähnlich das neue Russland der »Werktätigen«.
Im Jahrhundert danach befreit die kapitalistische Vormacht USA neue Ausbeutungsobjekte bisher konkurrenzlos von möglichen Konkurrenten durch kybernetische Steuerungskunst, Mini-
chips, gekaufte Unterkreaturen nebst strategischen Atombom-bensilos. Die sakrosankte Dreiheit an der Staatsspitze — der durch Vorauswahlen eingebettete Präsident mit gewaltigem Militärbudget und einem nicht immer funktionierenden Geheimapparat, die Meinungsmacher für das Sternenbanner in der Madison Avenue, Wallstreet als höchstes Kollegium für »pursuit of happines« — wirkt nach der Gottesvorstellung gewisser Theologen des Mittelalters. »America first« heißt, ohne Anfang und Ende zu herrschen: »archos, sed anarchos, princeps sine principio«: Hand aufs Herz vor jeder Kabinettssitzung und möglichst vielen Kameras Augenaufschlag zum Gebet. Wo die Flagge nicht dem Handel folgt, muß sie voranflattern und dafür sorgen, daß sie gegen jegliches Recht mit Panzerangriffen und Bombenabwürfen das Geschäft in Schwung bringt. Wofür sonst ist die Regierung da? Das hat man doch als britische Kolonie gelernt.
Dennoch sind die USA nicht die Arche und Mr. Bush ist nicht der liebe Noah, der entscheidet, wer einsteigen darf und wer im Schlamassel untergehen muß. Schon der Slogan amerikanischer Expansionisten 1845, sie persönlich hätten von der Vorsehung eine dauernde Aufgabe, ein »Manifest Destiny«, erhalten, für Millionen
Nachkommender Neuland zu erbeuten, war weit von der Wahrheit. Sie eroberten Land für Millionäre, nicht für Millionen. Der Atomtod auf Hiroshima und Nagasaki ein Jahrhundert danach war kein gutes Omen für die UNO und die »Vier Freiheiten« der »Atlantis-Charta«, sondern eine erneute Manifestation des amerikanischen »Ausdehnungsstrebens, Land-, Macht-, Profit- und Größenhungers«, von dem der Historiker Daniel Lerner (1960) gewarnt hat: »Es wäre voreilig, anzunehmen, daß eine Kraft, die stark genug war, die Grenzen bis an ihren kontinentalen Rand vorzuschieben, an der Küste des Ozeans stehen bleiben wird.«
Tatsächlich haben die Rivalitäten mit der Sowjetunion samt »Stellvertreterkriegen«, Leichenfeldern und Geheimdienstmorden die Übereinstimmung des US-Expansionismus mit den systembedingten Zwängen des Kapitalismus, neue Märkte erschließen zu müssen, um Naturschätze und Menschenkräfte auszubeuten, nicht beendet. Die »offenkundige Bestimmung« kennt keine Grenzen und führt unterm Kuhjungenhut weltweit Indianerkriege: Südamerika, Asien, Afrika…
An solche politökonomische Bigotterie können sich die Völker, die staatlich verfaßt sind und überstaatlich verpflichtet, nicht gewöhnen, weil sie einseitig in ihre inneren Angelegenheiten greift und deren gerechten Ausgleich zerstört. Nicht jeder differenzierte Sozialstaat kann sich den Armutsgrenzen der USA anpassen, nicht jeder Stamm, der sich im Vorfeld staatlicher Organisation streitet, wird seine Selbstbestimmung preisgeben, nicht jeder Patriarch seine Fundamente, ehe sie zerbröseln. Selbst im alten Europa, das sich seit eh und je nur als Einheit krasser Verschiedenheiten institutionalisiert, sieht man nun Plutokraten an der Regierung.
Freilich verfügt die Supermacht über den Supermarkt einer elektronisch vernetzten »Spannungsindustrie« (Hermann Broch 1949) im Film über eine lange gewohnte »Traumfabrik«, in Radio, Fernsehen und Internet über alle Mauern durchbrechende Mittel zur Ritualisierung freiwilliger Knechtschaft von Kindesbeinen an. Der militärisch-industrielle Komplex dirigiert Milliarden Menschen nicht über »eine einzige Schnur«. Er vernetzt ihre Wahrnehmung, ihr Denken und Fühlen über Kontinente hinweg. So verlieren sie ihr Selbstverständnis, daß alles nur eine Meinung ist und daß in ihrer eigenen Macht steht, zu meinen, was sie wollen.
Millionen demonstrieren gegen Knechtschaft, weil sie ahnen, dass die Gewalt gepanzerter Armeen und der Kampfflieger gegen Personen zu Ende geht, wie die der Ritterheere nach Erfindung des Schießpulvers. Das haben die Partisanen des 2. Weltkriegs gezeigt. Der Kapitalismus beschleunigt die Auflösung, indem er Medientechnik, Schießeisen, Kunststoffe im Supermarkt feilhält, destruktive Sozialisation zur Unterhaltung frei Haus. Wer terrorisiert wen? steht auf des Messers Schneide.
Anarchie ist ein glückliches Moment der Freiheit, die Substanz menschlicher Würde gegen die Arroganz der Macht zu behaupten.
Deshalb verdient sie Lob.