In seinem letzten Versuch, den Sinn der Geschichte zu deuten, hat der hochbetagte Alfred Weber 1953 den Zeitgenossen die Aufgabe gestellt, sich realistisch inmitten einer weitgehend durch den Menschen selber sinnentstellten Welt einzurichten und deren Gefahren, soweit es eben geht, zu bannen. Er verlangt, dem Motiv des Überdrusses, der Lebensöde und des rezeptiven Mittreibens ein Programm der «Vermenschlichung der Massen» gegenüberzustellen und dieses Konzept zu praktizieren: «Es ist natürlich eine gewaltige soziale, politische und vor allem Erziehungsaufgabe. Denn Vermenschlichung heißt nicht nur Steigerung und geistige Kompetenzerhöhung, nicht bloß dieser oder jener, sondern aller. Sie heißt zugleich nicht bloß möglichste Beseitigung des Massenelends, möglichste Sicherung der Daseinsbasis und Steigerung des Lebensniveaus aller bis zum letzten Arbeitenden, sondern vor allem heißt sie, vom Leben her betrachtet, Entfaltung, ja, Rettung der Initiativkräfte, die heute in den Massen durch die Technisierung, wenn sie so bestehen bleibt, so stark bedroht sind, Rettung unter anderm durch Förderung ihrer Mitbestimmung im Berufssein.» Die unzweifelhaft größten Möglichkeiten der Vermenschlichung sieht Weber im Bündnis der intellektuellen Schicht mit derjenigen der manuellen
Arbeit. Wenn sie «in Tuchfühlung» bleiben, vermögen sie «sehr viele handfeste Querbalken, Geschäftsinteressen, Klassendoktrinen und dergleichen», die den Menschen in Unfreiheit halten, zu überwinden. «Aber auch jeder einzelne, der sich nicht mehr, wie es heute Mode geworden ist, als ‹geworfen› vorkommt, sondern weiß, worum es geht und was auf dem Spiel steht, und danach ganz persönlich handelt, ist ein Kraftzentrum … Nicht bloß, obgleich auch durch sein Tun, vor allem aber durch die Art seiner Existenz. Sehr viele Lichter machen hell. Und sehr viele Wärmequellen warm. Ihr friert und ängstigt euch im heutigen Dasein. Es liegt an euch, an jedem einzelnen von euch, das zu verändern.» («Der dritte oder der vierte Mensch», Neuauflage München 1963, S. 200 f.)
Diese letzten Worte eines alten Mannes, der, noch vor der Bismarckschen Reichsgründung geboren, die geistige Entwicklung Europas in der Zeit seines Niederganges durch die Weltkriege kritisch beobachtet und auf sozialwissenschaftlichem Gebiet auch beeinflußt hat, empfehlen eine Haltung, die zugleich eine Methode ist. Sie fordern auf, die Natur, die menschliche Psyche und den historischen Prozeß zu erforschen, weil keine Freiheit sein kann, wo der Mensch sich nicht unablässig bemüht, diese Faktoren seines Daseins zu verstehen. Ohne kritische Haltung kann der Mensch seine Freiheit nicht bestimmen.
Für den Gegenstand des Buches, das ich hiermit meinen Lesern vorlege, bedeutet das Verhältnis von Haltung und Freiheit viel. Denn die «soziale Induktion» gewisser Haltungen geschieht nicht nur durch den Austausch und die Berührung der Schichten von oben nach unten und von unten nach oben, sie vollzieht sich in der Zeit von Generation zu Generation, von den Alten zu den Jungen. Man könnte etwas überspitzt vielleicht sogar sagen, daß die ältere Generation der jüngeren hauptsächlich Haltung vererben will und die jüngere vor allem Freiheit zu erringen sucht, wenn nicht die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte gelehrt hätten, daß das Bedürfnis nach Freiheit historisch variabel ist, daß es Jugend geben kann, die von Freiheit nicht viel hält, ja sogar Haltung gegen die Freiheit zu beweisen sucht, also Initiativkräfte subordiniert oder lahmgelegt statt sie zu entfalten.
Auf den folgenden Seiten soll untersucht werden, woher solche Haltungen stammen, wie sie sich auswirken, welche Gegenkräfte sie aus sich entwickeln und welche sie bei anderen hervorrufen. «Jugend Eros Politik» behandelt ausführlich den Zeitraum, in dem die seelisch-geistige Ausstrahlung der Jugendbewegung sozial bedeutungsvoll war, mehr punktuell werden die totalitären Jugendorganisationen, zum Vorverständnis die Jugendpflegeverbände des letzten
Jahrhunderts dargestellt. Die literarische Form ist essayistisch. Sie erlaubt, den widerspruchsvollen und vielschichtigen Unternehmungen der Jugend zu folgen, ohne den Ballast von Nebensächlichkeiten mitschleppen zu müssen. Sie erleichtert außerdem die Lektüre.
Vom allgemeinen Gesichtspunkt aus gelten die Bewegungen der Jugend als interessant, weil sie einflußreich und vorbildlich in vieler Hinsicht gewesen sind. Sie haben früh als Freizeitbewegung gewirkt, sie haben Schulen und Lehrer angeregt und zogen allerlei Reformer und Lebensapostel an sich, die unter den aufgeschlossenen jungen Leuten Proselyten machten. Hier fand die Volksmusik eine Pflegestätte. Luserke entwickelte hier das Laienspiel. Das Gruppenleben hat wohltätige pädagogische Nebenwirkungen gehabt. Großstadtkinder lernten auf den Wanderfahrten die Natur kennen, sahen die Heimat und sogar den wilden Balkan. Das jugendliche Bedürfnis, Jugend zu erleben, wurde in harmonischer Weise befriedigt. Die Erlebnisfähigkeit, dieser kleinste Ansatzpunkt allen höheren Lebens, wurde geweckt und erweitert. Diese positiven Ergebnisse würden schon genügen, um das Interesse an der Jugendbewegung wachzuhalten.
Aber dabei bleibt es nicht. Neben dem allgemeinen Gesichtspunkt macht sich neuerdings ein besonderer, ich möchte sagen, biographischer bemerkbar. Die Jugendbewegung war im großen und ganzen die Leistung der Geburtsjahrgänge 1890 bis 1920, wobei die nach 1910 Geborenen kaum mehr führenden Einfluß üben konnten. Die Tonangebenden wurden früher geboren, sind also heute ungefähr sechzig Jahre alt. In diesem Alter erinnert sich der Mensch gern seiner Jugend. Er schreibt Memoiren und schwelgt in Erinnerungen. Der Sozialpsychologe Willy Hellpach hat den Zustand sachlich und herzlos als den der praesenilen Eidese bezeichnet. Daher kommen in letzter Zeit Erinnerungen an die, Jugendzeit auf den Markt, in denen Jugendorganisation und das Leben in Bünden wichtige Bestandteile sind.
Die Großväter erzählen Geschichten aus ihrem Jugendalter; das war nie ohne Faszination. Manches Weltbild der Nachgeborenen hat sich daran entfaltet, manches historisch interessante Detail wurde aus der liebenswürdigen Melancholie solcher Darstellungen gewonnen. Und gerade heute, wo die Erlebnisintensität der modernen Jugend ganz andere Räusche begehrt als früher, kann man vielleicht aus solchen Erzählungen Rat und Beruhigung schöpfen. Denn Spiel
und Rausch und Maskerade trieben auch die Wandervögel. Der allgemeine Gesichtspunkt und der private fallen nicht immer zusammen. Sozialanalyse und Biographie haben verschiedene Ansatzpunkte. Wo der Biograph aus Erlebnis und Erinnerung schöpfen kann, ist der Analytiker auf die zeitgenössischen schriftlichen Quellen angewiesen. Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen. Freilich dürfen die Methoden nicht überfordert werden. Die Sozialanalyse kann vom Erlebnis keinen richtigen Begriff geben, und die Schilderung aus dem Erlebnis muß versagen, wo es um die größeren Zusammenhänge geht. Darum haben alle positivistischen Historiker Sorge gehabt, ob sie genug Abstand zu den Dingen hätten, und die Soziologen setzen voraus, daß ihre Ergebnisse relativ sind, weil auch sie sich ihren Erlebnissen nicht ganz zu entziehen vermögen.
1962 hat Walter Laqueur («Die deutsche Jugendbewegung. Eine historische Studie», Köln 1962) ein gutes Beispiel der analytischen Methode gegeben. Er berührt dabei mit Kenntnis und Takt einen ärgerlichen Punkt der Jugendbewegung, nämlich ihr Verhältnis zu der gegenrevolutionären Richtung, die schon dreißig Jahre vor der
Macht Übergabe an Hitler das bürgerliche deutsche Denken maßgebend beeinflußte. Die Jugendbewegung war ja zunächst, soweit sie auf den Wandervogel zurückging, eine Schüler- und Studentenbewegung. Daher ihre Freude am Papier und als Resultat der wahrhaft unmäßige schriftliche Ausstoß so vieler unter denen, die ihr zugehörten, die nicht lernen konnten, die Tinte zu halten. Aus der bürgerlichen Herkunft erklärt sich aber auch die Überlastung dieser Literatur mit höchst obskuren nationalen und sozialen Vorstellungen, die in der deutschen Gegenrevolution von Chamberlain, Lagarde, Class, Moeller bis Rosenberg und Hitler umgingen.
Karl Fischer, der Begründer des Wandervogel in Steglitz, hat nie einen Hehl daraus gemacht, daß er, unter dem Eindruck alldeutscher Lehren, eine nationale Jugendreform anstrebte. Und bis zum ruhmlosen Ende der Bewegung unter dem Admiral von Trotha hat dieser Gedanke in der einen oder anderen Form die Führer bewegt. Wenn ich sage die Führer, so meine ich auch die in den Älterenbünden versammelten jungen Leute. Die Erlebnissphäre der Zwölf- bis Siebzehnjährigen blieb aus begreiflichen psychologischen Gründen
auch dort von den Theorien ziemlich unberührt, wo sie, wie es so schön hieß, Inbilder der betreffenden Bünde waren. Man darf also nicht die Jugend mit der Bewegung ausschütten. Das Hordenleben mit seiner originellen Abwandlung ewiger Knabenspiele ist scharf zu trennen von den gedanklichen Bezirken, in denen die «junge Mannschaft» lebte. Die Horden waren revolutionäre Erscheinungen der Jugendpsychologie. Das «Gedankengut» der Bewegung aber hatte nichts Originelles, es war hausbacken, vom politischen Philistertum inspiriert, gegenrevolutionär in der Regel.
In der Analyse lassen sich diese beiden Bezirke, das originelle Jugendliche der Jungenschaft und das unoriginelle, oft rückwärtsgewandte Denken der Jungmannschaft, leicht isolieren. Für den, der aus dem Erlebnis schildert, verfließt alles in eins. Er hat entweder den schriftlichen Niederschlag zu seiner Zeit nicht ernst genommen oder glaubt heute zu wissen, daß er so nicht gemeint gewesen und daher unerheblich sei. So erhalten wir keine Auskunft über das unergründete Phänomen, daß sowohl der Kommandant von Auschwitz, Höss, wie der Bundestagspräsident Gerstenmaier, daß der Reichserziehungsminister Franz Rust wie der oppositionelle Adolf Reichwein, der ostzonale Minister Alfred Kurella wie der bundesrepublikanische Theodor Oberländer «aus der Jugendbewegung»
kamen. Mit Recht erklärte Helmut Gollwitzer beim Traditionsfest der Freideutschen 1963 schreibt, die Mehrheit der bürgerlichen Jugendbewegung sei nicht gegen die Weimarer Republik gewesen, allenfalls habe sie, durch das Versagen des Weimarer Staates und des egozentrischen Parteihaders abgestoßen, sich nach einer Ersatzlösung umgesehen. Schon die Vorstellung vom Versagen des Staates — also wohl nicht der Bürger —, die unterstellt, es sei Aufgabe der Weimarer Republik gewesen, etwa durch faszinierende Männer die Wandervögel in den Staatstrog zu locken, entspringt ja nicht gerade republikanischem Bewußtsein. Was aber soll man dazu sagen, daß derselbe Autor zusammen mit einem Dutzend anderer Wandervögel unter dem Vorantritt von Will Vesper und Hans Friedrich Blunck 1933/34 versuchte, die vorausgehenden dreißig Jahre Jugendbewegung vor dem Dritten Reich taktisch zu rechtfertigen? Anpassung? «Ergriffensein»? Kalkül? Haltung?
Laqueur erwähnt das Buch («Deutsche Jugend», Hrsg. Will Vesper 1934) und deckt den Mantel des Vergessens darüber. Das scheint mir verkehrt. Nicht so sehr, weil sich einzelne 1960 nicht mehr gern an «das neue Deutschland» erinnern, für dessen Keimzelle sie sich 1933 erklärten. Auch nicht deshalb, weil man sich 1933 brüstete, die Weimarer Politiker zum Teufel gejagt zu haben, und
1960 wahrhaben will, man sei zur politischen Abstinenz verurteilt worden: Beides ist unwahr. An solchen Sinnesänderungen haben wir keinen Mangel. Sie sind das Gewöhnlichste, was es gibt, und biographisch, aber nicht historisch interessant.
Unser Interesse liegt nicht im Versagen dieses oder jenes Kraftzentrums der Jugend. Menschliches Versagen ist die Regel. Um es festzustellen, braucht man keine Bücher zu schreiben. Die Aktualität des Themas äußert sich in der Frage, ob die Bewegungen der Jugend etwas zur Vermenschlichung der Massen geleistet haben, ob das verwirrende Gespinst sozialer Beziehungen im Jugendalter und jugendlicher Organisationsformen hoffen läßt, daß wirverbundene und zugleich kritische junge Leute — aus den schon historisch gewordenen Formen hervorgehen können.
Das Manuskript wurde im wesentlichen 1960 geschrieben. Die später erschienene Literatur konnte nur noch beiläufig verwendet werden.
Dr. Harry Pross, Salmers, Post Weiler/Allgäu, Dezember 1963