Restauration heißt Wiederherstellung. Der Begriff ist neutral, ursprünglich aber doch eher mit Hoffnung und Freude verbunden als mit dem abschätzigen Beiklang, den wir im Wort Restauration hören.
Wiederherstellung kann Sachen betreffen und Menschen. Die Wiederherstellung von Sachen macht im allgemeinen, wenn die Pläne und die Mittel vorhanden sind, keine besonderen Schwierigkeiten. Die Denkmalpflege bietet großartige Beispiele gelungener Restauration. Man hat nach der Zerstörung der alten Städte einzelne Gebäude, ja ganze Straßenzüge so wiederhergestellt, wie sie vorher waren. Die Abgrenzungen stimmen genau, es ist definitiv alles an seinem Ort. Nicht selten hat allerdings der Fluß der Zeit zu Variationen gezwungen, etwa dergestalt, daß man Fassaden restaurierte, aber den Innenraum der Gebäude neuen Erfordernissen anpaßte. Manche dieser Lösungen darf man als glücklich bezeichnen, andere sind mißlungen. Die alten Mauern trauern in dem Gewimmel, das sie neu umgibt. Die Schwierigkeiten, die bei der Wiederherstellung von Sachen auftreten, vervielfältigen sich, wenn es darum geht, Menschen wiederaufzurichten, oder soziale Gebilde, etwa Staaten, Parlamente, Konzerne oder aufgelöste Vereine, wieder ins Leben zu
rufen. In diesem Falle gibt es keine definitiven Abgrenzungen. Deutlicher als bei Sachen macht sich bemerkbar, daß alles im Fluß ist. Die Menschengesellschaft verändert sich ständig, wie der einzelne sich unablässig wandelt. Weder zeitliche noch räumliche Abmessungen erleichtern die Aufgabe, es gibt keinen Grund riß, kein Inventarverzeichnis, keine Fotografie als wirkliches Vorbild.
Der wiederaufgerichtete Mensch ist nicht mehr der selbe. Er fühlt sich womöglich «wie neugeboren» und gibt damit zu erkennen, daß seine Krankheit ihn von Lasten befreit hat, die er vorher lange mit sich herumtrug. Auch das wiederhergestellte Sozialgebilde ist nicht mehr das selbe. Es hat von seiner Vergangenheit etwas verloren, aber es kann sie nicht ganz loswerden. Es gibt keine definitive Abgrenzung nach rückwärts. Es ist auch nicht möglich, das restaurierte Gebilde den gegenwärtigen Einflüssen seiner Umwelt zu entziehen. Sie wirken am Wiederherstellungsprozeß mit und lassen sich nicht isolieren. Mit anderen Worten: völlige Wiederherstellung von Menschen und Sozialgebilden ist nicht möglich.
In der Geschichte der Staaten gibt es kein Beispiel von vollkommener Wiederherstellung. Die Restaurationsversuche nach der Französischen Revolution gelangen nur halb, und auch in diesem Jahrhundert kam kein Staat so aus den Kriegen hervor, wie er hineinging. Aber es gibt viele Beispiele von gänzlich mißlungener Restauration und von gewaltigen, endgültigen Umstürzen. Die Viel Völkermonarchie der Habsburger gehört seit 1918 ebenso der Geschichte an wie das Zarenreich und die erneuerte Kaiserpracht von 1871. Im zweiten Weltkrieg verschwand der Typus des souveränen Nationalstaates von der europäischen Karte. Der selbstherrliche Machtstaat im alten Stil hat sich seitdem nicht wiederherstellen können. Alle europäischen Staaten hängen heute in ihren Entscheidungen ab von den beiden Vormächten Sowjetunion und USA, in deren Bündnisnetze sie verstrickt sind. Die zahllosen Paktsysteme tragen, vom regionalen bis zur Weltorganisation, dieser neuen Wirklichkeit Rechnung, und die technische Verkleinerung der Erde sorgt dafür, daß einzelstaatliche Aktionen, sofort in weltweite Transaktionen übergehen. Es ist aus mit den einsamen Entschlüssen regierender Häupter, vorbei mit dem souveränen europäischen Staat überhaupt.
Der europäische Souveränismus folgte dem Absolutismus ins Grab. In der Tat ist nicht einzusehen, warum, nachdem die Souveräne starben und die Völker souverän wurden, der soziale Prozeß vor ihnen haltmachen und sie ewig souverän belassen sollte. Die Raumüberwindung bringt die Menschen einander näher und fordert andere Formen des politischen Umgangs als bisher. Die Souveränität ist nicht mehr wiederherzustellen. Ein bescheidenes Maß von staatlicher Selbstbestimmung mag praktikabel sein, auch ist es mit dem Flitter des letzten Jahrhunderts zu behängen — wie der General de Gaulle zeigt —, jedoch nicht mehr auszuweiten.
Die Fragwürdigkeit von Restauration beschäftigt jede Nachkriegsepoche. Manchmal, wie im französischen Juste Milieu des neunzehnten Jahrhunderts oder im amerikanischen Immobilismus der Ära Eisenhower, läßt sich diese Fragwürdigkeit mit Jahreszahlen bestimmen; aber sie isoliert zu betrachten, gelingt nicht. So sind auch die ersten sechzehn Jahre der Bundesrepublik weder als isoliertes deutsches Geschehen zu verstehen noch so, als hätten sie mit jener denkwürdigen Wahl im Jahre 1949 begonnen, die Konrad Adenauer mit der berühmten Ein-Stimmen-Mehrheit zum Bundeskanzler machte. In diesem Moment waren bestimmte Weichen schon ge-
stellt, die Restauration hat vor Adenauer begonnen. Schon sein Regierungsantritt war ein restaurativer Vorgang.
Diese Feststellung verpflichtet zu der Frage, was denn eigentlich restauriert werden sollte. Eine Frage, die den Fragenden schwermütig machen könnte, denn wer hatte denn einen Plan für die Restauration, von wem kann man sagen, er habe die Restauration wissentlich und willentlich betrieben? Der ganze Vorgang löst sich in unzählige Einzelwillen und Einzelkonstellationen auf, sie alle wollten irgendwo irgend etwas wiederherstellen. Sie alle hatten gute Gründe dafür, bestimmte Verhältnisse, bestimmte Beziehungen nicht wiederherstellen zu wollen. Dennoch ist die Restauration nicht die Addition dieser einzelnen restaurativen Bestrebungen. Sie enthält diese Einzelbestrebungen; aber sie ist darüber hinaus noch etwas ganz anderes, Eigenmächtiges, das auf die einzelnen zurückwirkt und ihre Entscheidungen beeinflußt.
Alle Einzelbestrebungen und das darüberhinausweisende Ganze nahmen von der militärischen Niederlage des nationalsozialistischen Deutschen Reiches ihren Ausgang. Was dessen Kapitulation seiner Herkunft nach gewesen ist, war damals umstritten und wird auch in Zukunft verschieden eingeschätzt werden. Manche Leute hielten
und halten den Nationalsozialismus für eine antibürgerliche Revolution, für eine Verirrung des nationalen Geistes, für eine Machination weniger Schurken, die ein braves Volk ins Verderben gerissen haben. Folgt man dieser Version, so verlangt der Wiederaufbau keine grundsätzlichen Erörterungen. Es genügt, die Spitzbuben auszuschalten, und die Moral stellt sich von selbst wieder her. Die Verwaltung und die Justiz, die Generale, die Kirchen und das braune Gewimmel des mitlaufenden Volkes — sie alle wurden betrogen und vom rechten Weg abgebracht durch eine Handvoll Figuren, die mit der deutschen Geschichte nichts zu tun hatten, ein «böhmischer Gefreiter» an der Spitze. Die Annahme eines solchen Abgrundes von Dummheit und Unfähigkeit ist ein wenig kränkend. Sie verdeckt zudem die Wahrheit, daß dieses Volk samt seiner Justiz, seiner Administration, seinem Militär und seinen religiösen Einrichtungen ungeheure Anstrengungen unternommen hat, das Hitler-System in Europa auszubreiten und ihm in der Welt zum Siege zu verhelfen. Hierauf gründet sich eine andere Ansicht: Der deutsche Ansturm richtete sich gegen alle revolutionären Errungenschaften der Menschheit, gegen das Völkerrecht ebenso wie gegen den Parlamentarismus, gegen den Rechtsstaat wie gegen die bürgerlichen Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, im Ende gegen das Christentum. Hitler konnte sich auf alles stützen,
was dagegen war. Er war Antichrist und Antisemit, Antikommunist und Antiliberalist, Antifeminist und Antiliterat. Seine Herrschaft ruhte auf den gegenrevolutionären Elementen der deutschen Gesellschaft. Die Wiederherstellung nach 1945 ging von der Niederlage seiner Gegenrevolution aus.
In den Jahren des Nachkriegs waren vor allem Menschen wiederaufzurichten. Ganz einfache, politisch und wirtschaftlich unscheinbare Menschen, die in den vorausgegangenen Jahren bis zum Exzeß von fremden Willen gelenkt und hilflos in der Maschinerie des großen Terrors verfangen waren. Menschen wiederaufrichten zu wollen, war der Anfang der Restauration. Der Begriff hatte noch etwas von dem wohltätigen Sinn des Wieder-zu-sich-selbst-Kommens, des Sich-Entspannens, des Luftschöpfens und Atemholens. Freilich herrschte große Not. Die Bedingungen, unter denen diese wiederherzustellenden Menschen lebten, waren ungut. Die Abwesenheit politischer Selbstbestimmung fiel dabei weniger ins Gewicht als der Mangel an lebensnotwendigen Gütern. Es ist eine nachträgliche Verklärung, wenn wir dazu neigen, diesen Mangel angesichts des heutigen Überflusses als ein förderliches Element darzustellen. Förderlich war er nur dem Denken. Wer das Notwendigste entbehrt, wird von selber einfallsreich. Die Natur zwingt ihn, auch den
sonst weniger geübten Denkapparat zu benutzen, während vom Satten bekannt ist, daß ihn sein Verdauungsapparat mehr beschäftigt. Insofern also — und ich würde sagen, nur in dieser Hinsicht — war die leibliche Not des nach Wiederherstellung verlangenden Menschen anregend. Aber man hüte sich auch noch bei dieser beschränkenden Anerkennung davor, sie allzu positiv auszulegen. Das Denken, das die Not förderte, brachte nicht nur Pläne für ein besseres Zusammenleben hervor, sondern auch und in erster Linie Überlegungen, wie das eigene Überleben auf Kosten der anderen zu bewerkstelligen sei.
Krasser wirtschaftlicher Egoismus und soziale und humane Theorie gingen in dieser Periode zusammen. Die Studenten jener Jahre nährten sich von den großen Ideen der politischen Theoretiker und vom Schwarzmarkt. Und sie diskutierten. Alle Welt diskutierte.
Ohne Diskussion wäre aus der Trümmerwelt von 1945 nichts wiedererstanden. Diskussion war der diametrale Gegensatz zum Führer-Terror, war das Aufatmen nach dunklen Kellernächten der Gefangenschaft. Ohne Diskussion keine Restauration; aber keine Diskussion ohne geschichtliche Einbildung, ohne das Bemühen, sich
historisch ins Bild zu setzen. Alle Diskussionen waren insofern historischer Natur, als sie von den Autoritäten der Vorvergangenheit Antworten für die Gegenwart erwarteten. Die unmittelbar vorhergegangenen Autoritäten waren mit Recht gestürzt. Von ihnen war keine Auskunft zu erlangen; um so mehr erwartete das Volk von den früheren Größen. Das Verfahren war im allgemeinen naiv, ließ oft die augenblickliche Situation außer acht, für die doch gerade eine Antwort gesucht wurde. Man neigte zum Generalisieren auch bei der Behandlung von Einzelfragen. So entstand notwendigerweise eine Kluft zwischen den Fragen des Sichwiederaufraffens und den Antworten, die man dafür hatte. Die Antworten bewegten sich im christlich-abendländischen Bereich, die Fragen blieben auf dem Boden, in den wenige Wochen und Monate zuvor die Nazi-Macht hineingestampft worden war. Für die Restauration Deutschlands bedeutete diese Diskrepanz zwischen Frage und Antwort sehr viel. Sie führte nämlich als erstes. Element jenen alten Unterschied wieder ein, der in der deutschen Geschichte stets zwischen dem politischen Denken und der Praxis der Herrschaftsübung bestanden hat, ein im wesentlichen negativer Einfluß, aber einer, der durch die Jahrhunderte zur Gewohnheit
geworden ist, so daß die Ratlosigkeit sich vergrößern würde, wenn er entfiele. Man kann ihn ins Kalkül ziehen, wenn man die deutsche Politik zu verurteilen sucht. Das unbändige Interesse an Geschichte, das die ersten Diskussionen bewegte, blieb also im Rahmen des ererbten Geschichtsverständnisses, insofern es die Bedingungen, unter denen die Fragen an die Vergangenheit gestellt wurden, nur ungenügend in Rechnung stellte, und oft verkannte, daß die Antwort von der Frage abhängt.