Theoretisch sind die Freiheiten der Meinungsäußerung unbegrenzt, in der Praxis verhält es sich keineswegs so, daß einer nur den Mund aufzumachen braucht, um diese Meinungsfreiheit zu verwirklichen. Wie überall in der Weh besteht auch hierzulande eine starke Differenz zwischen den formal gesicherten Freiheiten des Menschen und den Mitteln, die er hat, sie zu verwirklichen.
Die Hemmungen, denen er — zunächst scheinbar individuell- unterliegt, erweisen sich bei näherem Zusehen als sozial bedingt. Mängel der Erziehung, die auf historische Unterlassungen zurückgehen, werden ergänzt durch Fehler im Ausdrucksvermögen und schließlich gekrönt von der Überzeugung, daß es ja doch keinen Wert habe, sich zu äußern, die Verhältnisse seien nun einmal derart, daß die Äußerung eines Einzelnen nichts bewirke.
Diese Überzeugung von der Ohnmacht des Einzelnen beruht auf wohlbegründeter Erfahrung. Vor die Wirkung haben die Götter die Gruppe gesetzt. Alle Veröffentlichung ist Gruppengeschehen. Wer publizieren will, muß entweder einer Gruppe beitreten, oder er muß eine Gruppe bilden.
Eine Gruppe bringt man in der Regel nicht mit einer vereinzelten Äußerung zustande. Dazu gehören Ausdauer, Wiederholung, Periodizität.
Wer aber verfügt über diese Voraussetzungen? Wer von der Wirkungslosigkeit seiner Äußerung überzeugt ist, kann mit Recht darauf verweisen, daß ihm die Zeit und die Mittel fehlen, sich ständig zu wiederholen. Bis der Einzelne eine Reihe Einzelner erreicht hat, sind seine Ansichten womöglich überholt. Er kann immer nur wenige auf einmal anregen. Er müßte sich vervielfältigen, gleichzeitig hier und dort sein, um seiner Wiederholung Gewicht zu verschaffen.
In der Publizistik jeglicher Art verhärten sich die Schwierigkeiten. Denn der Mann, der sich äußert, hat es nicht nur mit sich und dem Publikum, sondern mit den Institutionen der Vermittlung zu tun, von denen er abhängt wie sie von ihm.
Er kann sich äußern um den Preis irgendeiner Zugehörigkeit: zu einem Verlagsgeschäft, zu einem Lehrstab, einem Radio-Team oder einer Fernsehanstalt. Der Autor wird zum Teil ihres Systems. Unternehmen, Stab, Team, Anstalt- das sind schon ganz andere soziale Bedingtheiten als die bloßen Erziehungsfehler oder Bildungslücken. Sie haben ihren bestimmten Platz im Ganzen und dienen bestimmten Zwecken. Sie kontrollieren ihre Mitglieder durch politische und andere Mittel, vor allem durch wirtschaftliche. Es ist fatal, daß, wer reden will, auch essen muß. Und mancher verzichtet, vor die Wahl gestellt, lieber auf das eine als auf das andere. Je-
de Meinungsäußerung des Einzelnen hat ein kostspieliges Organ nötig, um gehört zu werden.
Das war nicht immer so. Am Hyde Park Corner spricht von den Seifenkisten noch die Karikatur der forensischen Demokratie der Antike. Und das Gedrucktwerden hat zwar immer Geld gekostet, aber nie so viel wie heute. Die materiellen Aufwendungen für Papier, Druckarbeit und so fort sind im Begriff, ganz außer jedes Verhältnis zu dem zu geraten, was ein einzelner noch erschwingen könnte, selbst wenn er wohlhabend wäre. Zunehmend bringen anonyme Gesellschaften das Kapital auf, das vor dem Gedruckt- und Gelesenwerden da sein muß. Die Gewerbefreiheit schiebt sich vor die Pressefreiheit. Es entsteht eine falsche Rangordnung der Freiheiten.
Diese ganz allgemeine, im Zuge der fortgeschrittenen Technik nicht revozierbare Entwicklung gibt Anlaß, nach den kleinen Magazinen zu forschen, die, zwar nicht ohne wirtschaftliches Risiko, aber doch mit geringerem Kapitalaufwand Meinungen unter die Leute bringen und sogar zum Teil gehört werden, also politisch relevant sind.
Die Zeitschrift ist das wahre Ausdrucksmittel des kleinen Mannes. Das, was gemeinhin als Blatt des kleinen Mannes mit Millio-
nenauflage verbreitet wird, gibt ihm zwar Meinungen, aber das sind Meinungen, die man ihm eindrückt, nicht solche, die er ausdrückt, selbst dann, wenn sie so formuliert werden, wie die Redaktion glaubt, daß der kleine Mann sich ausdrücke. Was man also Blätter des kleinen Mannes genannt hat, sind Blätter des manipulierten kleinen Mannes. Die Zeitschriften allein erlauben dem kleinen Mann, selber zu manipulieren — wenn dieser verpönte Ausdruck hier gestattet ist.
Die Zeitschrift ist das billigste aller Kommunikationsmittel. Dank ihrem mangelnden Ehrgeiz, sich an alle wenden zu wollen, kann sie so sicherer Gruppen bilden, und dank ihrer beschränkten Thematik kann sie, wenn sie gelesen wird, auf vertiefte Anteilnahme rechnen. Während die ökonomisch-technische Entwicklung die große Presse zu immer stärkerer Konzentration und zugleich zu immer universeller werdendem Anspruch zwingt, scheint sich der Zeitschrift im weiten Feld der Spezialisierungen der umgekehrte Weg zu öffnen. Es gibt immer mehr Zeitschriften mit immer konzentrierteren Ansprüchen und damit eine pluralistische Tendenz, wo im Zeitungsbereich das Monopol nur mit Mühe vermieden wird.
Kleine Leute waren, von der Ökonomie und der sozialen Ausgangsposition her, fast alle Herausgeber und Redakteure der Monatsschriften, die in den letzten neunzig Jahren deutsche Politik und Literatur zugleich vorantrieben.
Von der «Deutschen Rundschau», die 1874 gegründet wurde, bis zu den «Frankfurter Heften» oder «Texte und Zeichen» haben sie alle, ihrer Richtung unbeschadet, eine demokratische Funktion erfüllt: sie haben den Meinungen machtloser Einzelner zu Gefolgschaft und damit zu politischer Wirksamkeit verholfen. Manche von ihnen haben mit großer Not, Ossietzky und Cossmann mit dem Leben dafür bezahlt; aber das war für sie nicht das Entscheidende und soll es für uns nicht sein.
Vielmehr soll auf den folgenden Seiten zum ersten Mal dargetan werden, wie die deutschsprachigen, politisch-literarischen Zeitschriften die geschichtliche Bewegung gefördert haben. Wie sie in Weisheit und Irrtum, mit Erfolg und Mißerfolg das Ganze zu beeinflussen suchten.
Das Buch greift auf eine Gastvorlesung zurück, die ich im Sommersemester 1962 an der Freien Universität Berlin im Institut für
Publizistik hielt. Der Universität bin ich für die Ehre der Einladung zu Dank verpflichtet, den Studenten meines Seminars für ihre anregende und lebhafte Mitarbeit. Bei der recht schwierigen Beschaffung der abgedruckten Programme hat Fräulein Referendar Christa Bianchi, München, das Hauptverdienst.
Einzelne Teile des Manuskriptes wurden 1962/63 in der «Neuen Zürcher Zeitung», im Hessischen Rundfunk und in der «Deutschen Rundschau» veröffentlicht. Dafür habe ich meinen Kollegen in den Redaktionen zu danken.
Salmers/Allgäu, Januar 1963
Dr. Harry Pross