MODERATOR: Dies ist ein Blick zurück, vielfach im Zorn, auf die deutsche Publizistik der vergangenen hundert Jahre, von denen der Autor Harry Pross die letzte Hälfte mit erlebt, mit geprägt und auch mit erlitten hat. Pross war freier Journalist, Redakteur der Deutschen Rundschau, Mitherausgeber der Neuen Rundschau, Chefredakteur von Radio Bremen und schließlich Professor für Publizistik an der FU Berlin. Ruhestand ist ihm ein fremdes Wort. 1992 schrieb er ein aufschlußreiches Buch unter dem Titel Protestgesellschaft, 1996 folgte der Band Der Mensch im Mediennetz, eine kritische Orientierungshilfe im Gestrüpp postmoderner Medien und deren Auspizien zwischen Vielfalt und globaler Uniformität.
SPRECHER: Pross‘ jüngstes Buch, ein Report über die deutsche Presse im zwanzigsten Jahrhundert, ist alles andere als eine historische Datensammlung. Der Autor will, wie im Vorwort vermerkt, als engagierter Journalist Gegenwart von innen referieren. Und das heißt, daß er überall die politisch-ökonomischen Interessen aufdeckt, die sich hinter den Proklamationen der Meinungs-
macher (und den eindrucksvollen Layouts) verbergen, und das heißt ferner, daß er mit Urteilen und Verdikten nicht hinter dem Berg hält. Zeitgeschichte und Zeitungsgeschichte ― diese weniger als Spiegel, denn als Reflex jener ― sind bei Pross aufs engste miteinander verflochten, wobei sich stellenweise die Rekapitulation der politischen Geschichte in den Vordergrund drängt.
Entstanden ist eine konzise kritische Analyse, die das Zeitungs- und Zeitschriftenmachen in deutschen Landen in vorigen Säkulum als eine Art andauernder Ausnahmezustand und den Journalismus „als Eiertanz“ (nach Jürgen Roth und Klaus Bittermann) in Erscheinung treten läßt. Von Beginn an stand das Zeitungsmachen auch unter dem Zwang der Bedingungen sich überschlagender neuer Druck- und Kommunikationstechniken, die Pross auf den gelungenen Begriff Signalökonomie bringt. Sie tangiert die Themen, die Sprache und das Tempo, oder in den Worten von Pross: „Auf immer weniger Raum für ein immer größer werdendes Publikum in verkürzten Zeitabständen zu berichten“. Daß dergleichen Pressuren freilich auch so etwas wie einen neuen Stil, eine neue Kleinkunstform hervortrieben, daran erinnert Pross mit Namen wie
Friedell, Polgar, Joseph Roth, Kracauer oder Tucholsky und Koestler. Mit solch glanzvollen Namen können heutige Reste deutscher Kulturzeitschriften nicht mehr aufwarten. Die Deformationen, die Pross meint, liegen aber auf einer anderen Ebene, und aus ihnen ergibt sich seine prinzipiell trübe Bilanz. Schon die in der wilhelminischen Ära ― 1897 wurden 8197 deutschsprachige Zeitungen und Zeitschriften registriert, allerdings nur eine, in Frankfurt, von Weltgeltung ― aufkommenden Pressekonzerne bildeten schwer durchschaubare „Meinungskartelle“, die die Pressefreiheit bedrängten. Die Zeit bis 1918 charakterisiert Pross folglich als „stolzen Aufbruch in den Abgrund“, und noch in der Weimarer Republik, so belegt er detailliert, schleppte sich neben publizistischen Highlights die wilhelminische Tradition „ohne Wilhelm“ fort, während Hugenberg „mit allen Mitteln der Presse, des Radios, des Films“ zum Propagandaangriff auf die Republik ansetzte.
Von 1933 an war die deutsche Presse nazistisch „gleichgeschaltet“ und zum reinen Propagandainstrument der NS-Ideologie erniedrigt. Pross skizziert hier die einzelnen Blätter und verweist auf
die umstandslose Anpassung allzuvieler Herausgeber und Redakteure (seinerzeit „Schriftleiter“ genannt). Bemerkenswert war die Ausnahmestellung der Mitarbeiter an der wöchentlichen Renommier-Zeitung Das Reich, die angeblich keine Nationalsozialisten waren und deshalb ihre Karrieren in der Adenauer-Ära fortsetzen konnten.
Wie im „Dritten Reich“ besaß in der DDR die Partei das absolute Pressemonopol. Alle Presseerzeugnisse unterlagen der Zensur der SED, es hatte linientreu geschrieben und redigiert zu werden. Druckwerke aus dem klassefeindlichen Ausland blieben ausgeschlossen. Gleichwohl gediehen noch Periodika, namentlich Peter Huchels Sinn und Form, in denen das eigenständig Gedachte geschrieben und gedruckt werden konnte, nicht zuletzt als Alibi dem Westen gegenüber. Prass mutet sich und uns in diesem grauen Kapitel deutscher Geschichte keine Schwarz-Weiß-Malerei zu. Bei allen gravierenden Unterschieden, so vermerkt er etwa, verdankt sich die Nachkriegspresse „hüben wie drüben“ der Lizenzvergabe durch die jeweiligen Besatzungsmächte.
Die folgenden Jahre stehen für Pross im Zeichen technischer Innovationen und in deren Folge anhaltender Fusionen ― und wenn man will Konfusionen ― auf dem Zeitungsmarkt, in deren Verlauf,
so Pross, die Gewerbefreiheit der Verleger (Unternehmer) mehr und mehr über die Meinungsfreiheit der Redakteure gestellt wird. Alternativen dazu seien schwer auszumachen, gleichwohl hätten neueste Videomedien oder die Vernetzung durch Internet die Existenz der Printmedien, wie meist befürchtet, nicht gefährden, nicht einmal deren Essenz mindern können ― solange sie ihre Wächterfunktion unbeirrt ausüben und soweit sie sich der oberflächlicheren Bildsprache des Fernsehen nicht anzuähneln versuchen. ,,Die Zeitung sollte machen, was sie besser kann, statt zu versuchen, nachzuahmen, was sie nicht kann“, denn, so heißt es bündig an anderer Stelle: „Der Zeitung bleibt vermutlich die Analyse der Hintergründe, den Bildmedien die Vorderansicht“.
Letztlich sieht Pross die einst vom Staat dirigierte deutsche Presse gegenwärtig dem Zugriff „des Kapitals“ ausgeliefert und, mitunter vielleicht etwas zu plakativ, „amerikanisiert“. Womöglich mißt er unter diesem Aspekt dem anderen Partner des Zeitungsmachens etwas zu wenig Gewicht bei, dem Käufer, dem Leser, der ja nicht bloß der hilflos Geblendete ist. In welchem Maße die Leser mitbeteiligt an der Meinungsbildung und am Niveau eines Blattes sind, läßt sich allerdings nicht leicht bestimmen. Im übrigen genießt der
Journalismus in unserem Lande traditionsgemäß ein weitaus geringeres Ansehen als in anderen Ländern, namentlich in Frankreich. Bei den gelegentlichen Vergleichen mit der Auslandspresse, die Pross anstellt, wäre das als Indiz dürftiger literarischer Kultur hierzulande noch in Betracht zu ziehen.
Alles in allem ein Buch, das in erstaunlicher Konzentration die entscheidenden Phasen deutscher Publizistik ― mitsamt den Exilzeitschriften übrigens ― im schrecklichen zwanzigsten Jahrhundert ausleuchtet. Ein eindringlicher Diskurs für Zeitungsmacher wie Zeitungsleser.
Harry Pross: Zeitungsreport. Deutsche Presse im 20. Jahrhundert, Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger, Weimar 2000, 333 Seiten
gesendet im Bayerischer Rundfunk, 2. Programm, Kulturkritik, Bücher – ein Magazin für Leser, Sendedatum vermtl. Oktober 2000