sagt der Vorsitzende auf der Parteiversammlung. Ein Wahltermin steht bevor, jede Stimme zählt. Der Redner braucht Stimmen, mehr als er braucht.
Braucht er auch Freunde? Hat er Freunde, wenn er die Hunderte auf der Versammlung so anspricht? Sie sind gekommen. Sie geben etwas von ihrer Lebenszeit ab, um ihn zu hören. Beweist das Freundschaft? Ist es ein Freundschaftsdienst? Vielleicht von den alten Schulkameraden, die gekommen sind, um seine Versammlung zu füllen, weniger um ihn zu hören, denn sie glauben zu wissen, was er sagen wird, vor allem, wie er es sagen wird. Da hat sich nicht viel geändert, seitdem er in der Klasse das große Wort führte. »Der wirtschaftliche Aufschwung und die Leistungsfähigkeit der Wohltätigkeit und Humanität sind zum größten Teil von dem planmäßigen, weisen und entschiedenen Handeln unserer Wähler abhängig. Sie geben die Direktive‘ meine Freunde, und gehen voran. Man sollte deshalb nicht übersehen, daß die Einheit des Vaterlandes… «
Die Intonation ist gleichgeblieben. Einige Wörter kann er noch immer nicht richtig aussprechen. Das konnte ihm schon der Deutschlehrer nicht beibringen; aber es stört sie nicht, die alten Ka-
meraden. Sie können es alle nicht ganz richtig; daran erkennen sie, daß er zu ihnen gehört, der Schorsch. »Aufschwung« war schon die Parole der Großväter.
Dialektfärbung, Abweichungen von der Schriftsprache, populäre Floskeln, Stereotypen, wie die vom phantastischen wirtschaftlichen Aufschwung —, die schon 1900 beliebtes Zeitungsdeutsch war —, nicht zuletzt die Macht, die verkörpert, wer ein Amt be-sitzt, bewirken freundliche Zustimmung. Menschen brauchen Freundlichkeit. Von fortgesetztem Infantilismus, einem regressiven Wunsch nach einer »anal-geprägten« Vaterfigur sprechen nur die schlimmen Psychoanalytiker. Tatsächlich will der Redner sich als »väterlichen Freund« vorstellen, vielleicht stellt er sich so auch sich selber vor.
»Meine Freunde!« Er sagt es jetzt schon zum dritten Mal in zehn Minuten: Das »Freunde« kommt glatt und satt aus seinem Munde wie ein Wall vor »diesem unserem Vaterlande«, das zu hüten er aufruft, es zu verbessern mit seiner Politik, mit »unserer« Politik. Dann bekommt die Opposition ihr Fett ab: »Wer keinen Feind hat, hat auch keinen Freund!«
Die so angesprochenen Freunde zeigen sich ungerührt. »Red du mal« ist auf ihren Gesichtern zu lesen. Nur einer nickt bei jedem
Punkt zustimmend mit dem Kopf. Er ist aus dem Sekretariat und der Verfasser der Rede. Werbeberater. Einmal gelingt es ihm, durch heftiges Händeklatschen ein paar Takte Beifall hervorzulocken. Ist er ein Freund? Der einzige im Saal und lieb dazu? Manche sagen ihm nach, er wolle selber auf den Vorsitz, statt immer dem Dicken nachzusitzen.
»O meine Freunde, es gibt keine Freunde«, zitierte der Essayist Michel de Montaigne 1580 den Aristoteles, der 382 vor Christus geboren ist.
Nicht nur die Parodie auf den Parteienkampf in der Bundesrepublik scheint den Stoßseufzer des griechischen Weisen zu rechtfertigen. Nach der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau erließ das Internationale Häftlings-Komitee am 8. Mai 1945 einen Appell an die 33000 Ausgemergelten, die überlebt hatten: »Zwei Pflichten und ein Grundsatz: Freundschaft, Brüderlichkeit und keine Politik« Darin hieß es u.a.:
»Das Wichtigste ist, daß wir dem Leben wiedergegeben sind, daß wir heute am Leben sind. Und daß wir heute leben, verdanken wir der Freundschaft und der Brüderlichkeit, die im Lager bestanden haben. Wir haben alle Sorgen und Leiden der schweren Zeit ge-
teilt, aber wir haben einander nie gehaßt und niemals bespitzelt. In der Nazi-Hölle gab es keine Deutschen, keine Russen, keine Polen, keine Jugoslawen: Hier lebte eine Gemeinschaft von Freunden und Brüdern, eine allseits vom Tod bedrohte Familie, eine Gesellschaft mit gleichen Prinzipien und Idealen. Alle hatten das eine Ziel: Tod den Hitler-Schergen und ihren Anhängern. Dem galt der Krieg, den wir in den hohen Gebirgen und auf den weiten Ebenen unserer Länder geführt hatten. Das war der Wahlspruch der Ausgemergelten in Dachau.
Und jetzt sind wir frei. Die ruhmreichen Armeen der Alliierten haben die Bestie tödlich verletzt. Sie liegt schon im Sterben… Kein Chaos, keine Anarchie! Jene, die gestern unsere Sache verraten haben, werden vor dem Lagergericht zur Rede gestellt und angeklagt werden. Aber das Leben von dreiunddreißigtausend zu Skeletten heruntergekommenen Menschen darf nicht aufs Spiel gesetzt werden. Wer die Ordnung zu stören versucht, wird von allen bestraft werden. Nichts wird ihm nachgesehen… Hier gelten nur zwei Pflichten und ein Grundsatz: Freundschaft, Brüderlichkeit und keine Politik.«
Wie auch immer die Freundschaften und Kameradschaften, Genossenschaften und andere brüderliche Verbindungen gewesen waren: Das Gesamtwohl der Unterdrückten war für die allermeisten kein Gesichtspunkt mehr, nachdem die Unterdrücker beseitigt waren. Der Historiker Wolfgang Benz berichtet vierzig Jahre später, 1985, in den »Dachauer Heften« von geringfügigen Anlässen, bei denen der Nationalismus aufloderte: Zeremonien, Rangfragen, Kompensation der eigenen Schwäche durch das vermutete, erhoffte, tatsächliche Prestige der Nation. Ein Norweger vermißte zum 1. Mai seine Landesfarben. Ein Vertreter der französischen Häftlinge blieb demonstrativ einer Sitzung beim amerikanischen Lagerkommandanten fern. Die frühesten Insassen, Deutsche und Österreicher, empörten sich, weil sie einen Fragebogen ausfüllen sollten, der den anderen Nationen erlassen worden war. Sind Freundschaften in der Politik nur Status-Fragen? Dienen sie allein dem Prestige, dem Anschein der Macht, von dem der Psychologe Alfred Adler 1908 geschrieben hat, es sei das Brot des Neurotikers?