Als die Generalversammlung der Vereinten Nationen im Dezember 1962 ihrem Bedauern darüber Ausdruck gab, daß 70% der Erdbevölkerung keine angemessenen Informationsmöglichkeiten besitzen, hatte sich die Weltorganisation schon eineinhalb Jahrzehnte lang bemüht, diesen Mangel zu beseitigen. Die berühmte Conference on Freedom of Information, die 1948 stattgefunden hatte, war der erste Höhepunkt dieser Bemühungen gewesen. Damals war die Freiheit der Information zu einem Schlüssel für andere Freiheiten erklärt worden. Man nannte sie eine der Grundfreiheiten und bezeichnete sie sogar als einen Eckstein aller Freiheiten, denen die Vereinten Nationen ihre Arbeit widmen.
Der ideale Schwung solcher Erklärungen hat die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Informationswesen und den Kommunikationsmitteln gefördert, in einzelnen Fällen sogar zu speziellen Untersuchungen Anlaß gegeben. Die vorwärtsweisende Reihe der UNESCO-Studien des Themas hat Epoche gemacht, das Internationale Presse-Institut in Zürich und andere verfolgen die Entwicklung sehr genau. Das Ergebnis ist zwiespältig. Mehr und mehr tritt der Begriff der »adäquaten Information« an die Stelle des Begriffes
der freien Information oder doch neben ihn. Wilbur Schramm 1 spricht von »free and adequate information«, wo er von den Möglichkeiten berichtet, die den modernen Kommunikationsmitteln in den Entwicklungsländern offenstehen. Ohne die Ideale von 1948 herabsetzen zu wollen, die ja auch noch in anderen internationalen Organisationen, zum Beispiel dem Internationalen P.E.N., verfochten werden, muß man doch festhalten, daß seitdem eine gewisse Ernüchterung eingetreten ist. Die Erfahrung hat gezeigt, daß der Freiheit der Information die Entwicklung von Medien vorausgehen muß, und hieraus erwuchs die Frage, welche Medien welchen Gesellschaftsformen angemessen sind. Sie ist nicht Zu beantworten ohne Kenntnis der kulturellen Überlieferungen in Religion und Ethik, nicht ohne ökonomische Analyse und ganz und gar nicht ohne Berücksichtigung der politischen Verfassung, die wiederum als Reflex des gesellschaftlichen Prozesses und seiner Reibungen mit der westlichen Zivilisation untersucht werden sollte. Die Vorstellung, man müsse den Völkern Asiens und Mrikas nur Zeitungen und Rundfunk geben, die Freiheit der Information werde sich dann schon einstellen, erwies sich als ebenso irrig wie Bismarcks Annahme vor hundert Jahren, man müsse Deutschland nur in den Sattel setzen, reiten werde es dann schon können.
Es geht nicht mehr nur darum, einen Überblick darüber zu gewinnen, welche Informationsmittel den einzelnen Entwicklungsgesellschaften angemessen sind. Man tut gut daran, sich Gedanken über den europäischen Ursprung dieser Medien zu machen und auch die Vorstellungen von Freiheit, die wir mit ihnen verbinden, als Produkte der euroamerikanischen Gesellschaft zu relativieren, die sich aus der MitteImeerantike entwickelt hat, und beim Vergleich möglichst weit unten anzufangen. Kommunikation heißt jede Beziehung des Menschen zur Wirklichkeit außerhalb seines Bewußtseins, welche ihm Nachricht aus dieser Welt bringt. Kommunikationsmittel heißen demnach alle Veranstaltungen und Techniken, derer sich der Mensch bedient, um sich die Realität anzueignen.
In der euro-amerikanischen Kultur stellen wir uns diese Aneignung als ein Ins-Bewußtsein-Heben, als einen Vorgang des Bewußtmachens vor. Nachrichten von außen werden verarbeitet, und die Mittel der Kommunikation sind darauf angelegt. Aber schon diese einfache Voraussetzung gilt nicht allgemein. Léopold Sédar Senghor und andere haben immer wieder darauf hingewiesen, daß schon unsere nächsten Nachbarn im Süden, die Afrikaner, psycho-physiologisch auf die Objektwelt anders reagieren als die Weißen.
Ihr Verhalten sei »direkterer, konkreterer Ausdruck der Empfindungen wie auch der vom Objekt ausgehenden Anregung in ihrer ganzen Kraft und mit ihren ursprünglichen Qualitäten«, schreibt Senghor und fügt hinzu: »Wenn ich einem Mannschaftsspiel beiwohne – einem Fußball-Match zum Beispiel- nehme ich mit meinem ganzen Körper am Spiel teil. Höre ich eine Jazz-Melodie oder ein negroafrikanisches Lied, muß ich, da ich nunmehr ein >zivilisierter Mensch< bin, meine ganze Kraft aufbieten, um nicht zu singen und zu tanzen.« 2 Von vergleichbarer Sensibilität sind in Europa die Kinder. Der Körpersinn für den Rhythmus von Bewegungen, Tönen, Farben, Formen bedeutet für die europäische Kommunikation fast nichts, und man wird gewöhnlich bis zu den »Tanzepedemien« des Mittelalters zurückdenken, wenn man sich den Tanz als ein Medium massenhafter Nachrichtenübertragung verdeutlichen will. Als Massenmedium wird er kaum beachtet, obschon das Sensorium der jungen Leute für dieses Kommunikationsmittel durch afrikanische Musik geweckt ist.
Gewöhnlich gelten als »Massenmedien« hierzulande die technischen Einrichtungen, die eine große Zahl gleicher Nachrichten (Inhalte, Symbole, Informationen) gleichzeitig zu einer großen Zahl
von Menschen bringen, ohne daß dadurch direkter Kontakt mit den Urhebern der Mitteilung entsteht, also Presse, Hörfunk, Sehfunk, Film. Schon das Buch wird meistens ausgenommen, und ein reaktionärer Politiker erklärte es 1965 sogar für die Aufgabe des von ihm präsidierten Verbandes, ein Gegengewicht gegen »die Massenmedien« zu bilden, worunter er die Fernsehanstalten begriff, die ihm nicht genehme Reportagen gebracht hatten.
Ganz so einfach liegen die Dinge nicht. Wenn auch der Tanz in unserem gegenwärtigen Kulturzustand nicht in die Betrachtung aufgenommen werden muß, so ist doch die Beschränkung auf Presse, Film und Funk zu eng. Hervorgehend aus dem edlen Bestreben, als massenhaft nur gelten zu lassen, was über die Millionen reicht, also der Relativität der Zahl und der psychologischen Komponente von »Masse« nicht gerecht werdend, hat man das wichtigste Kommunikationsmittel der abendländischen Geschichte fast ganz vergessen, das je Massen in Bewegung gebracht hat: die Rede. Weder das Fernsehen, noch der Hörfunk, noch die Zeitung haben bisher große Haufen veranlaßt, mit Weib und Kind in ein fernes Land aufzubrechen, wie das die Wanderprediger in der Nachfolge des Bernhard von Clairvaux vermittels ihrer Redekunst vermochten. Wieviel be-
wirkt eine Fernsehinformation, die fünfzehn oder zwanzig Millionen Menschen sehen, im Vergleich zu dem, was ein einzelner Kreuzzugsprediger vermochte, Papst Urban II. bei seinem ersten Aufruf auf dem Konzil zu Clermont im Jahre 1095 , oder später Berthold von Regensburg, als er Süd- und Westdeutschland, die Schweiz, Böhmen, Ungarn, Schlesien, Mähren und Österreich durchzog?
Es hieße freilich, das Pferd vom Schwanz aufzäumen, stellte man die Macht der Rede außerhalb der kulturellen Bedingungen dar, unter denen sie so gewaltig war. Um die einzelnen Medien verstehen zu können, muß man sich zum radikalen Relativismus entschließen und technisch-wissenschaftliche mit kultischen und politisch-wirtschaftlichen Komponenten in Beziehung setzen. Man darf nicht nur auf das Medium starren, sondern muß in die Beurteilung seiner Möglichkeiten auch Wertvorstellungen einbeziehen, Kult, Moral und Chiffren der Transzendenz, ferner tiefsitzende, nicht ohne weiteres rationalisierbare Lebensäußerungen der Art, wie sie Margret Mead von den Arapesh berichtet hat, die angesichts eines Bildes aus einem amerikanischen Magazin nicht fragen »Was ist
das?«, sondern ausrufen »Oh, wie herrlich!«. 3 In diesem kultischen Bereich entscheidet sich schließlich, welche Wirkung die veränderte Objektwelt auf die Menschen haben kann, welchen Rang sie dem Kommunikationsmittel zumessen können. Das heißt zugleich, daß die Entscheidung nicht allein beim Autor und auch nicht beim Medium liegt, sondern daß sie in erster Linie in den primären Gruppen fällt, in die alle Medien schließlich münden. Veranstalteter Empfang und formlose Rezeption sind in ihrer Unterschiedlichkeit zu beachten, und am Ende wäre dann wieder die Rede in der hautnahen Gruppe der wichtigste Faktor der Verarbeitung.
Norbert Wiener hat zu einem Grundsatz der Kybernetik erklärt, daß Information weder Energie noch Kraft sei, und damit nicht nur der Nachrichtentechnik weitergeholfen. Hier geht es nicht um Informationstheorie oder Nachrichtentechnik, sondern um die Mittel der Publizistik von der Rede bis zur Television in ihren kultur-soziologischen 4 Bedingungen.
Dies Buch enthält Prolegomena, einleitende Vorbemerkungen, zu einer Theorie der Publizistik. Es ist ein Teilergebnis von Forschungen, die mir die Geschwister-Scholl-Stiftung im Jahr 1962/63 ermöglichte. Ihrem Direktor, Thorwald Risler, danke ich für die mir damit gebotene Chance. Gleicherweise gilt mein Dank dem Direktor des Instituts für Publizistik an der Freien Universität Berlin, Professor Dr. Fritz Eberhard, der mich damals zu Vorlesungen in seinem Institut einlud, und den Studenten meiner dortigen Seminare.
1 Massmedia and National Development. The Role of Information in the Developing Countries, Stanford 1964.
2 L.S. Senghor, »Negritude«, Neue Rundschau, Berlin, 1963, Heft 4, S. 54.
3 Sex and temperament in three primitive societies, Kap. IV, New York 1950, deutsch in Margret Mead, Leben in der Südsee, München 1964.
4 vgl. den Artikel Kultursoziologie im Handwörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1931, und A. Weber, Kulturgeschichte als Kultursoziologie, 3. A., München 1960.