Der Begriff »deutscher Sonderweg« ist erst durch die in letzter Zeit geführte Debatte unter den Historikern stärker in den Vordergrund getreten, doch was damit gemeint ist, hat die Geschichtsschreibung über Deutschland schon lange vorher beschäftigt. Andere Autoren sprechen statt vom deutschen Sonderweg von einer ‚besonderen deutschen Entwicklung‘ oder von einer »deutschen Sonderentwicklung«; in allen Fällen meinen sie mit diesen Bezeichnungen eine charakteristische Abweichung der historischen Entwicklung Deutschlands im 19. und im 20. Jahrhundert (bis 1945) von der politischen und kulturellen Entwicklung, welche die wichtigsten Staaten Westeuropas, insbesondere Frankreich und Großbritannien, genommen haben. Darum wird die Auseinandersetzung über den deutschen Sonderweg vielfach auch unter dem Gesichtspunkt der bemerkenswert schwachen Ausbildung liberaler und demokratischer Ideen und Institutionen in der deutschen historischen Entwicklung im Vergleich zu den anderen westlichen Ländern behandelt. Hinter der These vom deutschen historischen Sonderweg
verbirgt sich, obwohl es nicht immer direkt ausgesprochen wird, der Gedanke, daß dieser Sonderweg eine wesentliche Erklärung für den fatalen historischen Entwicklungsgang darstellt, der zum Jahre 1933, also zur nationalsozialistischen Diktatur mit ihren schweren Folgen für das politische Schicksal Deutschlands und der Welt geführt hat. Zwei britische Historiker, die in einem kleinen, 1980 in deutscher Übersetzung erschienenen Buch gegen »Mythen deutscher Geschichtsschreibung« zu Felde zogen, haben von einem »tief verwurzelten Glauben an den deutschen Sonderweg« gesprochen.
Die These von einem deutschen historischen Sonderweg hat nicht nur in der Zeit nach 1945 das Urteil vieler Historiker über die deutsche Entwicklung geprägt, sie hat auch vor dem Zeitpunkt der ‚deutschen Katastrophe‘ das Denken und Forschen vieler deutscher Historiker bestimmt, d.h. es handelte sich um ein im 19. Jahrhundert entwickeltes, dann immer stärker verfestigtes Interpretationsschema für die neuere deutsche Geschichte. Auch war die Verbreitung dieser These keineswegs auf deutsche Historiker beschränkt, vielmehr haben gerade ausländische Historiker, insbesondere im angelsächsischen Bereich, wichtige Beiträge zur Begründung dieser
These und zur Untermauerung dieser Interpretation geliefert. Es wäre also irrig, die These vom deutschen Sonderweg nur im Zusammenhang mit den Bemühungen zu sehen, die nach 1945 zur sogenannten Aufarbeitung der Vergangenheit angestellt wurden; vielmehr handelt es sich bei dieser These um eine auch in der Geschichtswissenschaft vor 1945 machtvoll wirkende Interpretationstendenz.
Dabei ist natürlich zu beachten, daß sich diese These von der deutschen Sonderentwicklung vor 1945 in aller Regel mit einer positiven Wertung dieser besonderen Entwicklung verband, während das für die Bundesrepublik maßgebliche Geschichtsbewußtsein die Theorie vom deutschen Sonderweg im allgemeinen unter negativen Vorzeichen betrachtete. Die positive Bewertung der Sonderentwicklung ergab sich folgerichtig aus den Bemühungen deutscher Historiker und Publizisten, die Entwicklung Deutschlands, die zum Bismarckschen Nationalstaat und zum Wilhelminischen Kaiserreich und sodann über die den deutschen Sonderweg verlassende Weimarer Republik in das Dritte Reich geführt hat, als den positiven Aus-
druck einer eigenen nationalen Identität der Deutschen zu verstehen und den Sonderwegsgedanken zu einem wesentlichen Element des besonderen deutschen Nationalbewußtseins zu machen. In der Tat kann kein Zweifel daran sein, daß die Vorstellung von einem besonderen Weg Deutschlands durch die Geschichte, von einer Besonderheit der deutschen Politik und ihrer Institutionen im Vergleich zu den Institutionen und den politischen Grundhaltungen der westlichen Nationen, ein wesentliches Element des deutschen Nationalbewußtseins gewesen ist.
Es ist nicht von ungefähr, daß es vor allem die deutschen Historiker und die in ihrem Banne stehenden und schreibenden Publizisten gewesen sind, welche die Theorie vom deutschen Sonderweg vertreten und dem sich im 19. Jahrhundert ausbildenden deutschen Nationalbewußtsein vermittelt haben: Nicht nur waren die Historiker die gebildeten Lehrer der Nation, die einen außerordentlich großen Einfluß auf das politische Denken des deutschen Bürgertums hatten, sondern die Historiker hatten sich mit ihrer Theorie des Historismus auch das geeignete Instrument geschaffen, mit dessen Hilfe sich diese These vom deutschen Sonderweg besonders einleuchtend begründen ließ.
Der Historismus war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der Epoche der Romantik, als eine Reaktion auf die bis dahin vorherrschende naturrechtliche Interpretation der Geschichte entstanden. Er betonte die Individualität und Einzigartigkeit alles historischen Geschehens, das man aus sich heraus, aus seinen eigenen Bedingungen, zu verstehen habe, nicht jedoch am Maßstab abstrakter Prinzipien und universaler Kategorien messen dürfe. Während die deutschen Historiker in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Problematik der nationalen Entwicklung Deutschlands noch vorwiegend im Zusammenhang mit der europäischen Gesamtentwicklung sahen und, insbesondere bei den liberalen Vertretern, die deutsche politische Entwicklung als eine eher rückständige beurteilten, setzte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter dem starken Einfluß des Historismus immer mehr die Tendenz durch, die historische Entwicklung Deutschlands vor und nach der nationalen Einigung als eine spezifisch deutsche zu sehen, die nicht am Beispiel anderer Länder gemessen werden dürfe, sondern ihren Sinn in sich selbst trage, weshalb es unangemessen sei, die deutsche historische Entwicklung an Maßstäben zu orientieren, die für andere Länder und andere Völker Verbindlichkeit haben mochten, nicht jedoch für das wesenseigene deutsche Volk.
So kam es zu einer Interpretation der deutschen Geschichte, in der die Besonderheit der deutschen Entwicklung im Vergleich zu den westlichen Ländern als das große Positivum hingestellt wurde; man sah gerade in der Abweichung Deutschlands hinsichtlich seiner politischen Institutionen und auch seines allgemeinen Verständnisses von Gesellschaft und Staat von den mehr liberalen Tendenzen der westlichen Länder eine zu verteidigende Errungenschaft. Mit anderen Worten: Man hielt den deutschen Sonderweg für den wahren und rechten Weg für Deutschland und die Ausbildung einer spezifisch deutschen politischen Identität in bewußter Absetzung von den Werten und Prinzipien, die für die nationale Identität der Westvölker bestimmend waren, für gerechtfertigt und geboten.
Harry Pross hat in seiner sehr früh erschienenen Sammlung von Texten, der er den bezeichnenden Titel ‚Die Zerstörung der Politik‘ gab, die wichtigsten politischen Ideen des deutschen Sonderwegs vorgestellt und kritisch kommentiert. Gerade seine Sammlung ist – und das gilt heute wie in den fünfziger Jahren, als das Werk erstmals erschien, – ein eindrucksvoller Beleg für das unheilvolle Wirken eines politischen Sonderbewußtseins in der deutschen Ge-
schichte. Der Wiederaufbau der deutschen Politik, dies war die nationalpä-dagogische Bedeutung dieser weitverbreiteten kommentierten Dokumentensammlung, konnte nur im Geist der Kritik eines Denkens geschehen, das zur Zerstörung aller humanen Politik geführt hatte. Insofern ist seine Arbeit ein wichtiger Beitrag zur kritischen Auseinandersetzung mit dem antidemokratischen Sonderbewußtsein, das bis 1945 in Deutschland vorherrschte, gewesen und behält auch heute noch ihren Wert. Es ist die Botschaft dieses wichtigen Buches, in der kritischen Begegnung mit einem verhängnisvollen politischen Denken in Deutschland Kräfte zur demokratischen Erneuerung unseres politischen Bewußtseins zu mobilisieren. Man kann im Rückblick auf die Geschichte der Bundesrepublik feststellen, daß dieser Appell nicht ungehört verhallt ist.
In der Preisgabe eines spezifisch deutschen Sonderbewußtseins und in dem deutlich formulierten Bekenntnis zu den Ideen und Werten der westlichen Zivilisation und Demokratie liegt die entscheidende Wende in der neuesten deutschen Geschichte, kraft derer es möglich wurde, daß die 1949 entstandene Bundesrepublik Deutschland zum ersten Mal in Deutschlands nationaler Geschichte
ein integraler Bestandteil der westlichen Zivilisation ist, Fleisch von ihrem Fleisch, Geist von ihrem Geist. Die entschiedene Verwerfung eines deutschen politischen Sonderbewußtseins und auch die entsprechende Ablehnung des Sonderwegs der deutschen Geschichte waren schlechthin konstitutiv für das politische Bewußtsein der Nachkriegszeit. Dieses Bewußtsein war von der Erfahrung geprägt, daß Deutschlands Sonderweg durch die Geschichte, der in der Katastrophe des Jahres 1945 geendet hatte, für alle Zukunft verlassen werden müsse, daß der Weg in eine bessere Zukunft zugleich ein Weg zurück sein sollte zu den Ursprüngen der Idee der Freiheit und Gerechtigkeit im abendländischen Denken, auch ein Weg zurück zu der naturrechtlichen, aufklärerischen und liberalen Tradition, die im deutschen Denken zwar immer auch eine Rolle, jedoch leider nicht die beherrschende gespielt hatte.
Es gab nach 1945 vernünftigerweise keinen Ansatzpunkt mehr für die Pflege eines sich vom Westen abhebenden nationalen Sonderbewußtseins; vielmehr waren sich die führenden politischen und geistigen Kräfte in Deutschland nach dem Ende des Dritten Reiches völlig klar darüber, daß allein die Identifikation mit der westlichen
politischen und humanistischen Tradition für die Bildung eines neuen politischen Bewußtseins bestimmend sein dürfe. Ob ausgesprochen oder nicht. Stets war die Politik der Nachkriegszeit in Deutschland von der Vorstellung beherrscht, das Land wieder auf den normalen und rechtmässigen Weg der Politik im Sinne der westlichen Ideen zurückzuführen, wobei anfangs das Beispiel der Vereinigten Staaten eine besonders positive Wirkung entfaltete, die sich freilich inzwischen etwas abgeschwächt hat.
Die These vom Deutschen Sonderweg war also, wenn auch nicht immer unter diesem Namen, so doch in der Sache, ein funktionaler Bestandteil des Bewußtseins einer neuen deutschen Politik, die darauf gerichtet sein mußte, Deutschland wieder in den Kreis der zivilisierten, freiheitlichen und friedliebenden Nationen aufzunehmen. Die bisherige Geschichte der Bundesrepublik mag nicht in jeder Hinsicht eine Bestätigung dafür sein, daß es gelungen wäre, alles abzustreifen und abzuwehren, was uns mit jener besonderen Vergangenheit noch verbindet, die für das unrühmliche Ende des deutschen Sonderweges verantwortlich gemacht werden kann, aber es war doch stets ein das politische Bewußtsein unserer Republik
beherrschender Grundsatz, daß allem, was in Verdacht stand, zur Entstehung des Dritten Reiches historisch beigetragen zu haben, nach Möglichkeit die Kontinuität verweigert werden sollte. Immer wieder ging es seit 1945 in unseren politischen Diskussionen um die eine Frage, ob wir es denn geschafft hätten, die Schatten der bösen Vergangenheit dauerhaft zu bannen – und damit war, ob ausgesprochen oder nicht, stets die Idee vom deutschen historischen Sonderweg gemeint. Diese Sorge hat schon die sehr früh aufkommende These von der Restauration in Deutschland inspiriert, sie durchzieht alle Forschungen über das, was man heute mit politischer Kultur bezeichnet, sie steht hinter der die deutsche Politik von Zeit zu Zeit heimsuchenden Besorgnis, Bonn könnte in Weimarer Zustände zurückfallen. Gibt man also die These vom deutschen Sonderweg als notwendigem Bestandteil des politischen Bewußtseins dieser Bundesrepublik auf, oder löst man sie, wie zur Zeit die Dinge sich abzeichnen, in so viele Brechungen, Differenzierungen und Relativierungen auf, daß sie den in ihr enthaltenen Charakter eines moralischen Appells zur Diskontinuität und Umkehr einbüßt, dann bricht man dem deutschen politischen Bewußtsein der Epoche nach dem 2. Weltkrieg gewissermaßen das Rückgrat. Ich halte es deshalb aus politischen Gründen für unverzichtbar, daß wir an der Theorie
vom deutschen historischen Sonderweg festhalten, weil wir nur dann die moralische Kraft aufbringen, den Weg der Umkehr und Erneuerung fortzusetzen, den wir Deutsche allen Ernstes begonnen haben, als der deutsche Sonderweg 1945 in einer ausweglosen Sackgasse geendet hatte.
Wir haben die historische Lektion des Jahres 1945 zu lernen versucht, wenn auch vielleicht nicht immer nach unseren besten Kräften. Und wir erweisen unserer politischen Kultur, unserem Willen zur geistigen und politischen Erneuerung Deutschlands einen schlechten Dienst, wenn wir die fundamentale historische Erkenntnis von der unheilvollen deutschen Sonderentwicklung über Gebühr relativieren oder gar ganz in Frage stellen und damit ihre positive Auswirkung auf unser politisches Gegenwartsbewußtsein abschwächen. Bei allem Verständnis für das Bemühen um historische Genauigkeit und Differenzierung sollte auch dem Historiker und dem Publizisten bewußt sein, daß ein Verzicht auf die Sonderwegthese dazu führen könnte, uns wieder auf falsche politische Wege zu locken. Der deutsche historiscehe Sonderweg ist nur dann wirklich zu Ende gegangen, wenn wir uns kritisch seiner bewußt bleiben.