„Der Mensch im Mediennetz“ ― vielleicht denkt da der geneigte Hörer auch zuerst an die Fliege im Spinnennetz. Solcher Vergleich stimmt insofern, als beide, Mensch und Fliege, eingewickelt werden. Aber das Leben der Fliege ist zu Ende, der Mensch, der lesende, hörende, sehende, hat noch eine gewisse, ungewisse Chance, zu sich zurückzufinden, auf andere Weise zu kommunizieren. Harry Pross hätte sein jüngstes Buch vermutlich nicht geschrieben, wäre er davon überzeugt, daß der Mensch im Mediennetz nur noch ein bißchen zappeln, zappen könne, bevor er endgültig seinen Geist aufgibt. „Die Söhne der Kassandra“, über die er früher geschrieben hat, deutsche Intellektuelle von Herder bis Grass, können zwar nicht die Welt, aber das Wissen von Humanität retten.
Daher kommt „Orientierung in der Vielfalt“, wie der Untertitel seines Essays lautet. Sein Leben lang hat Harry Pross theoretische und praktische Arbeit verknüpft, auch als Chefredakteur von Radio Bremen vor drei Jahrzehnten, bevor er Professor der Wissenschaft von der Publizistik wurde. Damals rüttelte eine rebellische
Studentengeneration an den Lehrstühlen der Freien Universität in Westberlin. Heute bedroht eine durchdringende Kommerzialisierung alle Strukturen der Gesellschaft. Für einen Mann, der in seiner Jugend den Untergang des Deutschen Reiches erlebte, als Soldat knapp überlebte, dann den Neuanfang als Publizist mitzugestalten berufen war, ist demokratische Öffentlichkeit vor allem die Chance der „Orientierung in der Vielfalt“ der Werte, Strebungen, Machtgruppen.
War Öffentlichkeit in Joseph Goebbels NS-Reich durch propagandistische Manipulation von staats- und parteiwegen aufgehoben, so erleben wir heute die Gefährdung der öffentlichen Debatte auf eine ganz andere Weise. Nicht mehr das Gebrüll eines einzigen „Führers“ hypnotisiert Millionen Menschen, sondern jeder einzelne Bürger wird über eine ständig wachsende Zahl von Medien-Kanälen eines weltweiten Marktes auf sein Informations- und Unterhaltungsbedürfnis angesprochen. Das vielfältige Angebot wird dabei auf raffnierte Weise abgestimmt auf die ebenso suggestive Werbung zwecks Befriedigung von Bedürfnissen, die öfter hervorgerufen als selbstverständlich sind. Kein Wunder auch, daß Parteien und Po-
litiker ihre Werbefeldzüge im Wahlkampf nach ähnlichen Prinzipien zu führen geneigt sind. Die Produzenten und Verkäufer von Autos, Eigenheimen und Fernseh-Serien sind allerdings erfolgreicher, wie sinkende Wahlbeteiligung und Popularitätswerte zeigen. Offensichtlich hat es mit der Qualität des Politischen doch eine andere Bewandtnis.
Jetzt gibt es freilich eine neue Technik der medialen Kommunikation, die eben auf dem uralten Prinzip des sozialen Netzes aufbaut. Das ist die Internet-Welt des Computer- oder Laptop-Bildschirms. Sie ist es, die den Nestor, den Senior der deutschen Publizistik zu seinem jüngsten Buch herausgefordert hat. Harry Pross macht in seiner Einleitung als „Einfahrt zur Datenautobahn“ auch klar, worin die Faszination des Internet besteht. Das Internet, auf Deutsch Zwischen-Netz, ist nichts anderes als die technisch nachgebaute Imitation von Kommunikation schlechthin, wie sie bei Menschen seit Jahrzehntausenden funktioniert. Gewiß, sie ist sensorisch verwandelt, appelliert an den Spieltrieb, wird hochgepuscht zur Droge, nicht weniger verführerisch als Motorengeschwindigkeit, Explosivkräfte und andere Erfindungen, die uns scheinbar zu
Diensten stehen. Die große Frage ist eigentlich, ob wir dabei der Bedingung von Humanität, der Möglichkeit von Besinnung über all der Beschleunigung noch entsprechen. Demokratie ist doch auf diese individuelle Fähigkeit millionenfach angewiesen.
Pross schildert mit der ihm eigenen Anschaulichkeit die jeder menschlichen, also sozialen Existenz innewohnenden Gesetzlichkeiten: den Bemächtigungsdrang und das Zeichenvermögen der Signale, das Miteinander oder Gegeneinander von Biorhythmus und Sozialtakt. Es wird einsichtig, wie archaische Ritualbedürfnisse in unseren Alltag bis zu den Gewohnheiten des Medienkonsums hineinwirken. Ja, sie werden sogar benutzt, um den Bürger als Konsumenten einer „Spannungsindustrie“ (ein Ausdruck von Hermann Broch) zu narkotisieren.
Das aber bedeutet Entfremdung von den Rechten und Pflichten des Bürgers als einem politischen Wesen. Das wohl kaum zufällig, weil das Kapital seiner gottgleichen Natur folgend, überall gegenwärtig zu sein, zum Weltmarkt drängt und damit die nationalen Grenzen politischer Verantwortung überschreitet. Die Welt hin-
gegen verschwindet in der Abstraktionsgewalt elektronischer Medien, im „Rechteck“ von Film, Fernsehen, Video, Internet.
Höchst aufschlußreich, wie Pross die optischen Tricks der Kamera entlarvt und Günther Anders‘ Analyse der „Welt als Phantom und Matrize“ aktualisiert. Sein Fazit heißt entgegen McLuhan „Das globale Dorf findet nicht statt“. Stattdessen bewegen wir uns auf mediale „Megastädte“ zu, denen die virtuell wahrnehmenden Einwohner keine zuverlässige Urteilskraft, keine Kontrolle, keine Gegengewalt entgegenstellen können.
Droht eine neue Form von Übermacht Weniger ohne Opposition, von Ohnmacht vieler? Oder ein geistig-moralisches Chaos aller bei technischer Perfektion? Wird die menschliche Natur reagieren, protestieren ? Es gibt für Harry Pross noch keine eindeutigen Anzeichen. Daher macht er bewußt eine „Momentaufnahme“ des „Verbund(s) ideologischer und wirtschaftlicher Versklavung“. Er appelliert mit Etienne de la Boëtie, dem Freund Montaignes, an Willen und Fähigkeit, die Tyrannei zu erkennen und ihr zu widerstehen. Hier konkret: abschalten und selber denken!
Harry Pross: Der Mensch im Mediennetz. Orientierung in der Vielfalt. Artemis & Winkler, Düsseldorf u. Zürich 1996 , 286 Seiten
(Typoscript, gez. kfb, datiert 23.X.96, vermtl.gesendet bei Radio Bremen, Oktober 1996)