Wer in Deutschland 1923 geboren wurde, muß mehr als einmal Glück gehabt haben, um siebzig Jahre alt geworden zu sein. Harry Pross, der wie ich (vom Jahrgang 1922) viele seiner Schulkameraden durch Verfolgung, Kriegseinsatz und Bomben verloren hat, zog aus dieser Erfahrung den Schluß, sich künftig in den Dienst der Demokratie, der Freiheit und der Sicherung des Friedens zu stellen. Die Herkunft aus einem gutbürgerlichen, konservativen, aber von den Nazis unbeeindruckten Elternhaus hat ihm dabei gewiß geholfen.
Aber der Weg zum demokratischen Citoyen konnte nicht gradlinig sein. Die Romantik der Jugendbewegung mit Lagerfeuer, Sehnsucht nach der Fremde, Kameradschaft wurde zur Brücke, die zum Jungvolk und sogar zum Fähnleinführer führte. Verachtung für die „braune HJ“, für „Goldfasane“ (die Amtswalter der NSDAP) und Faszination durch das dämonische Schwarz der SS waren auf eine unklare Weise damit verbunden.
Die Schule war weniger indoktrinierend, als man es im Rückblick manchmal meint. Neben braunen gab es durchaus auch vorsichtig kritische Lehrer, die dennoch weiterlehren konnten. Sport,
Reiten, Lektüre von Nietzsche – ich kann mir die Schulzeit von Harry Pross gut vorstellen, da ich sie nicht unähnlich in Erinnerung habe. Hinzu kam bei ihm die landschaftliche Verbundenheit mit Karlsruhe-Rheinhafen und dem nahe gelegenen Landhaus der Eltern im Schwarzwald.
Die doppelte Verwurzelung in einer liebevollen Familie und der engeren Heimat gab dem jungen Manne Halt. Sie hinderte ihn ebensowenig wie die meisten seiner Altersgenossen im Gymnasium, sich freiwillig zur Wehrmacht zu melden, als der Krieg begonnen hatte. Faszination durch die dem Soldaten eröffnete „weite Welt“ und nüchterne Erkenntnis, daß der Freiwillige den Arbeitsdienst sich ersparen konnte, halfen nach. Pross wurde zur motorisierten Panzerabwehr eingezogen, deren Kaliber nicht ausreichten, die mächtigen sowjetischen T-34-Panzer zu durchschlagen.
Harry Pross erzählt nicht einfach nur sein Leben. Als reflektierter Zeitgenosse skizziert er die sozialen, kulturellen und politischen Umstände, in die er hineingeboren wurde. Daß die Eltern seine Geburtsanzeige stolz auf den „Sedanstag“ beziehen, löst einen Exkurs über diesen vergessenen „nationalen Gedenktag“ und die neuerliche, wieder aufgetauchte Reichskriegsflagge aus. Das schädliche preußische Erbe — „Pflichterfüllung und unbedingter Gehorsam“ — hat
gewiß zur Funktionstüchtigkeit des „Dritten Reiches“ beigetragen. Der ideologischen Anfälligkeit leistete die traditionelle Judenfeindschaft der Kirchen Vorschub. Harry Pross‘ konservativer Vater ist gegen diesen Antisemitismus immun. „Das sind Deutsche wie wir, nur haben sie eine andere Religion.“ — „Aber warum sind sie dann unser Unglück‘?“ — „Weil man sie durch Verfolgung dazu macht… Das bleibt unter uns“, fügt der Vater vorsorglich hinzu.
Außerhalb des engsten Freundeskreises „regierte das gegenseitige Mißtrauen“. Verbote über Verbote und die Gefahr, denunziert zu werden, bestimmten das Leben. Die Verlogenheit der offiziellen Propaganda kam den jungen Soldaten zum Bewußtsein, wenn sie Zeitungen aus der „Heimat“ mit ihren unmittelbaren Erlebnissen verglichen. Während man daheim vom „heldenhaften Abwehrkampf“ im Osten sprach, fand in Wahrheit seit 1943 eine heillose Flucht statt, deren Tempo von den vorrückenden sowjetischen Truppen diktiert wurde. Schwer verletzt kommt Pross im Sommer 1944 ins Reservelazarett nach Langenbielau. Sein Arm soll amputiert werden. Da trifft unerwartet die energische Mutter ein, stellt fest, daß im Finger noch Gefühl ist, und verlangt energisch: „Der Arm bleibt dran.“ Eingeschüchtert gehorcht der Stabsarzt.
Der Krieg nähert sich dem Ende, und jeder sucht möglichst rasch und möglichst weit westlich in britische oder amerikanische Gefangenschaft zu kommen. Zugleich muß man auf der Hut vor „fliegenden Standgerichten“ sein, die „verstreute Soldaten“ ohne viel Federlesens zum Tode verurteilen und aufhängen lassen. Pross entkommt, wird ordnungsgemäß von Amerikanern entlassen und nimmt in Heidelberg ein Studium auf. Die Erinnerung an die zerstörte Heimatstadt Karlsruhe leitet einen Exkurs über die Widersinnigkeit der Flächenbombardierung von Städten ein, die den Krieg nicht abgekürzt, sondern eher verlängert haben. Dabei vergißt Pross nicht, daß das „Ausradieren“ von Städten eine Erfindung Hitlers war.
Pross hat Heidelberg zweifellos viel zu verdanken. Alfred Weber beeindruckt ihn, Jaspers erscheint ihm zu steif, Hellpach, der junge Mitscherlich, Sternberger, der alte Radbruch — der Lerneifer nach vier „verlorenen Jahren“ ist groß, und doch vermag ihn die Universität nicht an sich zu binden.
Aus dem Nachdenken über Geschichte und Vorgeschichte des „Dritten Reiches“ erwuchs das Engagement Pross für eine freiheitliche Gesellschaft, der er als Journalist dienen wollte. Er schrieb, noch
als Student, über Klabund, den Tod von Gandhi, die Nürnberger Prozesse. Die Schrift von Alfred Weber und Alexander Mitscherlich über „freiheitlichen Sozialismus“ beeindruckte ihn dauerhaft; die Stimmung seiner Generation aber traf allein Albert Camus. „Das Absurde ist das Alpha und das Trotzdem das Omega“ – damit konnte man leben.
Zufälle und die Notwendigkeit, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, führten Pross — nach glänzend bestandenem Doktorexamen — im Mai 1949 zu Franz Borkenau, der dabei war, die Ost-Probleme, ein „Digest“ von Artikeln über die kommunistische Welt, zu edieren. Nach Studienaufenthalten in den USA 1952/53 schlägt er seine Zelte in Bonn auf und erlebt die spießig-reaktionäre Residenz aus der Nähe. Exnazis sind als Minister oder Kanzleramtsmitarbeiter (wie Globke) in der Regierung, Ex-Nazis wie Carl Schmitt gehören zum Establishment. Gleichzeitig fällt die Lohnquote und steigt das Bruttosozialprodukt. Franz Josef Strauß engagiert sich für Atom. „Innere Feinde“ werden aufgespürt und — wie Otto John und Victor Agartz — vor Gericht gestellt. Eine Rede vor der Humanistischen Union macht Pross unbeliebt, Wehner verlangt seinen Parteiausschluß — aber Pross war nie Mitglied einer Partei.
Pross begleitet die Zeitereignisse als aufmerksamer Kommentator, ohne je seine zurückhaltende Skepsis ganz aufzugeben. Als Redakteur der Deutschen Rundschau und Mitarbeiter an Tageszeitungen, als Rundfunkjournalist und als Redner zu Gedächtnisfeiern — immer bleibt er der nüchterne, liberale, tolerante Citoyen. Daran ändern auch die Jahre nichts, die er als kreativer und undogmatischer Hochschullehrer an der Freien Universität Berlin verbringt. Er kommt mitten in die Zeit der Studentenrebellion hinein, läßt sich aber von den rauhen Umgangsformen nicht über den legitimen Kern der studentischen Forderungen hinwegtäuschen. Die verheerenden Auswirkungen der Terrorakte der RAF sieht er ebenso deutlich wie die hysterische Überreaktion mancher Kollegen auf Demonstrationsformen, wie sie aus den USA übernommen worden waren.
Sein Abschied von der Uni fällt mit der „Wende“ des Jahres 1982/83 zusammen, die bis in die Universität hinein ihre Spuren hinterläßt. Pross verbirgt seine Sorgen angesichts des neu entstehenden Nationalismus nicht, der erstmals im sogenannten Historikerstreit sichtbar und durch symbolische Handlungen Kanzler Kohls gefördert wird. Der Besuch des Soldatenfriedhofs von Bitburg mit seinen
SS-Gräbern, die Teilnahme an der Beisetzung Friedrichs des Großen auf der Terrasse des Schlosses Sanssouci — vielleicht sei es ja seine Geburt am „Sedanstag“‚, die ihn so sensibel für derartige Rückfälle gemacht habe, meint Pross.
Mit einer Vorlesung über ..Kitsch und Medienkitsch“ verabschiedet er sich 1983 von seinen Berliner Studenten und Kollegen, um künftig nur noch aus der Distanz seines Bauernhauses im All-gäu publizistisch am Zeitgeschehen teilzunehmen. Als eine Art kulturpolitisches Festival veranstaltet er alljährlich Diskussionsveranstaltungen im Kornhaus von Weiler und macht damit den kleinen Ort zu einer Stalte der Begegnung im Dreieck von Österreich, der Schweiz und Deutschland. (Eine Auswahl der Vorträge hat Christian Weischer in einer kleinen Festschrift zusammengestellt: Dialoge. Zehn Jahre Kornhaus-Seminar; Lagrev Verlag, München 1993). Angesichts der durch die Vereinigung gewachsenen Probleme erlaubt sich Pross keinen Rückzug ins beschauliche Privatleben. Auf die Frage eines Brasilianers: „Was hat euch denn so verändert?“, antwortet er: „Die größere Zahl und daß die Politik die .größere Verantwortung‘ im Ausland statt im Inland sucht. Erst jetzt kann der ethnische Irrtum wieder durchschlagen, es genüge, ,ein Deutscher‘ zu sein, und sonst nichts.“
Harry Pross berichtet über ein Leben, das ein erfolgreicher Lernprozeß war. Menschen wie er sind in unserer Republik nicht so dicht gesät, daß wir auf ihn verzichten könnten. Wir wünschen ihm noch zahlreiche aktive und erfolgreiche Jahre des Wirkens aus der Verwurzeltheit im schönen Allgäu und aus der Verbundenheit mit einem noch stets gefährdeten demokratischen Land.