Das Buch mit dem anspruchsvollen und programmatischen Titel Publizistik ist nach Angaben des Autors — im studentenbewegten Berlin des Jahres 1969 anstatt einer »herkömmlichen Einführungsvorlesung« in Form eines Colloquiums entstanden. Die von Harry Pross in Thesenform vervielfältigten Texte wurden in Arbeitsgruppen diskutiert und wieder ins Plenum zurückgetragen. Der Text enthält »aphoristisch formulierte Antworten auf diese Herausforderung, in einer emotional aufgewühlten und von der Polizei umstellten, gleichwohl freien Universität Grundsatzfragen zu erörtern.« (S. 6) Ein Jahr vor dem Erscheinen des Buches war Harry Pross (geb. 1923) nach einer mehr als zwanzigjährigen publizistischen Tätigkeit auf den Lehrstuhl für Publizistikwissenschaft der Freien Universität Berlin berufen worden, wo er bis zu seiner Emeritierung 1983 lehrte (vgl. Pross 1993, 1997).
In 140 Paragraphen befaßt sich Pross mit den anthropologischen und begrifflichen Voraussetzungen der Publizistik (Teil I), dem Zusammenhang von Publizistik und Geschichte (Teil 11), dem »publizistischen Prozeß« und entwickelt in einem abschließenden dritten Teil »Ansätze zu einer Methodik«. Publizistik wird als »kritische« Disziplin innerhalb der Sozial-, Kultur- oder Geisteswissenschaften angesiedelt und in enger Verbindung mit der Kybernetik, den Sprachund Musikwissenschaften, Psychologie und Physiologie, Pädagogik, Soziologie, Politologie, Jurisprudenz und Historik gesehen (S. 16). Kommunikationstechnik und Kommunikationspolitik werden als Hauptthemen der Publizistikwissenschaft betrachtet.
Mit seinem Axiom »Der Mensch entsteht durch Kommunikation«, einer Formulierung, die im damaligen Berlin viel Kritik von Studierenden nach sich zog, die gerade begonnen hatten, Feuerbach und Marx zu lesen, markiert Pross eine anthropologische Position, die viel Ähnlichkeiten mit späteren Luhmannschen Positionen ausweist. Kommunikation wird mit dem Beginn des Lebens verbunden und — als gesellschaftliche Kommunikation — innerhalb eines »Parallelogramms« zwischen Selbst- und Fremdbestimmung verortet. Zwei wichtige Kommunikationsvoraussetzungen werden als
Beweglichkeit und Sprache identifiziert. Sprache wird dabei als Tätigkeit begriffen und so konzipiert, daß verbale und nonverbale Ausdrucksweisen wie Gestik, Mimik, Gefühlsausdruck, »soziale Vereinbarungen« und Normen als deren Konsequenz ausdrücklich einbezogen werden.
Kommunikation wird in Erkenntnis- bzw. Kognitionsprozessen eingebettet und so folgerichtig auf die Produktion, den Transport und Konsum von vermittelter Erkenntnis (S. 38) beschränkt. Öffentlichkeit, Publizieren, publizistische Tätigkeit — z.B. als publizistische Aktion (S. 44) — und der publizistische Apparat (Unternehmen oder Betriebe unter dem Aspekt betrachtet, daß sie Informationen produzieren und transportieren) werden als Grundbegriffe eingeführt. Der publizistische Prozeß wird als »Kräfteparallelogramm« zwischen Autor, Publikationsmittel (Medium) und Publikum, das kommunizierend die publizistische Aktion in Raum und Zeit konkretisiert, konstruiert und in Kategorien der Produktion und des Produkts, des Transports und des Konsums — allesamt ökonomische Kategorien — begrifflich aufgefächert und differenziert.
Publizistik wird mit der Gesamtheit der »öffentlichen Kommunikation« durch Sprache, Zeichensysteme, Schrift, Druck und Bild gleichgesetzt. Innerhalb der Publizistik werden Signale, Texte und Inhalte unterschieden. Damit fundiert Pross öffentliche Kommunikation zeichentheoretisch. Dies war damals für das Fach in Deutschland wieder recht neu. Allerdings hatte schon 1935 Hans A. Münster mit Rückgriff auf die pressesoziologische Studie. von Alfred ➝ Auerbach (1931) der Publizistikwissenschaft, die er als Wissenschaft der »publizistischen Führungsmittel« konzipiert hatte, ein bescheidenes semiotisches Fundament verordnet (vgl. Münster 1935), und verschiedene Fachvertreter (u.a. Otto Groth) hatten sich auf ähnlichen Spuren mit dem Sprachstil der Zeitungen, der Bildsprache und anderen semiotischen Phänomenen beschäftigt. Pross macht für diese semiotische Orientierung die er in späteren Werken ausbaut, differenziert und zu einer Theorie der »Signalökonomie« entwickelt (vlg. Pross 1981), in seiner Autobiographie eigene Lebenserfahrungen mit den »Bündischen« und mit dem »kolossalen Reinfall auf politische Symbolismen« des Nationalsozialismus, seine Begegnung mit Ernst Cassirers »Philosophie der symbolischen Formen«, seine Erfahrungen mit der »Ulmer Semantik« und seine beruflichen Erfahrungen in der Rundfunkarbeit (unablässiger Wechsel der Symbolisimen von Sprache und Bild) verantwortlich (vgl. Pross 1993).
Der fundamentale Zusammenhang zwischen Publizistik und Geschichte wird darin begründet, daß jede gegenwärtige Kommunikation gewordene Kommunikation sei. Nach Pross übersetzt Publizistik die »Abläufe von Ereignissen in ein System von Erkenntnissen«. »Sie errichtet Konstruktionen des Nachdenkens über vorausgegangenes Nachdenken, das sich in Einzelabläufen manifestiert hat.« (S. 81)
Auch die Spannung zwischen der Selbst- und der Frembestimmung in der Kommunikation wird hier eingebracht, in späteren Werken ausgeführt. Öffentlichkeit bringt Zwänge mit sich, Regierungswissen impliziert Geheimwissen. Öffentliche Kommunikation läßt sich, so Pross, ohne Kategorien wie Macht und Gehorsam, Herrschaft und — daraus abgeleitet — Manipulation nicht denken. Reflexionen zum Verhältnis von Theorie und Praxis sowie zur Kritik (des Konsums, des Produzenten oder des publizistischen Apparats) und deren Gefährdungen (durch Unkenntnis oder Irrtümer) wie zur Interpretation von sozialer Wirklichkeit, die selbst als sozialer und normativ gesteuerter Prozess verstanden wird, ergänzen diesen umfassenden — sprachlich etwas eigenwillig formulierten — Ansatz.
Aus heutiger Perspektive fällt auf, daß Pross in dieser programmatischen Schrift nur wenige der amerikanischen »Väter« der modernen Ausprägung des Fachs (Bernard Berelson, Harold D. LassweIl, Carl I. Hovland), nur drei zeitgenössische deutsche Publizistikwissenschaftler (Henk Prakke, Gerhard MaIetzke, Elisabeth NoeIle-Neumann) zitiert, sich dafür aber auf eine Vielzahl klassischer griechischer Philosophen und solche der europäischen AufkIärung (Bacon, Thomas von Aquin, Hegel, Kant, John Locke, Plato, Sokrates, Voltaire) bezieht. Seine Berliner Vorgänger Emil Dovifat und Fritz Eberhard, auch Karl Bücher und viele andere Fachvertreter kommen in dieser Schrift nicht vor. Dies war vermutlich Anlaß für den Rezensenten Winfried B. Lerg (1973), dieses Buch als »grenzüberschreitende (Kommunikations-) Philosophie des wissenden Unwissens« zu bezeichnen, die besonders dann Tücken habe, wenn sich ihrer »Nichtwissenschaftler« annehmen.
Das programmatische Werk hat einige Jahre vor allem in der Berliner Publizistiklehre und -Ausbildung eine wichtige Rolle gespielt. Obwohl für publizistische Einführungsbücher recht prominent in der ›Frankfurter Allgemeinen Zeitung‹ und der ›Frankfurter Rundschau‹ rezensiert, wurde das Buch im Fach selbst mit Zu-
rückhaltung aufgenommen. Allerdings sind wesentliche Theoreme und Grundbegriffe der Theorie von Pross über andere seiner Werke breit im In- und Ausland rezipiert worden. Pross hat mit seinem zeichentheoretisch fundierten Ansatz, der hier von ihm zum ersten Mal in Grundzügen dargestellt wird, sowie mit seiner Berücksichtigung von Kategorien wie Zeit, Raum und Macht (Spannung zwischen Selbst- und Fremdbestimmung) theoretische Perspektiven der öffentlichen Kommunikation vorweggenommen, die das Fach erst später aufgenommen und konkretisiert hat.
Winfried B. Lerg (1973): [Rezension]. In: Publizistik, 18. Jg., S. 101-102.
Hans Amandus Münster (1935): Zeitung und Politik. Eine Einführung in die Zeitungswissenschaft. Leipzig: Robert Noske.
Harry Pross (1981): Signalökonomie – Zum Verhältnis von Publizistik und Semiotik. In: Günter Bentele (Hrsg.): Semiotik und Massenmedien. München: Olschläger, S. 50-54.
Harry Pross (1993): Memoiren eines Inländers 1923-1993. München, Zürich: Artemis & Winkler.
Harry Pross (1997): Kommunikationstheorie für die Praxis. In: Arnulf Kutsch, Horst Pöttker (Hrsg.): Kommunikationswissenschaft – autobiographisch. Zur Entwicklung einer Wissenschaft in Deutschland. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 120-138.