Seitdem die Menschen über ihr Zusammenleben nachdenken, sprechen und schreiben sie auch über die Leiden, die es mit sich bringt. Wie sie zu vermeiden seien und wie das gemeinsame Leben angenehmer einzurichten wäre, ist das große Thema der sozialen und politischen Literatur. Die Utopien über die beste Gesellschaft zählen ebenso dazu wie die Anstrengungen mühseliger Soziologen, im Einzelfall herauszufinden, wie dieses krause Mit- und Gegeneinander eigentlich funktioniere, was vor sich gehe, wie die Leute unter bestimmten Bedingungen sich verhalten.
In den letzten Jahrzehnten haben diese Bemühungen von ärztlicher Seite, ausgehend von der Psychoanalyse und der inneren Medizin, wichtige Impulse empfangen. Nicht zuletzt hat der hitlerische Versuch, seine großdeutsch-antisemitische Utopie zu verwirklichen, dem Wissenwollenden neue Fragen aufgedrängt.
Mich hat in den letzten Jahren immer wieder beschäftigt, warum die deutsche Gesellschaft einer Gruppe von offenkundigen Neurotikern 1 nicht die Abfuhr erteilt hat, die sie in ihre Schranken gewiesen und vielleicht geheilt hätte, als es noch Zeit war. Die Antwort der Sozialpathologen war eindeutig: diese Deutschen waren
<p=no ident>krank, sie versprachen sich vom Nationalsozialismus Heilung. So einleuchtend mir diese medizinische Antwort vorkam, so wenig paßte mir das ihr zugrunde liegende Bild von der «kranken Gesellschaft». Gesellschaft ist ein bloßer Begriff, der, historischem Wandel unterworfen, keine Analogie zum biologischen Organismus duldet. Es gibt keinen «Gesellschaftskörper», dem man etwa den Puls fühlen könnte, um entsprechend zu diagnostizieren. Je nachdem wie der Gesellschaftsbegriff angewendet wird, kann er unserer Erkenntnis weiterhelfen oder sie verstellen.
Von der Realität, die er begreift, wird er allemal geschieden Zivilisation, Staat, Nation, Gruppe, Individuum immer von der Wirklichkeit abstehen werden, die sie bezeichnet.
Diese unvermeidliche Differenz zwischen Begriff und Realität ist die erste Schwierigkeit einer systematischen Sozialpathologie. Schon falsche Begriffe, unzutreffende Gesellschaftsbilder, mangelndes Bewußtsein der sozialen Realität können Zustände bewirken, die krankhaft zu nennen wären. Darüber hinaus mögen Stö-
<p=noindent>rungen der sozialen Beziehungen so bezeichnet werden. Verdrängung von schöpferischen Konflikten, Begleiterscheinungen von sozialen Umstrukturierungen, unerfüllbare Normen, Institutionen, die den Leuten das Denken verbieten wollen und ihr Ziel erreichen, Residuen, die ein ganzes Sanktionsgefüge lähmen — all das läßt sich als krankhaft bezeichnen, und vielleicht gelingt es eines Tages, solche Krankheitsherde aufzulösen, wie man gelernt hat, Elendsquartiere abzubauen.
Die zweite Schwierigkeit stellt sich sofort ein, wenn man den Krankheitsbegriff für bestimmte soziale Phänomene akzeptiert hat. Niemand weiß, was im Gegensatz zu einer kranken eine gesunde Gesellschaft oder Gruppe wäre. Gerade in Verbindung mit der deutschen Utopie des Nationalsozialismus läßt sich zeigen, daß die Vorstellungen vom «gesunden Volk» ziemlich weit auseinandergehen. Wäre etwa in der nationalistischen Propaganda gegen das «Zersetzende» in der Weimarer Republik auch Richtiges gewesen, so war doch die Gesundheit, die Medicus Hitler rezeptierte, das schlechthin Unmögliche.
Das ist kein Zufall. Soziale Gesundheitsbilder sind abstrakt. Sie können niemals die ganze Wirklichkeit erfassen. Wer nach ihnen zu handeln sich anschickt, vergewaltigt, ob er will oder nicht — in der Regel muß man sich vor denen hüten, die «gesunde Verhältnisse» schaffen wollen.
Über diese Schwierigkeit bin ich nicht hinweggekommen. Die hier abgedruckten Stücke versuchen, krankhafte Erscheinungen der deutschen Zeitgeschichte aufzuspüren. Es werden einzelne Gruppenbildungen und soziale Prozesse dargestellt. Erwartungen werden beschrieben, von bestimmten Gruppen-Normen und ihrem Mißbrauch ist die Rede.
Geschichte wird dabei nicht als Staats-, sondern als Gesellschaftsgeschichte verstanden. Es ist offenbar nichts mit den großen Männern, noch mit der Automatik historischer Abläufe. Wir haben es in der Realität mit einem ungeheuren Durcheinander ungelöster und zum Teil unauflösbarer Widersprüche zu tun.
Einiges davon versuche ich darzustellen. Der Essay kann nur die Vielseitigkeit, das Sowohl-als-auch andeuten, zu einer Diagnose gelangt er nicht, viel weniger zu einer Therapie.
Trotz dieser Bescheidung auf das Essayistische, das bestenfalls auf Symptome und Erkrankungen aufmerksam machen kann und die Nachdenklichen anregen, schulde ich meinen Lesern ein Wort über den Standpunkt, von dem aus diese Versuche unternommen werden. In der Form verschieden und bei ungleichen Anlässen niedergeschrieben, haben sie doch die Überzeugung gemeinsam, daß die zweite deutsche Republik von dem weit entfernt ist, was man ein blühendes Gemeinwesen heißt. Ich teile die Ansicht nicht, daß eine Sozietät schon in Ordnung ist, wenn ihre Wirtschaft und Verwaltung einigermaßen funktionieren und genug abwerfen, um die kulturellen Institutionen von den Kirchen bis zur Filmkunstindustrie zu subventionieren. Staat und Ökonomie sind soziale Grundleistungen; es ist schlimm, wenn sie nicht aufgebracht werden, doch kein Grund zur Beruhigung, wenn sie arbeiten.
Die Wirklichkeit, die man gemeinhin als Gesellschaft bezeichnet, ist ein Vorgang, kein Zustand. Daß die Bevölkerung der Bundesrepublik ihren Staat, ihre Wirtschaft, ihre Kultur, schließlich sich selber als Zustand akzeptiert, halte ich für ein böses Symptom. Sie hat nicht begriffen — und die Mächtigen vermeiden es in kurz-
<p=noindent>köpfigem Eigennutz, sie darüber aufzuklären —, daß sie aus sich selber heraus die mitmenschlichen Beziehungen verbessern und auf Veränderung drängen muß, wenn sie nicht hinter das Erreichte zurückfallen will. Es fehlt an Mut, an Humanität, an Bürgersinn, an Geist — wie immer man das Vorwärtstreibende nennen will.
Daran hat es schon vor Hitler gefehlt. Hier liegt der soziale Defekt dieses Landes in der europäischen Mitte. Das verbindet aber auch wieder die soziologische Zeitgeschichte mit der Pathologie. «Die Gesundheit eines Menschen», lehrte Viktor von Weizsäcker, «ist eben nicht ein Kapital, das man aufzehren kann, sondern sie ist überhaupt nur dort vorhanden, wo sie in jedem Augenblick des
<p=noindent> Lebens erzeugt wird. Wird sie nicht erzeugt, dann ist der Mensch bereits krank 2 ».
Salmers, März 1962
Harry Pross
1 G.M. Gilbert, Nürnberger Tagebuch. Frankfurt/M. 1962.
2 V.v. Weizsäcker, Soziale Krankheit und soziale Gesundung. Göttingen 1955(2), S. 67.