Die, populäre Fischer-Bücherei erwirbt sich ein bedeutendes Verdienst um die Aufklärung und Erziehung der öffentlichen Meinung in Deutschland, vor allem auch der jungen Generation, dadurch, dass sie kommentierte Dokumentensammlungen zur deutschen Geschichte der unmittelbaren Vergangenheit veröffentlicht. Der Nationalsozialismus war sicher nicht, wie es manchmal behauptet wurde, das unausbleibliche oder notwendige Resultat deutscher Geschichte. Der Nationalsozialismus hat zwar immer betont, dass er der Erbe und Vollstrecker deutscher Geschichte sei, aber man sollte ihm diese Propaganda nicht durchgehen lassen. Ebenso wie das Bismarckreich hat auch der Nationalsozialismus wertvolle Traditionen deutscher Geschichte zerstört oder sogar in ihr Gegenteil verkehrt. Es wäre aber ebenso unangebracht zu übersehen, dass der Nationalsozialismus in bestimmten, der deutschen Geschichte eigentümlichen Voraussetzungen begründet war und nur dank ihrer Unterstützung den enthusiastischen. Zuspruch der grossen Mehrheit des deutschen Volkes finden konnte.
Dr. Harry Pross, der Redakteur der vorzüglichen Deutschen Rundschau, die im westlichen Geiste mutig allen Totalitarismus von links und rechts bekämpft, hat in einem Band „Die Zerstörung der deutschen Politik“ in der Fischer-Bücherei meist wenig bekannte Dokumente aus den Jahren zwischen 1871 und 1933 zusammengestellt. Sie zeigen klar jene Tendenzen, die von der Gründung des Bismarckreiches zu Hitlers Triumph geführt haben. Es ist heute weithin vergessen, dass in seiner Totenrede auf Stefan George, der kein Nationalsozialist war, Gottfried Benn, der führende Lyriker der damaligen jüngeren Generation, der auch kein Nationalsozialist war, erklärt hat, dass der Geist des Dritten Reiches ungeheuer allgemein, produktiv und pädagogisch sei. Nur so sei es zu erklären, dass ein Axiom „in der Kunst Georges wie im Kolonnenschritt der braunen Bataillone als ein Kommando“ lebe. George. Benn und der Nationalsozialismus waren untereinander grundsätzlich verschieden. Was sie verband, war die schroffe Ablehnung des westlichen liberalen parlamentarischen Rechtsstaats. Diese Ablehnung lag aber schon der Entstehung des Bismarckreiches zugrunde, und von 1871 an hat sie immer wieder, gerade in Deutschland, stärksten Ausdruck gefunden, vielleicht in vorbildlicher Weise in Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen. Wenn Politik die Kunst des Zusammenlebens, sowohl innerhalb des Staates wie im Verhältnis des Staates zu anderen Staaten, bedeutet, dann waren alle diese Strö-
mungen zutiefst unpolitisch. Mit Recht sagt Pross, dass der deutsche Nationalstaat unterging, weil in ihm Tendenzen sich verbanden, vor denen Politik als Kunst des Zusammenlebens versagte.
Es ist das grosse Verdienst von Pross, in den ausführlichen Einleitungen zu den acht Kapiteln seines Buches Ordnung in die Wirrnis der verschiedenartigen Tendenzen zu bringen, die die deutsche Politik zerstört haben. Vielleicht kann man sie als den Ablösungsprozess Deutschlands vom Abendlande bezeichnen. Ganz im Sinn von Manns Betrachtungen eines Unpolitischen schrieb Ernst Niekisch, dass Deutschland in sich selbst ausrotten müsse, was in ihm westlich sei. „Das Bürgerlich-Liberale ist unter den heutigen Weltverhältnissen für Deutschland der Feind im Land; es ist die Romanisierungs-, Zivilisations-. Urbanisierungs-, Verwestlichungsform des deutschen Menschen. Je mehr einer Bürger ist, desto weniger ist er Deutscher.“ Die Zurückweisung des westlichen Kapitalismus, des Händlergeistes, war nur ein Aspekt dieses Gegensatzes zum Westen, wie es auch die Überzeugung war, dass die Zeit der humanitären Menschenrechte vorbei sei. „Für den Franzosen ist selbstverständlich jeder Wert ein moralischer im bisherigen Sinne,“ schrieb Friedrich Sieburg im Jahre 1933, „aber in Deutschland wer-
den Tendenzen fühlbar, von dem Zwang der universalen Sittlichkeit loszukommen und ihr nationale Wertkategorien entgegenzustellen.“ Diese Tendenzen, von denen Sieburg spricht, gehen bis auf den Beginn des neunzehnten Jahrhunderts zurück.
Politik ist nach Pross‘ guter Definition, die auf Althusius und die gemeineuropäische Tradition zurückgeht, die Lehre vorn menschenwürdigen und glücklichen Zusammenleben der Leute. Diese zwecksetzende Definition der Politik, die heute noch in Amerika und England herrscht, wurde in Deutschland im neunzehnten Jahrhundert durch eine Definition ersetzt, in der Politik Technik der Machterwerbung und Machtausübung ist. Darüber handelt ein schöner Aufsatz von Wilhelm Hennis in den Vierteljahresheften für Zeitgeschichte vom Januar 1959. Damit wird der Staat, wie ihn Max Weber definiert hat, „ein auf Gewaltsamkeit gestütztes Herrschaftsverhältnis von Menschen über Menschen.“ Diese in keiner Weise ausschliesslich deutsche, wohl aber in moderner Zeit typisch deutsche Auffassung von Staat und Politik hat in Karl Marx, Max Weber und Carl Schmitt einflussreichen Ausdruck gefunden.
Ernst Troeltsch hat in seinem „Deutscher Geist und Westeuropa“ nach dem Ersten Weltkrieg auf die unheilvollen Folgen hingewiesen, die aus der Entwicklung des deutschen Staatsdenkens, das man so gerne „gegen west-europäisches und angelsächsisches Denken ausgespielt hat,“ sich herleiten. „Aus der individuellen Fülle der Volksgeister wurde die Verachtung der allgemeinen Menschheitsidee, aus der pantheistischen Staatsvergötterung die ideenlose Achtung des Erfolgs und der Gewalt, aus der romantischen Revolution ein sattes Behagen am Gegebenen,“ eine Geneigtheit, die Romantik zu brutalisieren und den Zynismus zu romantisieren. Dieses typisch deutsche Staatsdenken, das Pross dokumentiert und auslegt, kann zwar, wie Wilhelm Hennis richtig feststellt, nicht das positive Aufkommen des Nationalsozialismus erklären, wohl aber die Schwäche des Widerstandes dagegen, vor allem in den Universitäten. Vielleicht ist es der jüngsten Entwicklung Deutschlands eigentümlich, nicht dass die Massen nationalsozialistischen Mythen unterlagen, was ja überall geschehen kann, sondern dass die gelehrte Welt in so vielen ihrer Vertreter diese Mythen stützte und ihnen Würde verlieh.
Das Schauspiel, das Deutschland bot, hat warnende und erzieherische Bedeutung nicht nur für die Deutschen. Wohl sind dort besonders üble Mythen zu ungewöhnlicher Virulenz gelangt, aber man muss sich hüten, die in der ganzen Weltgeschichte umgehenden Dämonen ausschliesslich im Teutoburger Wald oder im Kyffhäuser zu lokalisieren. Das „Auserwählte Volk“, das „Dritte Rom“ Mazzinis oder Moskaus, die französische „Gloire“ sind nur einige Beispiele geschichtsdeutender und unheilstiftender Mythen. Pross legt mit Recht besonderen Nachdruck darauf, dass die illusionistische Einschätzung politischer Realitäten an der Zerstörung der deutschen Politik Schuld trage. Aber hierin wiederum steht das moderne Deutschland nicht allein da. Polen nach 1920 oder Frankreich im Zeitalter Napoleons III. und der heute neu erwachten nationalistischen Gloire sind nur einige zufällige Beispiele der allgemeinen Tatsache, dass Völker momentane Erfolge überschätzen, sich veränderten Wirklichkeiten nur schwer anpassen, und vergangener Grösse (oder was sie für Grösse halten) sehnsüchtig nachtrauern.
Das vorliegende Buch von Pross würde einer Ergänzung in doppelter Hinsicht bedürfen, um seine Aufgabe voll erfüllen zu können. Es ist richtig, dass ohne die Kenntnis der Triebkräfte deutscher Politik zwischen der zweiten Reichsgründung und Hitlers Machtergreifung das Phänomen des Dritten Reiches kaum zu begreifen ist. Aber man kann noch weiter zurückgehen und zeigen, wie in der Zeit zwischen dem Ende des ersten Reiches (1806) und der Begründung des Bismarckreichs der virulente Nationalismus der späteren Zeit schon vorgebildet wurde, der allein erklärt, warum nach 1866 das liberale gebildete Deutschland, das bis dahin Bismarck so angegriffen hatte, ebenso. umfiel, wie es vor Hindenburg und Hitler umfiel. Dabei aber müsste noch eine zweite Ergänzung vorgenommen werden. Es gab immer geistige Strömungen in Deutschland, die an den Westen und die Aufklärung anknüpften und der Zersetzung der deutschen Politik entgegenzuwirken trachteten. Sich wiederzuentdecken und zu sammeln, sie im neuen Lichte erscheinen zu lassen, wäre eine wichtige Aufgabe in der Aufklärung und Erziehung der deutschen öffentlichen Meinung.
Dabei handelt es sich nicht darum, über „Demokratie“ in Deutschland zu schreiben. Das Wort selbst ist heute zu sehr abgenützt worden, wovon ja der Bestand einer Deutschen Demokratischen Republik Zeugnis ablegt. Es handelt sich um tiefer reichende Probleme. Der Erfolg des Nationalsozialismus ist ja zum Teil dadurch möglich geworden, dass die deutschen Gelehrten und Schriftsteller nicht genügend die deutschen Traditionen betont und gewürdigt haben, die an den Idealen des Westens festhielten, sie mitschufen und mitbestimmten. Dadurch wurde die deutsche Geschichte einseitig verfälscht. Den Stimmen nachzugehen, die gute Europäer waren, die Machtanbetung und überschwenglichen Nationalimus kritisiert haben, die Freiheil und Menschlichkeit für alle höherstellten als nationale Machtfülle, dies wäre eine nützliche Ergänzung des vorliegenden nützlichen und lehrsamen Buches. Harry Pross hat in seinem bisherigen Werke gezeigt, dass er auch diese, vielleicht schwierigere, Aufgabe erfüllen könnte.