In seiner Totenrede auf Stefan George sagte Gottfried Benn, der Geist des Dritten Reiches sei ungeheuer allgemein, produktiv und pädagogisch. Nur so sei es zu erklären, daß sein Axiom »in der Kunst Georges wie im Kolonnenschritt der braunen Bataillone als ein Kommando« lebe.
Aus diesem Wort, das gewiß nicht für die politische Intelligenz dessen spricht, der es fand, klingt eine Frage, die seit 1933 hellere Köpfe beschäftigt hat, als Benn einer war. Mehr oder weniger stand die gesamte zeitgeschichtliche Forschung unter ihrem Eindruck: War das Unheil von 1933 bis 1945 die folgerichtige Weiterentwicklung der deutschen Geschichte, oder war, was in diesen Jahren geschah, ohne Tradition, ohne Vorbild, ein Ungeschick, das uns zustieß, ohne Beispiel und darum auch ohne Zukunft?
Die Nationalsozialisten haben nicht geringe Anstrengungen unternommen, sich in die nationalen Überlieferungen einzuordnen. Kaum Reichskanzler geworden, bemühte sich ihr Führer in der Garnisonkirche von Potsdam um die Weihen der Könige und Kaiser aus dem Hause Hohenzollern, und 1938 meldete er »vor der Geschichte« den Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich. Ganze Heerscharen emsiger Schreiber wurden aufgeboten, um den Dikta-
turstaat als Fortsetzung und Gipfel früheren Geschehens erscheinen zu lassen.
Auch die Literatur, die in der Abwehr des Nationalsozialismus entstand, gab ihm darin vielfach recht, daß er eine folgerichtige Ausbildung innerer deutscher Anlagen sei. Ein universaler Geist, Fr. W. Foerster, ging so weit, in der Katastrophe Deutschlands eine Rache für die Auflösung des übernationalen Reiches zu sehen. Sie bestand seiner Ansicht nach darin, »daß ein Österreicher, losgelöst vom übernationalen Geiste der österreichischen Geschichte, ja ohne jede Ahnung von der deutschen Mission dieses übernationalen Reiches, sich zum Träger des furor teutonicus machte und ganz Deutschland in den Wirbel dieses furors hineinriß. Das ist Rache für Sadowa.«
Verbindungslinien dieser Art waren leicht zu ziehen, Zusammenhänge unschwer herzustellen, wenn man die Propagandisten des Dritten Reiches beim Wort nahm. Beriefen sie sich nicht auf die Kampfeswut der sagenhaften Germanen? Forderten sie nicht Gehorsam vor der Obrigkeit? Prahlten sie nicht, wie der Turnvater Jahn geprahlt hatte, mit ihrem Volkstum? Schwärmten sie nicht von der prachtvoll schweifenden blonden Bestie, wie Nietzsche?
Verstanden sie sich nicht als die Elite eines Volkes, dem Spengler im Untergang des Abendlandes noch Jugend verheißen hatte?
Dennoch überzeugten weder die krampfhaften Versuche der Braunhemden nodJ. die ersten Analysen ihrer Geschichte. Die Betrachtung »des« Nationalsozialismus ging in die Irre, wenn sie ihn als Ganzheit nahm, die weder er noch »das« Deutschtum ist. Benns grotesker Irrtum entsprang derselben Optik. Daß Georges Lyrik und SA-Kommandos etwas gemein haben, ist schwer zu widerlegen, wenn man eine Ganzheit über sie setzt, etwa die Sprache als solche oder die deutsche Sprache. Damit läßt sich alles angleichen; aber für die Erkenntnis ist nicht viel dabei zu gewinnen.
Ganzheiten dieser Art sind bloße Abstraktionen. Sie taugen als Hilfsbegriffe, um uns Übersichten zu ermöglichen; über die Elemente, die wir unter ihnen zusammenfassen, sagen sie wenig oder nicht aus. Dennoch wimmelt es in unseren historisch-politischen Vorstellungen von solchen Zusammensetzungen. Sie stammen aus Zeiten, in denen ein scheinbar festgefügter Weltbau mit eindeutigen Herrschaftsverhältnissen das Denken beeindruckte. Wir halten uns noch heute an sie, weil sie vermeintlich Sicherheit geben.
In Wahrheit lassen sich die Elemente solcher Ganzheiten fast beliebig kombinieren, und viel mehr entscheiden sie über die Ganzheit als jene über sie. Die Zutaten machen die Suppe, und nicht die Suppe macht die Zutaten. So erweist sich denn auch die Frage nach der Tradition oder Nichttradition der Hitlerei in der deutschen Geschichte als müßig. Das Unheil kam von den alten Teutonen auf unsere Tage, und es kam zugleich nirgendwoher. Durch solche Antworten erfahren wir nichts. Wir müssen, um wenigstens vorläufige Einsichten zu gewinnen/nach den Komponenten fragen.
Einige zeichnen wir in Umrissen nach, ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Mehr kann ein einzelner Publizist auf beschränktem Raum kaum versuchen. Sie sind so verschieden wie die von Benn genannten, und sie ließen sich ihrerseits wieder auf Ursachen und Urheber relativieren, und diese wieder auf andere und so fort. Denn die Wurzel aller menschlichen Dinge ist der Mensch, wie Karl Marx sagt. Wir sehen Strömungen, Ideen-Gruppen, Verhaltensweisen, die in der Politik des Deutschen Reiches direkt oder indirekt sich störend und zerstörend geltend machten. Wir betrachten sie einzeln und beziehen sie auf das Gemeinwesen, in dem sie vorkamen: Der deutsche Nationalstaat ging unter, weil in ihm Tendenzen sich verbanden, vor denen Politik, die Kunst des Zusammenlebens,
versagte. Starke Gruppen schufen Bedingungen, auf die Politik nicht mehr anwendbar war.
Die Dokumente, die diesen Vorgang widerspiegeln, entstammen in der Hauptsache einer Denkweise, welche auch die nationalsozialistische Propaganda übernahm. Sie zeigen, daß, bis in die Wortwahl hinein, später nur Allzubekanntes weiten Kreisen der deutschen Bevölkerung vertraut gewesen ist, als die staatliche Ordnung noch unangetastet war. Der langwierige Prozeß der Zerstörung der Politik folgte dem falschen Denken über Politik nach, das sich oft genug auf hohem und höchstem Niveau bewegte. Aus gewissenlosen Handlungen wiederum ergaben sich zerstörerische Thesen: Planungen, Reden, Aufrufe sind, soweit ihre Urheber Einfluß auf ihre Zeitgenossen ausüben, Taten, und häufig entscheidende Taten und als solche zu verantworten.
Wollte man diese Zeugnisse unter einer Abstraktion zusammenfassen, so ergäben verschiedene Stufen der Opposition und des Widerwillens gegen einen gemeinsamen Feind das Bild einer Konterrevolution gegen den liberalen Rechtsstaat und die repräsentative Demokratie. In dieser Gegenrevolution hätten George, Benn und die SA ihre Plätze. Und Benns Fehler wäre nur gewesen, daß er eine Zeitlang die Hitlerbewegung für das Umgreifende gehalten hat. In
Wirklichkeit war sie vielleicht nur eine unter vielen rivalisierenden gegenrevolutionären Strömungen. Darüber wäre nachzudenken. Bestätigte sich diese Vermutung, wäre zu fragen, was aus den Rivalen geworden ist.
Die Kommentare schrieb ich in der Überzeugung, daß wir über der Kritik am »Dritten Reich« die Tendenzen nicht vergessen dürfen, die vor 1933 die deutsche Politik zerstörten und auch heute noch nicht völlig verschwunden sind. Dabei habe ich das Zerstörerische scharf akzentuiert und die liebenswürdigen Züge, die, vom Antisemitismus abgesehen, fast alle der beschriebenen Bewegungen, Bünde und Klüngel auch hatten, beiseite gelassen. Ich konnte das guten Gewissens tun, weil an Apologien dieser Bestrebungen in der heutigen deutschen Literatur und Presse kein Mangel herrscht. Der Leser kann das Fehlende unschwer anderwärts ergänzen. Das für die »Gegenrevolution« typische Argumentieren aus dem »inneren Erlebnis«, das im »Dabeigewesensein« das höchste Maß an erreichbarer Objektivität erblickt, weist den Weg zu diesen Quellen.
Harry Pross