Es ist ja nicht wahr, daß nach 1945 nichts geschehen sei, die deutsche Vergangenheit ins Gedächtnis zu bringen, wie Spätere behaupten. Und wie es zur Herrschaft des Nationalsozialismus hatte kommen können. Das Gegenteil ist der Fall. Die historisch-politische Literatur zur jüngsten Geschichte schwoll immer mehr an, ihresgleichen das Interesse daran. Sieht man näher hin, stellt man fest, daß es sich um Autoren der eigentlichen Kriegsgeneration handelte – derer, die nach 1945 die Hörsäle der Universitäten füllten, vor meist sehr viel älteren Herren, Großvätern, einer mit der klassischen Demokratie verbundenen, .unbelasteten« Professorengruppe. Die Jüngeren waren von ihrer eigenen und ihrer Vater Verführung umgetrieben. Gewiß meldeten sich seinerzeit auch vordem gefeierte Heerführer zu Wort (stellvertretend für viele: E. Manstein: »Verlorene Siege«). Aber für diese Erinnerungen interessierte sich eher die seinerzeit mittlere Generation.
Sie suchte, vereinfacht gesagt, nach den deutschen Fehlern, die im Krieg gemacht worden waren. Die Jüngeren hingegen wollten zu den Ursachen der Katastrophe vordringen. Zu ihnen, Wissenschaftlern und Publizisten unter 30 oder knapp darüber, gehörten Männer und Frauen, deren Namen erst später bekannt werden sollten: K. D. Bracher, J. Fest, W. Hennis, R. Dahrendorf, W. Bessonl E. K. Scheuch, K. Sontheimer und gewiß zwanzig andere. Übrigens war dies in anderen Wissenschaften, die mit dem Geist der neuen Zeiten zu tun hatten, ebenso.
In diesen Zusammenhang gehört das hier wahrzunehmende Fischer-Taschenbuch von 1959: »Die Zerstörung der deutschen Politik 1870 – 1933«, herausgegeben und kommentiert von Harry Pross, Schon seine Heidelberger Dissertation 1949 beschäftigte sich mit dem »Liedgut« des Wandervogels und der späteren Bünde, von denen viele 1812 auf dem Hohen Meißner zusammengekommen waren, um jenseits der platten Bürgerlichkeit nach einer neuen Wahrhaftigkeit und Echtheit zu suchen – einem Dritten, zwischen nationalliberalem Konservatismus und ebenso bürgerlichem Sozialismus.
Die von Pross ausgewählte und erörterte Sammlung von Zitaten beginnt gleich mit einem Akkord: »In seiner Totenrede auf Stefan George sagte Gottfried Benn, der Geist des Dritten Reichs
sei ungeheuer allgemein, produktiv und pädagogisch. Nur so sei es zu erklären, daß sein Axiom (nicht beweisbedürftiger Grundsatz), in der Kunst Georges wie im ‚Kolonnenschritt der braunen Bataillone als ein Kommando‘ lebe.« Das war im Dezember 1933, und Benn war schon nahe fünfzig. Eine Episode nur, gewiß, Benn wandte sich später vom Nationalsozialismus ab, bekam 1938 Publikationsverbot.
Indessen ist das Buch keine Dokumentation von der Art eines wohlfeilen historischen Enthüllungsjournalismus. Ganz im Gegenteil. Die vielen Zitate machen auch heute noch tief betroffen. »Die Frage nach der Tradition oder Nichttradition der Hitlerei in der deutschen Geschichte erweist sich als müßig .., Wir müssen nach den Komponenten fragen.« Warum ging der deutsche Nationalstaat unter? Jener nämlich, der weder mit dem späteren Bonner Staat noch mit dem künftigen Berliner Staat etwas>gemein hat? »Weil in ihm Tendenzen sich verbanden, vor denen die Politik, die Kunst des Zusammenlebens versagten. Starke Gruppen schufen Bedingungen, auf die Politik nicht mehr anwendbar war,« Pross zählt sie auf: die Kulturpessimisten, die Alldeutschen, die Jugendbünde, den Antisemitismus, den Mythos vom Volk, die radikale Gegenrevolution. Antidemokratisch waren sie alle, gegen »Weimar«. Doch was schlimmer war:
Die Visionen vieler jüngerer Menschen gingen über die gängigen Alternativen weit hinaus. Da war denn immer die Rede von »Erlösung«, von »Volksgewissen«, von »Treue« (wofür?) von »Erwachen« und »Heil«.
Mit Kriegervereinen, vaterländischen Verbänden wollte jene Generation nichts zu tun haben. Eher fühlte sie sich als eine Kaste von Kriegern. Pross geht auch der Frage nach, weshalb die Farbe Schwarz sich neben dem eher ekelhaften Braun als Montur der Elite hat durchsetzen können, Mussolini hat sie in seine Kolonnen gebracht. In Deutschland schwärmte Otto Strasser, vom »linken« Flügel der NSDAP davon. Die Farbe meint den Tod. Und dessen (heldenhafte) Verklärung durchzieht unendlich viele Schriften jener Zeit, lange vor 1933.
Aber eben auch das arrogant Nationalsozialistische. Die Randbemerkungen Wilhelms II, von 1914 zu einem Bericht des deutschen Botschafters in London enthüllen eine unsägliche Ignoranz. Wer derlei liest, fühlt sich an einen gehobenen Stammtisch versetzt.
„Balkanvölker« hätten eben nichts mit Kultur zu tun, so liest man da von Majestät. »Sind eben keine« (W. IL). All das mag man als marginal abtun, unerheblich für den Lauf der Geschichte. Diese wird ja von vielen anderen Komponenten bestimmt.
Natürlich ist auch einzuräumen, daß die zeitgeschichtliche Forschung inzwischen weiter ist. Sie kann noch unendlich viel mehr Dokumente vorlegen. Bloß, wer, außer Wissenschaftlern, interessiert sich heute noch dafür? Zeitgeschichte beginnt allmählich, Geschichte zu werden.
Das sollte nicht sein. In jenem Büchlein sind ja nicht bloß hanebüchene Zitate von irgendwelchen Alldeutschen verzeichnet, deren Einfluß zu Zeiten allerdings ziemlich groß war, sondern auch Protokolle von Besprechungen im Großen Hauptquartier von 1918, Oder anderes, das die Stimmung oder auch Verblendung jener Jahre wiedergibt. Da wird denn auch in Erinnerung gerufen, daß sich während des Ersten Weltkriegs Stimmen aus vaterländischen Verbänden erhoben, die sich mit deutschen Kriegszielen beschäftigen. Diese Vorstellungen gingen weit über das hinaus, was dann die Siegermächte den Deutschen auferlegten, Solche Fabuliererei hatte gewiß nicht den Charakter offiziöser Mitteilungen, aber abseitig waren sie auch nicht.
Leider ist das so aufschlußreiche Büchlein im Handel nicht mehr zu haben. Aber in den Bibliotheken wird es zu finden sein – für neuere Historiker, Lehrer der Sozialkunde, Publizisten …