Ein Jahr nach Katharina und Peter Adler entdeckte Harry Pross das Westallgäu für sich. Zusammen mit seiner ersten Frau, der Übersetzerin Heddy Pross-Weerth, erwarb er mit einer kapitalisierten Kriegsbeschädigtenrente das „Gütchen Salmers“ 162 ½ in der Gemarkung Simmerberg, um es 1966 mit einem anderen Bauernhaus (Weissen 4) im nahen Weiler zu vertauschen. Hier wollte der damals 35Jährige aufatmen in freier Natur nach dem Dickicht der Städte. Dass er dort auch weiterhin sein Geld verdienen würde, war ihm ebenso klar wie die Tatsache, dass er im Dorf immer ein Zugezogener bleiben würde. Den meisten seiner Freunde blieb dieser „Rückzug“ ohnehin unverständlich. Hermann Lenz meinte zu dem neuen Wohnsitz, der nicht einmal ans Telefonnetz angeschlossen war: Sie spinnet. Und doch wurden für Pross das Rothachtal und der Bregenzer Wald im Laufe der Jahre zu seinem Zuhause. In jeder freien Zeit kam ich von Radio Bremen und später von der Freien Universität Berlin ins Allgäu […]. Wenn Heimat dort ist, wo man nicht mehr fort will, dann ist das Rothachtal mir Heimat geworden.
Dieser Wunsch nach einem „festen Ort“ wird plausibel, wenn man sich das Leben Harry Pross´ in seiner berufsbedingten Mobilität vor Augen hält. 1923 in Karlsruhe geboren, hatte der Sohn eines Fabrikdirektors ein Reformgymnasium besucht, war von bündischen Ideen beeinflusst und kehrte verwundet aus dem Krieg zurück. Die Erfahrung einer gescheiterten Vätergeneration und die an sich selbst gestellte Forderung, am Aufbau einer neuen Zeit mitzuwirken, flossen in seine frühen literarischen Arbeiten ein. Das Selbstbild jedenfalls, das er im Nachwort zu seinem Gedichtband „Bracke“ von 1945 entwarf, liest sich im Nachhinein wie eine jugendliche Ahnung davon, was den Mann als grundsätzliche Disposition und unhintergehbare Voraussetzung seiner Epoche einmal erwarten würde: Von Bracke wissen wir, daß er in der Zeit zwischen den beiden ersten Weltkriegen auf die Welt kam und ein ganz gewöhnliches Leben führte. Gleichwohl ist nicht nachgewiesen, wer er war. Gewisse Stellen in den erhaltenen Fragmenten deuten darauf hin, daß er ein ganz anderer war. Jedoch gehen die Literaturhistoriker irr, die meinen, Anklänge an Ringelnatz, Morgenstern und Theobald Tiger bewiesen evident, er habe aus mehreren Personen bestanden. Seine Vielschichtigkeit beruht vielmehr auf dem im abendländischen Eklektizismus häufigen Spaltungsirresein, einer
Gemütsverfassung von großer Penetranz, die zu seinen Lebzeiten durchaus als gesellschaftsfähig galt, ja, die Existenz des Individuums in der Gesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts erst ermöglichte.
An Feldern, auf denen sich diese „Vielschichtigkeit“ mit ihren skizzierten Gefahren bewies, fehlte es Pross zeitlebens nicht. Nach einem Studium der Sozialwissenschaften in Heidelberg (bei Alfred Weber, Gustav Radbruch, Hans von Eckardt und Willy Hellpach) sowie der Promotion über das Thema Bündische Jugend war Pross Korrespondent bzw. Redakteur bei Zeitungen („Die Rheinpfalz“) und Zeitschriften („Ost-Probleme“; „Deutsche Rundschau“), absolvierte zwischen 1961 und 1963 einen Wanderzirkus mit Auftritten in Bildungszentralen, Akademien und bei den Ruhrfestspielen, arbeitete als wissenschaftlicher Assistent („Hochschule für Arbeit, Politik und Wirtschaft“, Wilhelmshaven) und Dozent („Hochschule für Gestaltung“, Ulm), gab zusammen mit Golo Mann die „Neue Rundschau“ heraus und war fünf Jahre lang Chefredakteur bei Radio Bremen. 1968 wechselte er als Ordinarius an die Freie Universität in Berlin, wo er die Leitung des Instituts für Publizistik innehatte, und übernahm zahlreiche in- und ausländische Gastprofessuren. Auch das Leben als freier Publizist war ihm nicht unbekannt.
Medientheorie, Medienpraxis und Medienpolitik ergänzten sich in diesem Lebensentwurf auf einzigartige Weise. Wie befruchtend sich ihre Verbindung auswirkte, lässt sich nirgendwo besser ablesen als am Themenspektrum der zahlreichen Buchveröffentlichungen, das von zeitgeschichtlich-politischen Darstellungen und Dokumen-tationen über kulturelle und soziologische Themen bis hin zu medienwissenschaftlichen Einführungen und Überblicken reicht. Eine kommentierte Dokumentensammlung zur deutschen Geschichte zwischen 1871 und 1933 („Die Zerstörung der Politik“, 1959) und eine programmatische Streitschrift über die Wirksamkeit des Widerspruchs („Protestgesellschaft“, 1992) findet sich ebenso darunter wie eine Untersuchung zur „Moral der Massenmedien“ (1967), eine „Einführung in die Kommunikationswissenschaft“ (1976) oder ein Resümee über „Politik und Publizistik in Deutschland seit 1945“ (1980). Neben dem Überblick zur Programmatik politisch-literarischer Zeitschriften seit der Reichsgründung („Literatur und Politik“, 1963) steht der Versuch über deutsche Intellektuelle („Söhne der Kassandra“, 1971) und der Essay über symbolische Gewalt („Zwänge“, 1981). So weit gefächert die Titel auch anmuten, kreisen sie doch alle um ein Zentrum, das sich am besten mit zwei Selbstaussagen des Autors benennen lässt. Die Demokratie kann nicht besser sein als ihre Publizistik , lautet die eine. Und als die Tucholsky-
Gesellschaft, die 1988 in seinem Haus gegründet worden war, 2001 ihren Preis für literarische Publizistik an Pross verlieh, meinte er: Jeder Mensch muss ein Thema haben. Mein Thema war die Meinungsfreiheit . Beide Feststellungen sind auch zentral für die „Memoiren eines Inländers“ (1993), in denen Pross seine eigene Lebensgeschichte mit seinen Befunden über ein schwieriges Vaterland verbindet. Nicht umsonst hat der Weltläufige immer wieder einmal auf seine badische und südwestdeutsche Herkunft verwiesen.
Doch die beiden Allgäuer Domizile waren nicht nur Stätten intensiver Arbeit, sondern auch Orte des Rückzugs und der Erholung. Dabei kam die Auseinandersetzung mit der Gegend nie zu kurz. Eine Landschaft ohne Sensationen nannte er sie einmal, um sich sogleich selber zu korrigieren: das Westallgäu sei selber eine. Eine Sensation nämlich von Rustizität und Urbanität, von Wiesen, Wäldern, Seen, Bächen, zahllosen Bächen, von alten, ummauerten Städten, Märkten und einzelnen Höfen aus Holz. Seine eigene Lebensumwelt als „Sensation“, als nicht leicht auszuschöpfende Realität verstehen zu können, dies verlangt neben dem freien Blick ein unermüdliches Sicheinlassen. Pross tat dies im physischen wie im geistigen Sinn: er hat sich das Allgäu wandernd angeeignet, und er
hat seine Allgäuer Heimat auf erhellende Weise in den größeren geographischen und historischen Rahmen gestellt. So etwa in seinen Landschaftsporträts für „Merian“, vor allem aber in seiner schönen, inspirierten Ansprache im Jahre 2004 zur Eröffnung einer pflanzenkundlichen Ausstellung in Weiler.
Man hat Pross als Humanisten im Medienbetrieb bezeichnet. Eine Facette dieses Etiketts ist die Konsequenz, mit der er über die Grenzen seines Fachs hinauswirkte, seine wissenschaftliche Arbeit im Dienst von Politik und Öffentlichkeit geleistet wissen wollte. Auch deshalb war ihm alle akademische Selbstbezüglichkeit zuwider. Dem Fachjargon war er abhold, als ein Muster an Nichtgeschwätzigkeit blieb er Hans Abich in Erinnerung. Den Eigengesetzlichkeiten des Medienzeitalters stellte er die Maßgaben des Menschlichen gegenüber: Wir sind alle gleich darin, dass wir unsere Lebenszeit nicht beliebig verlängern können, sondern die läuft ab. Und ich finde, dass der Journalist, der nur auf seine Einschaltquoten schielt, ein Unrecht tut, wenn er sich nicht fragt, ist das, was ich zu sagen habe, die Lebenszeit der vielen Menschen wert, die das zur Kenntnis nehmen .
Nach der Publizistin Christa Dericum teilte Pross seit 1984 sein Leben mit Marianne Pross geb. Katz. Sie kannte er bereits seit 1946, als er in ihrem Elternhaus, zusammen mit ihrem Vater und ihren Geschwistern, den Pforzheimer Ableger der „Gesellschaft der Jugend“ gründete. Marianne Katz hatte die Salemer Schulen besucht, eine Verlagslehre absolviert und war später Assistentin des Generalsekretärs der Bayerischen Akademie der Schönen Künste in München. Wiederbegegnet ist sie Harry Pross dann 1983 in der Redaktion der Zeitschrift Merkur— im Jahr seiner Emeritierung.
1984 rief Harry Pross in Weiler die „Internationalen Kornhausseminare“ ins Leben, die in abgewandelter Form bis heute bestehen. Diese jährlichen interdisziplinären Vortragsfolgen — ein weiteres Beispiel für seine erfolgreichen Versuche, den Elfenbeinturm seines Fachs zu verlassen — galten Themen wie „Kitsch als soziales Produkt“, „Heimat und Heimatlosigkeit“, „Mundart und Mündigkeit“, „Jubilieren und Memorieren“, „Europa der Regionen“, „Märchen, Botschaft der Freiheit“ oder „Vom Umgang mit der Zeit“. Für sie konnte Pross über ein Jahrzehnt hinweg auf seinen großen Freundes- und Bekanntenkreis als Referenten zurückgrei-
fen. Offenheit war das Gebot, schreibt er in seinen Erinnerungen, und die Referenten waren gehalten, ihren Fachjargon, soweit irgend möglich, zu übersetzen. Neben der „Internationale der Referenten“ (Pross) und den Journalisten bildeten Besucher aus Weiler und Umgebung ein weiteres Publikum, das das ungute Wort von der Provinz Lügen strafte. An ihr interessierte Pross nicht zuletzt die archaische Gebundenheit , die sich erstaunlicher Initiativen zur Festigung ihrer Kultur fähig zeigte — an sie wusste Pross mit seinen eigenen lokalen Ideen und Aktivitäten immer wieder anzudocken. Das Dorf wusste diesen Einsatz zu würdigen: Harry Pross, urteilte die Presse damals, habe das Dorf aufgewertet. Dass Heimat kein Ruhekissen ist — Sich wehren bringt Ehren — bewies Pross mit seinem Kampf gegen den Bau einer Verwertungsanstalt für Tierkadaver im nahen Thal gleich hinter der Grenze.
Parallel zu den „Kornhausseminaren“, die stets eine Woche lang im Spätsommer stattfinden, unterrichtete Pross nach 1989 noch an der Journalistenschule St. Gallen. Auch wenn er sich als nur noch gelegentlichen Mitarbeiter beim Weltgeist angestellt bezeichnete, schrieb der skeptische Humanist doch weiterhin Bücher („Der Mensch im Mediennetz“, 1996; „Zeitungsreport. Deutsche Presse im 20. Jahrhundert“, 2000), viele Aufsätze und Beiträge für die
Presse, In den letzten Jahren versagten seine Augen und machten ihm das Lesen und Schreiben unmöglich. Anfang 2010 ist Harry Pross gestorben; in Weiler, das ihm zur Heimat geworden war, wurde er beigesetzt.